R. Köster: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte

Cover
Titel
Einführung in die Wirtschaftsgeschichte. Theorien, Methoden, Themen


Autor(en)
Köster, Roman
Erschienen
Stuttgart 2020: UTB
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julian Schellong, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Roman Kösters "Einführung in die Wirtschaftsgeschichte" möchte ihren LeserInnen den historiographischen Reiz ihrer Untersuchungsgegenstände deutlich machen, die Scheu vor Wirtschaftsgeschichte nehmen und einen Zugang zum Fach bahnen, der auch ohne fortgeschrittene Kenntnisse in Statistik oder ökonomischer Theorie nutzbar ist. Das Fach habe viel über Krisen, Globalisierung oder Ungleichheit zu sagen und sei damit direkt an aktuelle politische Debatten anschlussfähig.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil "Themen" widmet sich einer Auswahl an Forschungsfragen und einflussreichen Thesen, um anhand von Beispielen zu demonstrieren, womit sich das Fach beschäftigt. Er ist aber keine repräsentative Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes oder einer Region über einen längeren Zeitraum, wie es andere Einführungsbücher versuchen.1 Der zweite Teil stellt "Theorien und Methoden" vor und diskutiert ihre Vor- und Nachteile sowie ihren Einfluss.

Das Kapitel I.1 zum Thema "Wirtschaftliches Wachstum" behandelt zunächst mit kurzen Einblicken die frühmoderne Wirtschaftsgeschichte in Westeuropa, die von wenig Dynamik geprägt war, und kommt sogleich zu der Frage, welche Faktoren dazu geführt haben, dass die Industrialisierung und das folgende beispiellose Wirtschaftswachstum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England starteten – und nicht etwa zu einem anderen Zeitpunkt oder an einem anderen Ort. Für diese prominente Frage liefert das Buch keine abschließende Antwort, sondern stellt unterschiedliche Hypothesen und ihre Entstehung aus dem Fach heraus vor. So werden LeserInnen direkt an Forschungsdiskurse herangeführt. Das Kapitel I.2 "Strukturwandel" erläutert die drei Sektoren Agrarwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen mit ihren zentralen historischen Triebkräften wie Nachfrageentwicklung, globale Arbeitsteilung oder Ausweitung von Lieferketten. Hier wird weniger Wert auf Nähe zum Forschungsdiskurs gelegt. Auf den Teilbereich Unternehmensgeschichte wird verzichtet, weil diese aufgrund großer Popularität in den letzten Jahren keine ausführliche Einführung brauche.

Das Kapitel I.3 über "Krisen und Konjunkturen" stellt zunächst unterschiedliche Heuristiken über Wachstumszyklen vor, darunter Thomas Malthus’ Bevölkerungstheorie, Joseph Schumpeters Konjunkturschema oder den Keynesianismus. Ursachen für Krisen können demnach beispielsweise in Spekulationsblasen, Mangel an Produktionsfaktoren oder einem Angebotsüberschuss liegen. Für HistorikerInnen ist dieses Instrumentarium vor allem für vergleichende Forschungen zu unterschiedlichen Krisen relevant. Analysen von Krisen können erkenntnisreiche Erklärungen für gesellschaftlichen Wandel sein – und gleichzeitig sind Rückschlüsse aus der Geschichte für die Prognose von Krisen mit großen Unsicherheiten behaftet.

Für ein wirtschaftshistorisches Einführungsbuch vielleicht überraschend sind die Kapitel I.6 zum Thema "Technik" und I.7 zu "Umwelt". Unter der Überschrift "Technik" wird zunächst der Begriff der "Innovation" nach Joel Mokyr erläutert und mit historischen Beispielen aus der englischen Textilindustrie um 1830 oder anhand von Bayer Leverkusen und Carl Duisberg um 1900 illustriert. Danach wird die Entwicklung von großen Industrieanlagen und die „rationale“ Arbeitsteilung im Fordismus beschrieben. Diese haben ganze Regionen genauso wie die menschlichen Arbeitsverhältnisse geprägt.

