M. Leimgruber: Solidarity without the State?

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Titel
Solidarity Without the State?. Business and the Shaping of the Swiss Welfare State, 1890-2000


Autor(en)
Leimgruber, Matthieu
Erschienen
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 50,39
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gisela Hürlimann, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

„Brav gewühlt, alter Maulwurf“, möchte man mit Karl Marx ausrufen – und das nicht bloß, weil in Matthieu Leimgrubers Dissertation zum Aufbau der modernen schweizerischen Altersversicherung die inhaltliche Verbundenheit mit der vor allem in Lausanne und teilweise Basel präsenten marxistisch geprägten Wirtschafts- und Sozialgeschichte deutlich wird. Sondern vor allem auch, weil Leimgruber in den Archiven des „Big Business“ gewühlt und einige hübsche Schätze geborgen hat. „Solidarity without the State“ – der eingängige Buchtitel enthält bereits die zentrale These: Zulange hat die Forschung sich auf den Staat als zentralem Akteur in der Sozialpolitik konzentriert. Dabei gilt es, den „versteckten“, weil von privaten wie genossenschaftlichen Interessen und Akteuren geprägten „Wohlfahrtsstaat“ aufzudecken und so der „century long collaboration, struggle and competition between state and private provision“ (S. 288) auf die Spur zu kommen. Im Schweizer Sozialstaat konnten sich bei der Ausgestaltung der Altersvorsorge die Interessen von Versicherungswirtschaft, Banken und Industrie durchsetzen. Und zwar ohne allzu viel Kompromisse an Linke und Gewerkschaften. So könnte, etwas zugespitzt, das Fazit von Leimgrubers Forschung lauten. Die These mag nicht gänzlich neu sein. Innovativ ist aber, wie der heute in Genf lehrende Historiker sie an die interdisziplinäre und internationale Wohlfahrtsstaats-Forschung (im Folgenden: WFS) anbindet. Das hat vor ihm aus historischer Warte eigentlich erst Brigitte Studer getan, die unter Verwendung von Gøsta Esping-Andersens Kategorien des Wohlfahrtskapitalismus 1 vorschlug, die Schweiz als Kompromissmodell eines liberal, wie konservativ und sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsregimes zu betrachten.2 In seiner ausführlichen Einleitung referiert Leimgruber eine ganze Reihe von WFS-Forscher/innen, an deren Theorien und Thesen er sich im Folgenden orientieren will: Sei dies etwa das Konzept des „geteilten“ (Jacob Hacker) oder des „verborgenen“ (Christopher Howard) Wohlfahrtsstaats, sei dies die Aufmerksamkeit für Risiko-Verteilung und soziale Kontrolle (Isabela Mares) oder die Rolle von Arbeit und Kapital in der Ausformung des Sozialstaats (Peter Swenson). Von Swenson übernimmt Leimgruber auch die Gegenüberstellung des „solidaristischen“, weil umfassenden schwedischen WFS-Modells und des „segmentalistischen“, weil auf Teillösungen und Komplementarität sowie Subsidiarität angelegten US-Modells. Aus einer akteurszentrierten und vom politikwissenschaftlichen Power-Resources-Ansatz inspirierten Perspektive untersucht Leimgruber die Verhandlungsmacht verschiedener Akteursgruppen – vor allem der Versicherungswirtschaft und der Wirtschaftsverbände, aber auch der Gewerkschaften – bei der Etablierung von privater, beruflicher und staatlicher Altersvorsorge zwischen dem späten 19. Jahrhundert und den 1970er-Jahren. Als schillernd erweist sich dabei der Begriff „gray capital“ – Alterskapital, aber auch auf einem „grauen“ Markt angelegtes Kapital –, den der Autor von Robin Blackburn übernimmt. Aufgrund der vergleichsweise großen quantitativen Bedeutung von Pensionskassenfonds und Vorsorgesparen im schweizerischen Kapitalmarkt eröffnet sich hier denn auch eine Forschungspiste, die unbedingt weiter verfolgt werden sollte.

