Cover
Titel
Kultur im Widerstreit. Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1949–73


Autor(en)
Narz, Roxanne
Reihe
Medienakteure der Moderne (3)
Erschienen
Paderborn 2022: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XLII, 468 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Das Vergehen der Zeit ist Historikern eine vertraute Beobachtung. Es bildet nicht nur den Gegenstand der eigenen Disziplin, sondern ergibt sich gleichermaßen aus dem Bewusstsein für die Vergänglichkeit der eigenen Einsichten. Dass kein historischer Befund zeitlos gültig ist, sondern im steten Fließen der Zeit alsbald überholt wird, gehört seit jeher zum Wesen der Geschichtswissenschaft. Umso gespannter hat der Rezensent nach der Buchfassung der Würzburger Dissertation von Roxanne Narz gegriffen, die mit dem Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) und ihres langjährigen Mitherausgebers Karl Korn ganz ähnliche Gegenstände thematisiert wie seine eigene Dissertation vor fünfzehn Jahren.1 Wofür mag sich die Autorin einer aktuellen Studie interessieren? Im Vordergrund steht die Frage nach Stellung, Einfluss und diskursprägender Macht des FAZ-Feuilletons in der Medien- und Pressegeschichte der frühen Bundesrepublik, was angesichts des voranschreitenden Niedergangs des klassischen Printjournalismus mehr denn je als historisches Problem heraussticht. Das Buch zielt auf ein besseres Verständnis des Zeitungsfeuilletons als Ort intellektueller Vergemeinschaftung, dessen über Jahrzehnte exklusive Stellung und besondere Ausstrahlungskraft in der Tat erst mit der digitalen Entgrenzung und Nivellierung aller öffentlichen Kommunikation zu erklärungsbedürftigen Phänomenen geworden sind.

Die Publikation ist Teil eines verdienstvollen Forschungsverbundes um Peter Hoeres, aus dem nicht nur eine Gesamtgeschichte der FAZ und zwei weitere Dissertationen hervorgegangen sind, sondern der auch erstmals Zugang zum hausinternen Archiv der Zeitung erhalten konnte.2 Zwar sollen sich die vorgefundenen Akten in einem ungeordneten Zustand ohne eindeutige Registratur befunden haben3, und vermutlich sollte man sich über die Vollständigkeit der Überlieferung auch keiner Illusion hingeben. Wer sich aber nur ein wenig mit dem Selbstverständnis der FAZ auskennt, dürfte bereits dem Zugang zu den Protokollen der Herausgebersitzungen oder der großen Dienstagskonferenzen höchsten Wert beimessen. Für die vorliegende Arbeit wurde zudem eine beeindruckende Zahl weiterer Bestände und Nachlässe konsultiert, da zahlreiche Korrespondenzen nicht intern anfielen, sondern mit externen Personen geführt wurden. Besonders die erstmals mögliche Auswertung des gesperrten Briefwechsels zwischen Karl Korn und seiner langjährigen Weggefährtin Margret Boveri muss an dieser Stelle herausgehoben werden.4 Dass die Studie von den mächtigen Recherchewerkzeugen unserer Gegenwart – etwa Volltextsuchen im digitalisierten Artikelarchiv – ungemein profitiert, sei schließlich ebenfalls positiv erwähnt.

Das Buch bietet sieben Hauptkapitel, die nur bedingt chronologisch angelegt, sondern in erster Linie jeweils einem größeren Themenzusammenhang gewidmet sind. Am Anfang steht eine mit raschen Strichen skizzierte Genese des Feuilletons als Zeitungsgenre seit dem 19. Jahrhundert, sodann der Blick auf die Gründungsphase der FAZ und die sukzessive Entfaltung des Kulturteils. Kam dieser in der Tradition der bürgerlichen Weimarer Presse und der „Frankfurter Zeitung“ anfänglich noch als Bleiwüste daher und war auf eine knappe Seite beschränkt, lockerte er sich optisch wie inhaltlich bald auf und erweiterte kontinuierlich seinen Umfang. Das zweite Kapitel ist der Redaktion des Feuilletons gewidmet, der im Untersuchungszeitraum Karl Korn als verantwortlicher Herausgeber vorstand, die im Tagesgeschäft aber von eigenständigen Chefs geleitet wurde. Die Personalpolitik war liberal, die Toleranz für abweichende Meinungen hoch, das elitäre Bewusstsein stark ausgeprägt. Die Angehörigen der Kulturredaktion waren zudem von Beginn an bereit, sich in einzelnen (kulturellen) Streitfragen entschieden zu positionieren, sodass nach einer zentralen These der Arbeit eigentlich schon für diese ersten Jahre von einem „Debattenfeuilleton“ gesprochen werden kann (S. 412), nicht erst unter Korns Nachfolgern Joachim Fest (ab 1973) und Frank Schirrmacher (ab 1994).

Dass die kritische Grundhaltung der Feuilletonisten durchaus Blindstellen hatte, verdeutlicht Narz im folgenden Kapitel anhand des Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Im redaktionellen Miteinander spielten Fragen der eigenen Belastung zunächst nur eine geringe Rolle, und zwar unabhängig vom Grad der jeweiligen Verstrickung. Die publikumsträchtigen Kampagnen des rechtsnationalen Provokateurs Kurt Ziesel, die sich gegen Karl Korn ebenso richteten wie gegen dessen Konkurrenten Friedrich Sieburg, sorgten intern eher für geschlossene Reihen. In den Artikeln begann zwar schon in den frühen 1950er-Jahren eine Thematisierung der NS-Diktatur, die aber meist bei allgemeinen Betrachtungen verharrte und, bis auf wenige Ausnahmen, konkrete Vorwürfe vermied. Das vierte Kapitel ist der kulturpessimistischen Gesellschaftskritik des Feuilletons gewidmet, die erst gegen Ende der 1950er-Jahre allmählich an Bedeutung verlor, das fünfte Kapitel sodann der Auseinandersetzung mit den kulturellen Formen der Moderne in Literatur, Kunst und Musik. Gerade in der Zusammenschau beider Kapitel wird gut greifbar, wie sehr sich mit dem Verblassen der traditionellen Kulturkritik auch die metapolitische Distanz zur Gegenwart auflöste, sodass die Öffnung zur westdeutschen Gesellschaft nicht nur mit einer Liberalisierung und Pluralisierung einherging, sondern auch mit einer rapiden Politisierung.

Die im sechsten Kapitel unter dem Oberbegriff „1968“ gefassten Verwerfungen, wie sie sich ab Mitte der 1960er-Jahre in der FAZ besonders zwischen dem Politik- und Wirtschaftsteil auf der einen Seite, dem Feuilleton auf der anderen Seite zeigten, wurzelten jedenfalls in einem neuartig „politischen“ Selbstverständnis vieler Kulturredakteure. Das Binnenklima der Zeitung, so kann Narz gestützt auf zahlreiche interne Unterlagen zeigen, geriet dadurch in eine tiefe Krise. Die Beurteilung etwa der Lage an den Universitäten oder des Vietnam-Krieges begann selbst innerhalb einer Tagesausgabe erheblich zu differieren, und nicht selten begegneten sich Redakteure der einzelnen Ressorts – beispielsweise Karl Heinz Bohrer vom Feuilleton und Günther Gillessen vom Politikteil – nur noch mit Verachtung. Bemühungen um eine bessere interne Kommunikation versandeten rasch, sodass es einer ganzen Kaskade personeller Wechsel in den frühen 1970er-Jahren bedurfte, bevor sich ein Teil der Spannungen auflösen konnte.

In ihrem letzten Hauptkapitel wirft Narz einen genauen Blick auf die Geschlechterverhältnisse im Feuilleton und widmet sich damit einer häufig beklagten Blindstelle der Journalismusgeschichte. Dieser Teil ist besonders deshalb eindrucksvoll zu lesen, weil er die lebensweltliche Situation von Frauen in der Redaktion in einem weiten Verständnis erkundet, von den unterschiedlichen Einkommensverhältnissen über die familiäre Doppelbelastung bis zur performativen Durchsetzung in den männerdominierten Konferenzen. Wohl war die Stellung der Redakteurinnen und Journalistinnen im Feuilleton eine andere als in der ungleich stärker männerbündisch geprägten Politik- oder Wirtschaftsredaktion. Trotzdem blieb den Frauen auch hier die Anerkennung oft versagt. Einen bemerkenswerten Sonderfall stellte die von 1949 bis 1975 erscheinende „Frauenseite“ der FAZ dar, die Narz umfassend erschließt. Dass dort keineswegs nur leichte Themen verhandelt wurden, sondern unter der Leitung von Helene Rahms, die sich gegen jede Beschränkung auf „frauenspezifische“ Interessen selbstbewusst verwahrte, die gesellschaftliche Situation von Frauen mitsamt ihrer rechtlichen Gleichstellung und sozialpolitischen Absicherung viel Raum erhielt, gehört zu den wichtigen Einsichten der Studie.

In der Gesamtschau verdient die souverän und flüssig geschriebene Monographie großes Lob. Sie zeigt nicht nur, wie das Feuilleton der FAZ in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu einem zentralen Ort intellektueller Selbstverständigung avancierte und die Wandlungsprozesse der „langen 1960er-Jahre“ gleichermaßen spiegelte wie prägte, sondern rekonstruiert zugleich seine Stellung innerhalb der Gesamtredaktion und seinen Aufstieg zu einem gleichberechtigen Ressort. Derartige quellenfundierte Einblicke in das Innenleben eines Zeitungshauses sind in der Mediengeschichtsschreibung zur Bundesrepublik immer noch rar. Für das historische Verständnis wertvoll werden sie im vorliegenden Fall besonders auch dadurch, dass Roxanne Narz jeden Tunnelblick vermeidet und ihre Ergebnisse zum Kulturjournalismus der FAZ konsequent mit der bestehenden Forschung verzahnt. Dass einige wenige Studien fehlen, etwa Nina Verheyens Dissertation zur „Diskussionslust“5, lässt sich verschmerzen. Eine grundstürzende Revision bisheriger Deutungen zur westdeutschen Medien- und Öffentlichkeitsgeschichte wird zwar nicht geboten, doch der erweiterte Quellenzugang ermöglicht ein weitaus genaueres Bild als zuvor. Wer verstehen will, wie es um den Einfluss der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und den Geltungsanspruch ihres Feuilletons in der Ära eines vordigitalen Journalismus bestellt war, sollte an diesem Buch nicht vorbeigehen.

Anmerkungen:
1 Marcus M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München 2008; rezensiert von Alexander Gallus, in: H-Soz-Kult, 16.09.2008, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11431 (25.02.2023).
2 Peter Hoeres, Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ, Elsbethen bei Salzburg 2019 (rezensiert von Jürgen Wilke, in: H-Soz-Kult, 10.02.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28926); Maximilian Kutzner, Marktwirtschaft schreiben. Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1949 bis 1992, Tübingen 2019 (rezensiert von Rudolf Stöber, in: H-Soz-Kult, 11.06.2020, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29085); Christina Schäfer, Erich Welter. Der Mann hinter der F.A.Z., phil. Diss. Universität Würzburg 2019, https://doi.org/10.25972/OPUS-19211 (25.02.2023). Angekündigt ist noch eine Dissertation von Frederic Schulz mit dem Titel „Am Webstuhl der Zeit. Das Politikressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1949–1989)“.
3 Vgl. Hoeres, Zeitung für Deutschland, S. 14 und S. 451, Fn. 2.
4 Dazu auch: Roxanne Narz, Es herrscht die Stickluft der Inquisition. Widerstand durch Mitarbeit. Das Feuilleton dieser Zeitung im Spiegel der Briefe seines ersten Herausgebers Karl Korn an Margret Boveri, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.07.2018, S. 14.
5 Nina Verheyen, Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des „besseren Arguments“ in Westdeutschland, Göttingen 2010; rezensiert von Jens Elberfeld, in: H-Soz-Kult, 04.03.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-14115 (25.02.2023).

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