Der Sammelband bietet einen umfassenden Einblick in die aktuellen Diskussionen und aufstrebenden Richtungen der Historischen Friedens- und Konfliktforschung. Er verdeutlicht die vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten dieser Studien und reflektiert fesselnde, richtungsweisende Debatten, die von etablierten Forscher:innen angestoßen wurden. Die Historische Friedens- und Konfliktforschung ermöglicht nicht nur ein tieferes Verständnis für die jüngsten Ereignisse im Russland-Ukraine-Konflikt, sondern eröffnet auch Einblicke in die Vergangenheit von Kriegen, Gewaltakten und Bemühungen um Frieden. Der Sammelband präsentiert mit dezidiert geschichtswissenschaftlichem Schwerpunkt eine aktuelle Bestandsaufnahme der Forschungslage. Die Historische Friedens- und Konfliktforschung untersucht traditionell Begriffe, Formationen und Austragungsformen von Frieden und Konflikten. Bereits 2002 hat Benjamin Ziemann dafür plädiert, dass die Historische Friedensforschung den Begriff der Gewalt dabei sorgfältiger beachten und integrieren sollte.1
Seither hat sich die Forschungsrichtung zunehmend für neue Perspektiven und eine größere Diversität geöffnet. Dabei ist sie von der reinen Historischen Friedensforschung zu einer breiteren Konfliktursachenforschung gewachsen und hat ihre Verbindungen zu anderen Disziplinen gestärkt, wie auch der vorliegende Sammelband deutlich macht. Die Gliederung des Bandes umfasst drei Abschnitte: eine Einführung mit drei Beiträgen zu „Grundlagen und Geschichte“, den Hauptteil mit elf Aufsätzen zu verschiedenen „Forschungsansätze[n] und Fragen“ sowie einen kurzen Schlussteil, in dem die drei Herausgeber:innen „Ausblick und Desiderate“ bieten.
Susanne Schregel, Jan Hansen und Daniel Gerster eröffnen den Band mit zwei gemeinsamen Beiträgen, in denen sie eine übergreifende Perspektive auf die Forschung versuchen. Dabei nehmen sie (wie auch schon im Untertitel) die Metapher der „Quadratur des Kreises“ auf, um eine geeignete Darstellungsform zu finden. Sie präsentieren ein Schaubild (S. 28), mit dem sie die grundlegenden Fragen und Gegenstände der Forschung erfassen wollen. Dabei werden Begriffe eingeführt und erklärt, und die verschiedenen Aspekte dieser Forschungsfelder werden aufgezeigt. Wichtig ist dabei die Verbindung zu anderen Disziplinen, aber auch zu didaktischen oder theoretischen Kategorien wie Geschichtsvermittlung und Erzählweisen. Deutlich wird, wie vielfältig und interdisziplinär das Feld der Friedens- und Konfliktforschung ist und wie unterschiedlich etwa der zentrale Begriff „Frieden“ historisch verstanden wurde beziehungsweise wird. In einem historiographischen Überblick unternimmt Philipp Gassert den Versuch einer Einordnung dieses normativen Begriffs. Er skizziert die Wege der Forschung und Lehre anhand des 1984 gegründeten Arbeitskreises für Historische Friedens- und Konfliktforschung. Dabei betont er, dass die langanhaltende mitteleuropäische Friedensperiode seit 1990 nach dem Ende des Kalten Krieges dazu geführt habe, dass Debatten und Forschungen über Kriegsursachen vernachlässigt worden seien (S. 86). Des Weiteren unterstreicht er, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Frieden zu einem vorherrschenden Thema geworden sei (S. 87). Angesichts der jüngsten Ereignisse in der Ukraine (und seit Oktober 2023 auch im Nahen Osten) stellt er die Frage, ob sich dieser Trend nun ändere. Möglicherweise sei die Historische Friedens- und Konfliktforschung zu stark auf innergesellschaftliche Bedingungen der Konfliktbearbeitung und -regulierung fokussiert gewesen und habe dadurch das Interesse an Frieden in demokratischen Gesellschaften sowie an historischen Erfahrungen mit Diktaturen verloren (S. 90).
