Titel
Mädchenschulgeschichte(n). Die preußische Mädchenschulreform und ihre Folgen


Herausgeber
Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung
Reihe
Ariadne
Anzahl Seiten
151 S.
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Marita Kampshoff, Institut für Erziehungswissenschaft, Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd

Vor 100 Jahren, nach langen Kämpfen der Frauenbewegungen, bekam das Mädchenschulsystem eine verbindliche Form. Die Abgängerinnen dieser Schulen erhielten Abschlüsse, die zu Ausbildung und Studium berechtigten und etwa zeitgleich wurden Frauen an den preußischen Universitäten zum Studium zugelassen. Die preußische Mädchenschulreform von 1908 gilt als eine der Wegmarken einer historischen Entwicklung, die den (bürgerlichen) Mädchen nach und nach gleiche Bildungsmöglichkeiten bot wie den Jungen. Die Autor/innen der Doppelnummer der Ariadne, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums dieser bildungspolitischen Maßnahme erschien, beleuchten die Geschichten der Mädchenbildung und des Frauenstudiums aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Da nicht alle Beiträge des Bandes besprochen werden können, greife ich die aus meiner Sicht zentralen heraus.

Ein erster wichtiger Beitrag stammt von James C. Albisetti. Er geht ausführlich und detailliert der Frage nach, ob Preußens Mädchenschulreform ‚spät’ erfolgte und als rückständig im Vergleich zu anderen Ländern zu bewerten oder nicht eher als „größter Erfolg der Feministinnen im imperialen Deutschland“ (S. 16) einzuschätzen sei. Für die Beschäftigung mit dieser Frage stellt der Autor zahlreiche Vergleiche mit anderen Ländern an. Er beleuchtet dabei jeweils ganz verschiedene Aspekte, wie etwa, ob Mädchenschulen oder Frauenuniversitäten als gleichwertige Institution eingerichtet wurden oder ob den Mädchen/ jungen Frauen der Zugang zu den bestehenden Einrichtungen ermöglicht wurde und welche Fakultäten an den Universitäten sich den Frauen jeweils öffneten. Dieser Beitrag gibt einen differenzierten Einblick in vielfältige Debatten, Reformen, deren Rücknahme und über die verschiedenen beteiligten Akteur/innen.
In ihrem Beitrag über die „Gelbe Broschüre“ von Helene Lange, einer häufig als herausragend eingestuften Kämpferin für die Mädchenbildung, geht Edith Glaser der Frage nach, ob und wenn ja inwiefern dieser Text ein pädagogischer Klassiker ist. Anhand der Rezeption des Textes zum Zeitpunkt seines Entstehens 1887/88 und der knapp 100 Jahre später erneut einsetzenden intensiven Beschäftigung mit den Positionen Helene Langes kommt Glaser zu der These, dass die „Gelbe Broschüre“ zu beiden Zeitpunkten zu einem Schlüsseltext stilisiert wurde. Ende des 19. Jahrhunderts fand diese Stilisierung im Rahmen des Kampfes um die Gleichwertigkeit der Mädchenbildung im Vergleich zur Jungenbildung statt, 100 Jahre später in der Debatte um Gleichheit und Differenz. Die Argumentationsgänge der Befürworter/innen und Kritiker/innen der in dieser Auseinandersetzung angeschnittenen Themen wie Geistige Mütterlichkeit, weibliche Eigenart von Lehrerinnen oder Reform der Mädchenbildung sind kenntnisreich und lesenswert aufbereitet.

In Elke Kleinaus Beitrag wird der Blick auf weitere Protagonistinnen im Kampf um die Mädchenbildung ausgeweitet: Neben den Schriften der Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lange und Gertrud Bäumer, beschäftigt sich die Verfasserin auch mit den bildungspolitischen Reden von Clara Zetkin, einer Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung. Kleinau reißt zwar auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Positionen an. Im Zentrum steht jedoch die Frage nach wichtigen Beiträgen dieser Frauen für die Reformpädagogik, die allerdings etwa von Nohl, Kerschensteiner, Spranger stets aus ihren Darstellungen der Reformpädagogik ausgeschlossen wurden. Bei allen drei Protagonistinnen finden sich sowohl theoretische als auch schulpraktische Anstöße für eine Schulreform. Jürgen Oelkers Kritik an den älteren Forschungen zur Reformpädagogik, die er als Versuch betitelte, durch entschiedene Ausblendungen den Korpus des Personals geschlossen zu halten, erhält durch die Ausführungen Elkes Kleinaus eine aktuelle Brisanz.

Mit einer anderen brisanten Frage beschäftigt sich auch Frauke Stübig. Sie analysiert die Reichsschulkonferenz von 1920 auf Erträge für und Debatten um die Mädchenbildung. Diese stand nicht eigens auf der Agenda und es wurde auch kein eigener Ausschuss einberufen. Fragen zur Bildung und Ausbildung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung wurden schon damals lediglich in verschiedenen Ausschüssen mitdiskutiert. Eine umfassende und fundierte Diskussion wurde auf diesem Wege verhindert. Im zur Konferenz herausgegebenen Buch erschien immerhin ein Artikel von Mathilde Drees zum Mädchenschulwesen. Stübig liefert einen fundierten Beitrag, der die Reichsschulkonferenz in einem anderen Licht erscheinen lässt als dies in vielen Veröffentlichungen der Grundschulforschung etwa geschieht.

Heikel ist die Angelegenheit, der sich Ulrike Manz gewidmet hat: Sie stellt die Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung zum Thema ‚Eugenik und Bildung’ dar. Es gab hier keine einheitliche Haltung bei den Frauen, die sich zu dieser Thematik geäußert haben. Gertrud Bäumer etwa sprach sich für mehr Qualität der Bildung durch Eugenik aus, lehnte aber die Gleichsetzung von höheren Schichten und hoher Bildungsqualität ab, wie dies etwa Kara von Borries annahm. Einer Kategorisierung in ‚höherwertig’ (und ‚minderwertig’), wie sie in der Eugenik vorgeschlagen wurde, folgten Vertreterinnen der Frauenbewegung. Manz kann zeigen, dass diese Haltung, die sie als so genannte „positive Eugenik“ (S. 90) bezeichnet, politisch-weltanschaulich von breiten Kreisen vertreten wurde (neben Anhängerinnen der Frauenbewegung etwa auch von Verfechter/innen der Reformpädagogik oder sozialistischer Bewegungen). Durch das Nachzeichnen widersprüchlicher und ambivalenter Haltungen zu der Frage Eugenik und Bildung verbieten sich ihrer Ansicht nach allerdings einfache Zuschreibungen.

Im nächsten Beitrag verlassen wir das Deutsche Reich und blicken auf die Entwicklung der akademischen Frauenbildung in der (heutigen) Ukraine. Kateryna Kabschenko beleuchtet die Einrichtungen dieses Teils des Russischen Reiches, die an der akademischen Ausbildung für Frauen beteiligt waren. Sie zeichnet den Einsatz der Frauen selbst, die Unterstützung durch die Professoren der damals existierenden Frauenkurse sowie durch Teile der Öffentlichkeit nach. Bereits 1918 wurde in der gerade gegründeten Sowjetunion flächendeckend die Koedukation eingeführt. Das führte 1920 dazu, dass auch die Höheren Frauenkurse in Kiew etwa, um die vorher jahrzehntelang gekämpft wurde, geschlossen wurden. Diese Entwicklung wurde nicht von allen Ukrainer/innen begrüßt.

Ebenfalls in einem europäischen Nachbarland, in der Schweiz, spielt sich die Geschichte der Wahl der ersten Rektorin einer Höheren Töchterschule im Jahre 1946 ab. Karin Manz rekonstruiert die Umstände und Auswirkungen der Wahl von Dr. Hedwig Strehler. Beeindruckend ist hier zweierlei. Erstens: Damals wie heute sind Frauen in Führungspositionen im Schweizer Bildungswesen eine große Ausnahme. Zweitens: Durch den Einbezug persönlicher Berichte der Rektorin, die sie der Nachwelt hinterlassen hat, wird das Politische der Wahl mit dem persönlich-biographischen Einsatz, den „Fräulein Rektor Strehler“ (S. 124) erbringen musste, konfrontiert.

Mit Dania Dittgen gehen wir noch etwas weiter in die 1950er-Jahre, diesmal nach West-Berlin. Die Autorin beleuchtet die hier schon sehr früh einsetzende Koedukationsdebatte. Eindrucksvoll wird in dem Beitrag heraus gearbeitet, dass die Argumente der Befürworter/innen und Gegner/innen vor dem Hintergrund des speziellen historischen Kontextes entfaltet werden. Während 1947 die damalige SPD-, LDP- und SED- Regierung im noch ungeteilten Berlin ein Gesetz zu Einheitsschule und Koedukation erließ, sah die anvisierte Bildungspolitik nach der Teilung Berlins und der neuen Mehrheit von CDU und FDP ganz anders aus. Bemerkenswert ist, dass trotz dieses politischen Mehrheitenwechsels eine große Gruppe unter den Diskutierenden für die Koedukation war und dass es vielen Eltern, nachdem ihre Kinder einige Jahre gemeinsam unterrichtet worden waren, gleichgültig war, ob sie koedukativ oder getrennt unterrichtet würden.

Die Doppelnummer der Ariadne zur Preußischen Mädchenschulreform und weiterer Frauengeschichten liest sich größtenteils als interessanter Beitrag zur historischen Geschlechterforschung. Der Band ist vor allem dort aussagekräftig, wo die inhaltlichen Auseinandersetzungen zu Mädchenbildung und Frauenstudium nachgezeichnet werden. Er liefert eine Fülle von anregenden Dokumenten, Bildern und Analysen. Einige Beiträge, die im Rahmen der Rezension nicht näher vorgestellt wurden, sind allerdings etwas langatmig geschrieben. Hier geht es sehr detailliert um das Nachverfolgen einzelner Beschlüsse und Daten oder es fehlt eine dezidierte Fragestellung. Die besprochenen Artikel verfolgen allerdings alle eine konkrete Problemstellung und weisen zudem einen geradezu packend dargestellten historischen Kontextbezug auf. Auch das Hinzuziehen vielfältiger Quellen und Beleuchten ambivalenter Debatten, wie es viele der beteiligten Autor/innen leisten, zeugt für die gut lesbare und hohe Qualität der Sonderausgabe.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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