G. Dilcher: Normen zwischen Oralität und Schriftkultur

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Titel
Normen zwischen Oralität und Schriftkultur. Studien zum mittelalterlichen Rechtsbegriff und zum langobardischen Recht. Hrsg. von Kannowski, Bernd; Lepsius, Susanne; Schulze, Reiner.


Autor(en)
Dilcher, Gerhard
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 389 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Dartmann, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das Titelbild der Sammlung von 13 Aufsätzen des Frankfurter Rechtshistorikers Gerhard Dilcher zeigt zwei Miniaturen eines in Modena aufbewahrten Kodex mit dem von Lupus von Ferrières angefertigten Liber legum, einer Sammlung frühmittelalterlicher Leges und Kapitularien. Der Lex Salica ist eine Miniatur vorangestellt, die die vier legendären rectores zeigt, die auf einer Bank mit hoher Lehne sitzend das Recht weisen. Das untere Register des Titelbilds zeigt einen tonsurierten Schreiber, der vor einem hohen Pult sitzend mit der Niederschrift des Rechtstexts befasst ist, der auf dieses Bild folgt. Mit diesem Einband führen die Herausgeber des Bandes emblematisch in ein thematisches Spannungsfeld ein, das die meisten der hier versammelten Beiträge durchzieht: die Interaktion zwischen dem Ideal mündlicher, meist konsensorientierter Rechtsfindung innerhalb frühmittelalterlicher politischer Verbände und dem Willen zur schriftlichen Fixierung und damit oft verbundenen herrscherlichen Autorisierung verbindlicher Normbestände.

Nachdem bereits 1996 eine Sammlung von Aufsätzen Dilchers zur mittelalterlichen Stadt erschienen ist1, haben die Herausgeber jetzt anlässlich seines 75. Geburtstags einen zweiten Band vorgelegt, der erneut eine Auswahl aus seinen vielfältigen Arbeiten zusammenfasst und zugänglich macht. Die Beiträge, die unter den Stichworten "Zum mittelalterlichen Rechtsbegriff" und "Zum langobardischen Recht" zusammengeführt worden sind, stammen mit einer Ausnahme aus der Zeit ab 1992. Der einzige ältere Text ist bereits 1976 in der Festschrift für Adalbert Erler publiziert worden. Er belegt, dass Dilcher in seinen jüngeren Arbeiten an Überlegungen anknüpfen konnte, mit denen er sich bereits früh als ein Rechtshistoriker profiliert hat, der beständig das Gespräch mit benachbarten Disziplinen suchte. Schon zu diesem Zeitpunkt hat Dilcher Themen angesprochen, deren Bedeutung erst in der jüngeren Mediävistik wirklich erkannt und breit diskutiert worden ist. Bereits 1976 verwies er auf die idealisierte öffentliche Kommunikationssituation des ‚Gairethinx', einer Versammlung des Herrschers mit den Großen des langobardischen Volkes, in der König Rothari sein Edikt verkünden ließ. Aus Sicht der heutigen Forschung ist es frappierend, dass Dilcher bereits so früh die Bedeutung symbolischer Kommunikation für mittelalterliche Rechtsschriftlichkeit betonte und das mit einer präzisen ereignishistorischen wie sozio-kulturellen Kontextualisierung des Verschriftungsvorgangs verband. Dadurch löste er sich von bis heute nachwirkenden Rekonstruktionen einer vermeintlich archaischen Rechtssymbolik, deren Systematik vermittels einer Zusammenstellung höchst heterogener Einzelbelege konstruiert wurde. Stattdessen spürte er den politischen und kulturellen Kontexten nach, in denen schriftliches Recht und öffentliche Kommunikation gezielt miteinander verschränkt wurden, um Machtausübung auf die Grundlage des Rechts zu stellen.