Zu Beginn des Buches erhebt Köster den Anspruch, dass die Wirtschaftsgeschichte der geeignete Platz sei, um die in den Geschichtswissenschaften zuletzt etwas vernachlässigten "materiellen Grundlagen menschlicher Existenzweisen" zu verhandeln (S. 11); mit einem Kapitel zum Thema "Umwelt" untermauert er diesen Ansatz. Schließlich ist die Allokation von knappen natürlichen Ressourcen ein genuines Problem der Volkwirtschaftslehre, die dafür unter anderem das Theorem der "Tragedy of the Commons" entwickelt hat. Mit der Geschichte des Verbrauchs an Rohstoffen und Land und dem "1950er-Syndrom", der beispiellosen Beschleunigung von Produktion und Konsum nach Ende des zweiten Weltkriegs, werden Narrative gegen eine Erfolgsgeschichte der Industrialisierung in Stellung gebracht. Die Wirtschaftsgeschichte kann hier mit Analysen von Stoffkreisläufen oder dem Verhältnis zwischen Ressourcenverbrauch und Wohlstandswachstum für Klarheit sorgen.

Im zweiten Teil nimmt sich das Buch Platz, um ökonomische Theorien, die für WirtschaftshistorikerInnen nicht weniger relevant sind als für VolkswirtInnen, zu erläutern. Im Kapitel II.2 "Theorien in der Wirtschaftsgeschichte" werden die Klassische und Neoklassische Volkswirtschaftslehre mit einem für die Geschichtswissenschaften naheliegenden Ansatz vorgestellt: Die Theorien und Modelle werden selbst historisiert und, wenn auch nicht wissenshistorisch mit all ihren Entwicklungsbedingungen analysiert, so doch ideengeschichtlich einsortiert.2 So wird das Konzept des Methodologischen Individualismus und des Homo Oeconomicus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kontextualisiert und direkt mit späteren, widersprechenden Befunden aus der Spieltheorie kontrastiert. Theorien der "Unsichtbaren Hand" und der Effizienz von Marktgesellschaften werden kulturhistorische Interpretationen wie die "protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" gegenüberstellt – so bekommen HistorikerInnen direkt demonstriert, dass sie in sozioökonomischen Fragen mitreden können.

Die weiteren Kapitel zu Neuer Institutionenökonomik und Netzwerktheorien stellen die entsprechenden Ansätze ausführlich vor. Es werden Ronald Coases Theorie der Transaktionskosten ausgebreitet und das Buch "Structure and Change in Economic History" von Douglass North über die Entstehung moderner, westlicher Nationalstaaten referiert. Von Mark Granovetters "Strength of Weak Ties" ausgehend werden die Möglichkeiten von Netzwerktheorien mit einem soziologischen Ausblick dargelegt. Zwar werden diesen Theorien auch gängige Kritiken gegenübergestellt, sie werden aber nicht wie in Kapitel II.1 historisiert. Auch fehlt ein Beispiel dafür, wie diese Ansätze in der Geschichtsschreibung angewendet werden.

In Kapitel II.2 "Cliometrie, Anthropometrie" geht es um Geschichtsschreibung mit statistischen Mitteln. Prominente Beispiele hierfür bilden Robert Fogels Arbeiten über die Profitabilität der Sklaverei in den Südstaaten und die Bedeutung der Eisenbahn für die nordamerikanische Industrialisierung. Dem werden einschlägige Einsprüche und Kritiken gegenübergestellt, um die Möglichkeiten und die Grenzen der Cliometrie auszuloten. Diese steht und fällt mit der Qualität ihrer Daten – ein Problem, das freilich auch für hermeneutische Quelleninterpretationen gilt. Aber es gibt Fragen, in denen sich quantitative und qualitative Geschichtswissenschaft ergänzen und Köster plädiert dafür, die Aussagekraft beider Stränge zu nutzen.