Die Autor:innen des Hauptteils betonen ebenfalls die Notwendigkeit von klaren Definitionen zentraler Begriffe wie Gewalt, Frieden, Krieg und Konflikt. Das betrifft beispielsweise den Beitrag von Dorothée Goetze und Lena Oetzel, die sich mit dem Prozess des Friedenschließens in der Frühen Neuzeit befassen. Ihre Arbeit beleuchtet, was damals unter dem Akt des Friedenschließens verstanden wurde und wie dieser historisch umgesetzt wurde. Die Autorinnen plädieren dafür, die menschlichen Handlungsmuster und Akteur:innen in den Vordergrund zu rücken, anstatt ausschließlich Institutionen zu betrachten. Frieden wird hier als ein Prozess gedeutet, der von den handelnden Personen ausgeht, die ihn vereinbaren.
Die Historische Friedens- und Konfliktforschung hat sich bislang auf Konzeptionen des Friedens fokussiert. Es wäre jedoch angebracht, so Gassert, verstärkt das Scheitern von Friedensbemühungen infolge mangelnder Kompromissbereitschaft zu erforschen (S. 91). Eine sinnvolle Herangehensweise wäre es, geschichtliche Diskurse vermehrt mit aktuellen Ereignissen zu verknüpfen und zu untersuchen, wie die Historische Friedens- und Konfliktforschung in diesem Zusammenhang wirksam sein kann. Sie könnte beispielsweise Kenntnisse über Deeskalationsstrategien vermitteln und Einblicke liefern, wie Kriege beendet werden könnten (S. 92).2
Während einige Beiträge in den traditionellen Grundlagen dieses Forschungsbereichs verweilen, präsentiert der Sammelband auch überraschende Kapitel und bisher weniger beachtete Aspekte. Ein Beispiel hierfür ist Claudia Kempers Untersuchung zur Frage, „[w]arum Frieden ein Geschlecht hat und Konflikte gegendert werden müssen“. Die Autorin erweitert ihre Analyse auch auf queere Themen. Mit einem solchen Zugang wird eine Abkehr von „weißem Mittelschichts-Aktivismus“ angestrebt, da in diesem Kontext ebenfalls geschlechtsspezifische Ungleichheiten und Ausschlüsse existierten (S. 172). In Bezug auf die Friedensbewegung und das Geschlecht, wie etwa pazifistische Frauenbewegungen, würden diese oft in Kategorien wie „weiblich“ und „emotional“ eingestuft. Kemper betont die Notwendigkeit, das zu hinterfragen (ebd.). Die Forschung solle vielmehr untersuchen, welche geschlechterspezifischen Normen den Aktivismus geprägt hätten. Ebenso sei zu ergründen, welche Friedensvorstellungen in trans- oder of-color-Bewegungen diskutiert wurden. Kemper hebt hervor, dass Geschlechter vielfältige und verschiedene Erfahrungen mit Gewalt erlebten und erleben. Daher solle sich die Forschung stärker mit Fragen von Macht und Gewaltdynamiken auseinandersetzen.
Im Buch eröffnen sich weitere originelle Perspektiven, wie die semiotische Landschaftsforschung, die sich mit Straßenschildern, Denkmälern und anderen visuellen Markierungen im öffentlichen Raum befasst. Diese Elemente spielten (und spielen) eine grundlegende Rolle bei der Formung der öffentlichen Meinung, etwa während des Kroatienkrieges in den 1990er-Jahren, wie Roswitha Kersten-Pejanić eindrucksvoll darstellt. Christoph Laucht erweitert unseren Horizont mit seinem Beitrag, indem er die Bedeutung des Stadtraums in den Fokus rückt. Seine Untersuchung betrachtet die Integration von Räumen und Orten, etwa die Gestaltung der Friedensstadt Hiroshima, und beleuchtet die Auswirkungen von Kriegen auf Städte. Dieser Ansatz lässt sich auch auf aktuelle Konflikte übertragen, einschließlich der Auswirkungen von Bombardierungen, Drohnenangriffen sowie Angriffen auf die Infrastruktur, welche wiederum Einfluss auf das Leben in den Städten haben. Der von Menschen geschaffene Raum kann zudem eine bedeutende symbolische Tragweite haben, wie es beispielhaft die Stadt Hiroshima zeigt, die seit 1949 als „Friedensstadt“ bezeichnet und gestaltet wurde. Lauchts Arbeit widmet sich explizit dem von Menschen geprägten Raum, der sowohl konstruktive als auch zerstörerische Aspekte aufweisen könne.
Die Beiträge in diesem Kontext beschränken sich nicht auf eine spezifische Epoche oder Region, sondern umfassen thematisch und methodisch ein breites Spektrum. Dies reicht von Medien-, Kultur- und Emotionsgeschichte bis hin zu Migrations-, Bildungs- und Geschlechtergeschichte sowie post- und dekolonialen Perspektiven. Maximilian Drephal fordert beispielsweise dazu auf, den Schwerpunkt der Historischen Friedens- und Konfliktforschung auf postkoloniale Regionen zu erweitern und die methodischen Herangehensweisen zu „entkolonisieren“. Dabei wird die Einbeziehung nicht-eurozentrischer Perspektiven betont und angeregt, geopolitische Machtstrukturen als Barrieren zu betrachten, die durch koloniale, rassistische und geschlechtsspezifische Grundlagen geprägt seien und daher für künftige Forschungsarbeiten berücksichtigt werden müssten.
Thomas Fischer beschäftigt sich mit der Idee der Transitional Justice nach gewaltsamen Konflikten und fragt, wie sie zur Förderung des Friedens beitragen könne. Jedes Kapitel zielt darauf ab, einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Forschungsfeldes zu leisten, und diskutiert den Nutzen des jeweiligen Zugangs für die Historische Friedens- und Konfliktforschung. Einige Beiträge bieten konkrete Fallstudien, während andere sich auf theoretische Überlegungen und aktuelle Debatten konzentrieren. Es mag nicht immer gleich offensichtlich sein, wie einige Aufsätze mit der Historischen Friedens- und Konfliktforschung zusammenhängen, aber die Komposition des Bandes schafft tatsächlich einen Mehrwert. Die „metareflexive“ (S. 19) Herangehensweise, über das Forschungsfeld nachzudenken, ist durch die vielfältigen Beiträge gelungen. Das Buch richtet sich gleichermaßen an Forscher:innen und Student:innen, wobei es jedoch stark theorieorientiert angelegt ist. Für Studierende ist es möglicherweise weniger geeignet, da die meisten Beiträge ein bestimmtes Vorwissen erfordern.
Der Schlussbeitrag der Herausgeber:innen unterstreicht, dass es nicht darum geht, endgültige Antworten auf Fragen der Friedens- und Konfliktforschung zu finden, sondern vielmehr darum, Perspektiven, Möglichkeiten und bisher weniger beachtete Aspekte aufzuzeigen. Die Beiträge sollen individuelle Antworten bieten, neue Fragen und Probleme erschließen sowie Ausblicke ermöglichen. So verdeutlicht der Sammelband die vielfältigen Facetten und Ansätze der Historischen Friedens- und Konfliktforschung. Er zeigt, dass dieses Arbeitsfeld sich ständig weiterentwickelt und intensiv diskutiert wird. Die Aufsätze werden als Impulse für künftige Untersuchungen verstanden.
Das Dilemma einer „Quadratur des Kreises“ bleibt letztlich bestehen – der Anspruch, alles zu umfassen, ist nicht realisierbar, wohl aber eine grundsätzliche Offenheit des Forschungsfeldes. Gassert hebt in seinem Beitrag hervor, dass gewaltsame Konflikte vielfach weder verhindert noch gelöst werden können und daher in der Praxis als ineffektiv erscheinen (S. 92). Er unterstreicht jedoch, dass durch die Vermittlung von Kenntnissen über Deeskalation sowie durch Erfahrungswerte darüber, wie Kriege ohne einen „Gewinner“ beendet werden können, ein Beitrag zum historischen Verstehen und eventuell auch zum aktuellen Handeln möglich sei. Die Autor:innen versuchen insgesamt, die Perspektiven zu erweitern und den Zwischenraum zu erkunden: zwischen Frieden und Krieg, gewaltsamen und gewaltfreien Konflikten.
Anmerkungen:
1 Benjamin Ziemann, Perspektiven der Historischen Friedensforschung, in: ders. (Hrsg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, S. 13–42, hier S. 24. Dies war Band 1 der Reihe „Frieden und Krieg“, die bis 2018 bei Klartext publiziert wurde und dann zu Campus wechselte; sie erscheint im Auftrag des Arbeitskreises Historische Friedens- und Konfliktforschung. Siehe auch https://historische-friedensforschung.org (09.12.2023).
2 Siehe dazu jetzt Jörn Leonhard, Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen, München 2023.