Weil es sich bei den meisten Artikeln um den Wiederabdruck bereits publizierter Arbeiten handelt, die noch dazu breiteste Rezeption erfahren haben, ist es müßig, an dieser Stelle ihren Gehalt noch einmal einzeln zu referieren. Die Breite der Ansätze, die Dilcher in seinen Studien aufnimmt und fortentwickelt, mag an einem prominenten Beispiel noch einmal in Erinnerung gerufen werden. In seinen Überlegungen zur "Mittelalterliche(n) Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretische(m) Problem" (S. 33–84) geht es darum, die anachronistischen Implikationen bewusst zu machen, die dem etablierten Begriff "Gewohnheitsrecht" innewohnen. Stattdessen entwirft Dilcher ein Verständnis mittelalterlicher Consuetudines, das den Macht- und Kommunikationsstrukturen wenig zentralisierter Gruppen gerecht wird, in denen Schrift nur in sehr begrenztem Maße Verwendung findet. Die Kritik am Begriff "Gewohnheitsrecht" wird mit einem Durchgang durch seine rechtswissenschaftliche wie -praktische Verwendung im Rahmen moderner Rechtskulturen fundiert, in denen die meisten Sachverhalte schriftlicher Normierung unterliegen und lediglich im Restbereich (noch) nicht verschrifteter Normen auf Gewohnheitsrecht zurückgegriffen wird. Wie problematisch die Übertragung dieses Modells auf frühere Kulturen ist, wird dann unter Rückgriff auf ein "ethnologisch-anthropologisch begründete(s) soziologische(s) Rechtsverständnis" (S. 52) plausibel gemacht, ehe Dilcher schließlich sein Bild einer weitgehend von oraler Kommunikation geprägten Rechtskultur im Ersten Mittelalter entwirft. Neben systematischer und historischer juristischer Literatur treten so aktuelle ethnologische und rechtssoziologische Ansätze ebenso in den Blick wie die in der Mediävistik heute breit geführte Diskussion über Formen und Funktionen öffentlicher, mündlicher wie schriftlicher Kommunikation sowie der Konfliktführung in politischen Verbänden ohne staatliche Strukturen.

Die anderen Beiträge argumentieren vor einem ähnlich weiten Horizont und bringen rechtshistorische Befunde in aktuelle, interdisziplinär geführte Debatten ein. In ihnen geht es etwa um die Bedeutung normativer Aufzeichnungen im Prozess der frühmittelalterlichen Ethnogenese, um Ursprungserzählungen und Geschichtsbewusstsein in mittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen, um die Einordnung frühmittelalterlicher Leges in die Vorgeschichte der Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Neben grundsätzlichen Überlegungen stehen Studien, die diese Fragen konkret am langobardischen Recht verfolgen. Zwei weitere Beiträge sind der Frage gewidmet, welche Stellung der Rekurs auf die Figur des Kaisers in der Entwicklung neuer Konzepte von Staatlichkeit und Recht seit dem Hochmittelalter besaß. Sie verweisen auf ein größer angelegtes Projekt zur Genese des öffentlichen Rechts in Europa, das Dilcher zurzeit gemeinsam mit dem Trienter Rechtshistoriker Diego Quaglioni verfolgt.2

Die Aufsatzsammlung belegt, wie intensiv sich Dilcher nach wie vor an den aktuellen mediävistischen Diskussionen beteiligt. Der Wert seiner Beiträge für das interdisziplinäre Gespräch liegt darin begründet, dass er trotz seiner Offenheit für die Ansätze anderer Fächer das Eigengewicht rechtlicher Überlieferungen wie rechtshistorischer Erkenntnisse und Problemstellungen zur Geltung bringt. Die Fähigkeit, beides miteinander zu verbinden, erweist sich nicht zuletzt durch die hier versammelten Beiträge als Schlüssel, um der frühmittelalterlichen Überlieferung gerecht zu werden. Denn sie entspringt einer politischen Kultur, die kein ausdifferenziertes, autonomes Rechtssystem auf der Grundlage schriftlicher Normen kannte, aber dennoch auf Recht zurückgriff, um gesellschaftliche Ordnungsmodelle zu entwerfen und Konflikte zu regulieren.

Anmerkungen:
1 Gerhard Dilcher, Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln 1996.
2 Vgl. als erste Publikation Gerhard Dilcher; Diego Quaglioni (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico. Legislazione e dottrina giuridica nell'età di Federico Barbarossa / Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Gesetzgebung und gelehrtes Recht im Zeitalter Friedrich Barbarossas, Bologna 2007.