Grundsätzlich stellt das Buch wirtschaftshistorische Erkenntnisse nicht als Fakten dar, sondern stellt unterschiedliche Forschungsergebnisse und -interpretationen gegenüber. So entsteht ein lebendiges Bild des Faches. In der Auswahl von wirtschaftshistorischen Theorien und Interpretationen orientiert sich das Buch an den großen Klassikern. Daraus ergibt sich ein umfangreiches Literaturverzeichnis, welches auch als repräsentative Übersicht funktioniert.

Der Ansatz, dass HistorikerInnen Berührungsängste vor beispielsweise Gleichgewichtstheorien oder dem Methodologischen Individualismus verlieren, wenn sie deren historischen Entstehungskontext kennen, geht in den Augen des Rezensenten auf. Dieser Ansatz hätte in den weiteren, teilweise ausführlicheren Erläuterungen der Neuen Institutionenökonomik oder Netzwerktheorien weiter befolgt werden können. Der Teil verharrt stellenweise zu sehr in Wirtschaftswissenschaften und politischer Ökonomie und macht nicht immer deutlich, welchen Gewinn HistorikerInnen aus diesen Modellen ziehen können. Mit dieser Binnenperspektive gelingt aber eine knappe und gut verständliche Einführung in ökonomische Theorien.

Der Autor schreibt als Reaktion auf eine Verdrängung der Wirtschaftsgeschichte aus dem Zentrum der Geschichtswissenschaften seit der "kulturalistische[n] Wende" der 1980er-Jahre (S. 11). Diese Diagnose würden wahrscheinlich viele KollegInnen bestätigen, man müsste dazu aber die Frage stellen, ob es nicht auch eine "Verkulturwissenschaftlichung" der Wirtschaftsgeschichte gab. Aber im Hinblick auf die Zielgruppe des Buches ist die fachinterne Motivation nicht erheblich. In jedem Fall gelingt hier ein Einführungsbuch, das thematisch auf der Höhe der Zeit ist: Immer wieder kommt Köster auf Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Umwelt und globaler Gerechtigkeit zurück. Mit dieser Themenauswahl geht das Buch über andere Einführungen in die Wirtschaftsgeschichte hinaus3 und verdeutlicht die Relevanz des Fachs für aktuelle politische Debatten. Studierende, deren Schuljahre in die Zeit der großen Fridays-For-Future-Demonstrationen fielen, werden sicher viel damit anzufangen wissen. Noch mehr aktuelle Anschlüsse hätte es gegeben, wenn Köster in den Abschnitten zu "Krisen" oder zu "Geld" ausführlicher auf die Geschichte von Geld- und Fiskalpolitik oder das internationale Währungs- und Zentralbankensystem im 20. Jahrhundert eingegangen wäre. Die Wirtschaftsgeschichte könnte Debatten über Schuldenbremsen, die "schwarze Null" oder "Modern Monetary Theory" sicher bereichern.

Der Schreibstil ist in manchen Momenten etwas umständlich: So ist die Rede von "Problemlagen" statt Problemen, "Fragestellungen" statt Fragen oder es sind distanzierende Anführungszeichen um Metaphern gesetzt, wo auch ein eigentliches Sprechen möglich ist. Insgesamt liegt hier aber eine gut lesbare, kurzweilige und zielgerichtete Einführung in die Wirtschaftsgeschichte vor, von der nicht nur Studierende profitieren.

Anmerkungen:
1 Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, 5. aktual. Aufl., Köln u.a. 2011.
2 Ob sich die Volkswirtschaftslehre wirklich stärker als jede andere Wissenschaft im 20. Jahrhundert verändert hat (S. 159), sei an dieser Stelle dahingestellt.
3 Jan-Otmar Hesse, Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft, Frankfurt am Main u.a. 2013; Rolf Walter, Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Köln u.a. 2008.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch