„In den letzten Jahren haben wir einen Aufschwung der Palästina-Photographie erlebt, schon dadurch, daß zahlreiche Berufsphotographen, darunter auch solche aus Deutschland, nach Palästina kamen und das künstlerische Niveau der Photographie gehoben haben“, hieß es Anfang November 1935 in einer Rezension in der Jüdischen Rundschau zu dem von Georg Landauer herausgegebenen Buch „Palästina. 188 Bilder“.1 Die Abbildungen stammten von in Deutschland und Palästina ansässigen Fotografen und Fotografinnen, darunter seine Frau Lou Landauer, die mit 56 Aufnahmen am stärksten vertreten war. Lou Landauer, geb. Levi, wie ihr Mann gebürtig aus Köln, hatte Fotografie in München und Berlin studiert und war Anfang 1934 nach Jerusalem übergesiedelt, wohin Georg Landauer als Geschäftsführer des Zentralbüros für die Ansiedlung deutscher Juden berufen worden war. Im selben Jahr drehte sie im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugend-Alija einen Film über die Ankunft der ersten Gruppe aus Deutschland, der 1936 unter dem Titel „Aufbruch der Jugend!“ uraufgeführt wurde.
Lou Landauer ist eine von zehn deutsch-jüdischen Fotografinnen, die nach 1933 nach Palästina emigrierten oder sich zeitweilig dort aufhielten, die die Kunsthistorikerin Anna Sophia Messner in ihrer nun veröffentlichten Dissertation ins Zentrum der Untersuchung stellt. Messners Auswahl umfasst wenig bekannte und weitgehend vergessene Protagonistinnen; von einigen sind Teile ihres fotografischen Werkes überliefert, über ihren Lebensweg fehlen indes einschlägige Informationen. Neben Lou Landauer gehören hierzu Ellen Auerbach, Marianne Breslauer, Liselotte Grschebina, Alice Hausdorff, Charlotte und Gerda Meyer, Aenne Mosbacher, Ricarda Schwerin (die nicht jüdisch war) und Marli Shamir. Sie stehen „exemplarisch für eine Generation deutsch-jüdischer Fotografinnen“, so die Autorin, die „aus dem Kanon der Fotografiegeschichte“ ausgeschlossen waren, obgleich sie „Teil der künstlerischen und emanzipatorischen Avantgarde-Bewegungen der Weimarer Republik, wie das Neue Sehen oder die Neue Frau, waren und diese maßgeblich geprägt haben“. (S. 15) Unter der Bedrohung des NS-Regimes mussten sie Deutschland verlassen und emigrierten ins britische Mandatsgebiet, wo es ihnen unter zumeist entbehrungsreichen Verhältnissen gelang, ihre fotografische Tätigkeit fortzusetzen. Einige von ihnen waren für die zionistischen Institutionen aktiv, für die sie den Nation-Building-Prozess dokumentierten, andere widmeten sich der Presse-, Werbe- und Porträtfotografie sowie der künstlerischen und privaten Fotografie. Vor diesem Hintergrund ist die zentrale Fragestellung der Arbeit der „Pluralität weiblicher Perspektiven durch die Kamera auf Palästina und den frühen Staat Israel gewidmet, denen im Rahmen eines bildwissenschaftlichen Diskurses am Beispiel der Fotografien nachgegangen wird“. (S. 31) Hinterfragt werden zudem Aspekte des Kunst- und Kulturtransfers der visuellen Ästhetik der Avantgarde-Fotografie, welche die Fotografinnen aus Deutschland mit nach Palästina brachten, sowie ihr Einfluss auf die Herausbildung einer israelischen Kunst.
Die Einleitung von „Palästina/Israel im Blick“ eröffnet kenntnisreich mit der Darlegung des Forschungsstandes zur Fotografiegeschichte, den Fotografinnen in der Weimarer Republik, dem Bild der Neuen Frau, auch im Kontext ihrer jüdischen Identität, gefolgt von einem Abriss zur Geschichte der Fotografie in Palästina und dem frühen Staat Israel.
Kapitel 2 mit dem Titel „Von Deutschland nach Palästina und zurück“ widmet sich am Beispiel dreier verschiedener Medien – dem Fotoalbum, dem Fotobuch und Postkarten – den Arbeiten und Biografien von Marianne Breslauer, Lou Landauer und Aenne Mosbacher. Breslauer war im Frühjahr 1931 zu einer Palästinareise aufgebrochen; ihre in der Tradition der Reisefotografie ins Heilige Land geprägten Aufnahmen, die sie später in einem Palästina-Fotoalbum zusammenfasste, werden von Messner erstmals eingehend untersucht.
Neben der Besprechung des Fotobuchs „Palästina. 188 Bilder“ von 1935 und der Arbeiten Lou Landauers wird auch das zehn Jahre zuvor von Georg Landauer herausgegebene Fotobuch „Palästina: 300 Bilder“ (1925) beleuchtet. Die Aussage, dass sich darin keine Aufnahmen von Lou Landauer finden (S. 101), entspricht allerdings nicht den Tatsachen. Zwar fehlt ihr Name dort im Quellenverzeichnis, jedoch hat sich in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main ein Exemplar erhalten, in dem handschriftlich Landauers Aufnahmen nummeriert und auch die Bilder mit den Initialen L.L. versehen wurden.2 Belegt wird Landauers Autorinnenschaft auch durch die Aufnahme eines Brunnens auf dem Jerusalemer Tempelplatz, die in beiden Büchern abgebildet ist (1925: S. 15; 1935: S. 7). Lou und Georg Landauer waren erstmals im Frühjahr 1924 auf einer Studienreise in Palästina, wo die Aufnahmen vermutlich entstanden.
Im Abschnitt „Palästina-Postkarten“ wird eine Serie von 35 Fotografien besprochen, die Aenne Mosbacher während einer Palästina-Reise zwischen 1934 und 1936 aufgenommen hatte, die sich in sieben Umschlägen im Jüdischen Museum Australien, Melbourne, erhalten haben. Rezensionen in der zeitgenössischen Presse, darunter in der Zeitschrift des Schwesternverbandes Bne Briss, deren Mitglied Mosbacher war, ist zu entnehmen, dass es sich ursprünglich um „eine Auswahl von 8 Serien mit je 5 Stück in hübschen Silbermäppchen“ handelte.3 Der im Museum fehlende Umschlag Nr. II beinhaltete demnach thematisch „Landschaften und Menschen“. Über das Leben der aus Kassel gebürtigen Mosbacher ist nur wenig bekannt.
In Kapitel 3 wird unter dem Titel „Zwischenräume“ das Werk von Ellen Auerbach, Marli Shamir und Ricarda Schwerin behandelt. Von Auerbach, die unter den vorgestellten Fotografinnen heute die bekannteste ist, hat sich ein 3:16 Minuten langer Film von ihrer Überfahrt von Triest nach Jaffa auf der „Patria“ im Spätherbst 1934 erhalten. „Die große Reise“ ist ein einzigartiges Dokument über die Schiffspassage der Emigrantin. Im Auftrag des Keren Kajemet LeIsrael schuf sie zudem den Film „Tel Aviv“ über den Aufbau der ersten jüdischen Stadt. Mit Liselotte Grschebina, einer Studienfreundin aus Karlsruhe, eröffnete sie in Tel Aviv ein Studio für Kinderporträtfotografie, bis sie im Mai 1936 Palästina verließ und über London ins Exil nach New York ging. Marli Shamir, geboren 1919 in Berlin, ist die jüngste der Protagonistinnen. Sie entwickelte eine individuelle Sichtweise auf die palästinensische und israelische Landschaft, die als Annäherung respektive Aneignung ihres Exillandes und der neuen Heimat gelesen werden kann. Ricarda Schwerin, die zeitweilig am Bauhaus Dessau studiert hatte, war 1935 mit ihrem jüdischen Mann nach Jerusalem emigriert, wo sie zunächst eine Werkstatt für Holzspielzeug gründeten. Erst Mitte der 1950er-Jahre mit ihrem Eintritt in das Fotostudio von Alfred Bernheim, der ebenfalls aus Deutschland emigriert war, konnte sie sich wieder der Fotografie widmen. Zu ihren bekanntesten Aufnahmen gehört eine kleine Porträtserie von Hannah Arendt, die auf zahlreichen Buchcovern zu deren Schriften zu finden ist.
Kapitel 4 mit dem Titel „Ikonographien des Nation-Building“ folgt Themen und Motiven, die Fotografinnen im Auftrag zionistischer Institutionen entwickelten. So dokumentierte Liselotte Grschebina für die Frauenorganisation „Womens International Zionist Organisation“ (WIZO) unter anderem die hauswirtschaftliche Ausbildung der Neuen Hebräischen Frau und weibliche Räume des nationalen Aufbauwerks. Das fotografische Werk von Charlotte und Gerda Meyer war den verschiedenen Facetten der Stadt Haifa gewidmet, wo sich die Schwestern nach ihrer Emigration aus Berlin niederließen. Zahlreiche Fotografien produzierten sie im Auftrag von Industrieunternehmen zu Werbe- und Publikationszwecken. In ihrem florierenden Fotostudio ließen sich auch Persönlichkeiten des politischen und geistigen Lebens porträtieren. Lou Landauer begann 1942 an der sieben Jahre zuvor wiedereröffneten Bezalel-Akademie ihre Lehrtätigkeit und richtete hier den ersten Fachbereich für Fotografie ein, wo sie auch die Ausbildung an der Kunstschule dokumentierte. Das Leben und Werk der bis dato unbekannten Fotografin Alice Hausdorff offenbarte sich erst durch einen Koffer mit Fotografien und Dokumenten, der vor Jahren auf einem Müllhaufen in Haifa gefunden wurde. Dieses Koffer-Archiv enthält Aufnahmen zu verschiedensten Aspekten des nationalen Aufbauwerks, einige entstanden im Auftrag der WIZO. Ein bedeutender Bereich ihres Schaffens war der Tanzfotografie gewidmet, hier insbesondere der Pionierin des Ausdruckstanzes in Israel, Gertrud Kraus.
Es ist ein zu würdigendes Verdienst Messners, die teilweise verschollenen Nachlässe der vorgestellten deutsch-jüdischen Fotografinnen dem Vergessen entrissen zu haben und sie in den Kontext der Fotografiegeschichte der Weimarer Republik und ihrem Exil in Palästina sowie ihrer neuen Heimat Israel zu stellen. Die 100 beigefügten Abbildungen, die bis auf wenige Ausnahmen von den Protagonistinnen stammen, verdeutlichen das breite Spektrum des „weiblichen Blicks“ zwischen Avantgarde-Fotografie und dem Prozess des Nation-Building. Auch wenn leider ein Personenregister fehlt: ein aufschlussreiches Buch, das zugleich Forschungsimpulse liefert, weitere unbearbeitete Nachlässe zu sichten und vergessene Fotografinnen, deren Namen zum Teil genannt werden, in den Blick zu nehmen.
Anmerkungen:
1 Zur Rezension vgl. Palästina-Bücher, in: Jüdische Rundschau, 5.11.1935, S. 10.
2 Insgesamt handelt es sich um zwölf Aufnahmen. Vgl. https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/5273523 (27.11.2023).
3 Vgl. Palästina-Bildkarten von Aenne Mosbacher, in: Zeitschrift des Schwesternverbandes Bne Briss 5 (1936), S. 6–7.