Auf diese theoretisch satt unterfütterte Einleitung folgt ein im attraktiven angelsächsischen Wissenschaftsstil prägnant verfasstes Stück schweizerischer Sozial- und Politikgeschichte in vier Akten, auf welche Epilog und Anhang folgen. Mit „The dress rehearsal for pension politics (1890-1914)“ ist in Kapitel 1 die Leidensgeschichte der Kranken- und Unfallversicherung gemeint, an welcher sich alle späteren Peripetien und Charakteristiken der Altersvorsorge ablesen lassen, nämlich die Fragmentierung der geplanten Sozialleistungen gemäß dem „segmentalistischen“ Modell, die föderalistische Opposition und die Referendumsfreudigkeit gegenüber dem Aufbau eines (zentralen) Sozialstaats. Kapitel 2, „Laying the foundations of a divided pension system (1914-1938)“ nimmt Hackers These für die USA vom geteilten Wohlfahrtsstaat auf. Darin zeigt Leimgruber, wie sowohl industrielle und gewerbliche Interessen an privaten Altersvorsorgelösungen wie auch der traditionelle „Mutualismus“ der Arbeiterschaft und deren „korporativer Sozialaktivismus“ – illustriert am Beispiel der Metall- und Uhrenarbeitergewerkschaft SMUV – 1931 zur Ablehnung der ersten Vorlage für eine staatliche Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) führte und, in Kombination mit Steuererleichterungen, die Ausweitung von betrieblichen Pensionskassen und Lebensversicherungsabschlüssen förderte. Bereits in dieser Phase zeichnete sich ein Muster ab, das ab den 1930er-Jahren für den Aufbau einer dreigliedrigen Schweizer Altersvorsorge prägend werden sollte: die enge Begleitung des AHV-Konzipierungs- und Legiferierungsprozesses durch die Versicherungsbranche. Als Fallbeispiel dient Leimgruber das Schicksal der baselstädtischen Altersfürsorge. Das Lobbying von Basler Industrie und Versicherungen gegen einen zu großen staatlichen Einfluss spurte das spätere Vorgehen auf nationaler Ebene vor. Damit waren die Weichen für die weitere Entwicklung eines „geteilten“ Systems der Altersvorsorge – privat und staatlich – gestellt. Den Vergleich mit den USA führt Leimgruber hauptsächlich durch, um argumentieren zu können, dass in beiden Ländern die Interessen des „Big Business“ ausschlaggebend waren für das Ausmaß, in welchem staatliche Regulierung und Vorgaben bei der Altersvorsorge eingeführt wurden.

Sein Flair für sprechende Titel beweist Leimgruber auch in Kapitel 3: „No monster like the Beveridge Plan“, einem ins Englische übertragenen Zitat des freisinnigen Bundesrats Walther Stampfli aus der parlamentarischen AHV-Debatte von 1943. In diesem Abschnitt zum „wartime breakthrough of social insurance (1938-1948)“ stellt Leimgruber schwergewichtig auf den Forschungsstand ab. Allerdings erweitert er diesen um die international-komparative Perspektive, indem er das wohlfahrtsstaatliche Regime mit der endlich 1947 eingeführten staatlichen AHV zwischen Grossbritannien (Beveridge-Plan) und den USA (betriebliche Vorsorgepläne) situiert. Vor allem aber beleuchtet der Autor konsequent die Wirtschaftsinteressen, die an der AHV-Frage auseinander zu driften drohten, als eine Minderheit aus Privatbankiers und Textilindustriellen das Referendum gegen das äußerst populäre Ansinnen einer AHV ergriff. Dass die wirtschaftlichen Spitzenverbände (Arbeitgeberverband, Vorort) dem Projekt des Bundesrates die Stange hielten, schreibt Leimgruber dem geschickten Lobbying von Stampfli zu, der nach seinem AHV-Erfolg denn auch prompt dorthin zurückkehrte, woher er kam: nämlich an die Seite „des Kapitals“, wie schon Georg Hafner in seiner Stampfli-Biografie von 1986 vermerkt hatte. An dieser Stelle ist zu vermerken, dass Leimgruber eine akteurszentrierte epistemische und narrative Strategie verfolgt, indem er die Rollen von Walther Stampfli – der beim Technologiekonzern Von Roll für die betriebliche Vorsorge zuständig war und von dort in den Bundesrat wechselte –, Peter Binswanger – der das Bundesamt für Sozialversicherungen für eine Kaderfunktion in der privaten Versicherungswirtschaft verließ – und Hans Peter Tschudi – als bundesrätlicher Vollstrecker der von Stampfli eingefädelten AHV ein Vertreter der durch die „Zauberformel“ in den bürgerlichen Staat integrierten Sozialdemokratie – bei der Gestaltung von AHV und obligatorischer beruflicher Vorsorge ausleuchtet. Das erweist sich als kluger Schachzug, weil dadurch die personellen Verbindungen zwischen (Versicherungs-)Wirtschaft und Bundesverwaltung überaus anschaulich werden.

Mit der Wendung „containment of social insurance“ rekurriert Leimgruber im Kapitel 4 zum Durchbruch der Drei-Säulen-Doktrin (1948-1972) sowohl auf eine Terminologie aus der Kriegsführung wie auch auf Isabela Mares’ doppeltes Konzept von Risiko-Pooling und sozialer Kontrolle mittels Sozialversicherungen. Konsequent verfolgt Leimgruber in diesem zentralen Kapitel seiner Forschung, das auch die meisten Recherche- und interpretatorischen Eigenleistungen enthält, die These vom zwischen Wirtschaft und Staat „(auf-)geteilten“ Wohlfahrtsstaat und der Schweiz als Beispiel für eine bis in die späten 1960er-Jahre segmentalistisch orientierte Sozialstaatspolitik. So erstaunt es denn nicht, dass er Wilbur Cohen, Berater des US-Social Security Board, anführt, der 1950 die Metapher einer dreischichtigen Torte benutzte für das Zusammenspiel aus staatlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge. Ähnlich argumentierten bürgerliche und Versicherungsakteure in der Schweiz, um die in den 1960er-Jahren immer drängenderen Wünsche nach einem Ausbau der anfänglich sehr bescheidenen staatlichen Altersrenten im Zaum zu halten. Zum Schlüsselereignis wurde die 6. AHV-Revision von 1963, durch welche die Renten um ein Drittel erhöht wurden. Im Gegenzug verankerten die bürgerlichen Akteure unter Leitung von Binswanger den bereits im Zweiten Weltkrieg von Stampfli geäußerten Grundsatz von den „drei Säulen der Altersvorsorge“ als typisch „schweizerische Lösung“. Diese galt insbesondere auch als Bollwerk gegen kommunistische Versuchungen wie etwa die Volksinitiative für eine Volkspension, die 1968 von der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) lanciert worden war und mit welcher die betriebliche und private Altersvorsorge überflüssig geworden wäre. Minutiös zeichnet Leimgruber nach, wie die bürgerliche Mitte und die gemäßigte Linke mit Bundesrat Tschudi an der Spitze sich auf das Dreisäulenprinzip einschworen und sowohl Abbauvorschläge von rechts wie substanzielle Ausbauforderungen von links in einer eigentlichen sozialen Schließung abblockten, die durch die Interessen von Wirtschaft und Versicherungsgesellschaften geprägt war.

Wohldosiert unterfüttert Leimgruber seine Thesen mit statistischen Angaben zum Versicherungsgrad der Erwerbsbevölkerung (privater und öffentlicher Sektor, Männer und Frauen) sowie zur Bedeutung von Vorsorgegeldern als Anlageform auf dem Kapitalmarkt. Sehr schön zeigt der Autor, wie die Verankerung des Dreisäulenprinzips in der schweizerischen Bundesverfassung 1972 und das in der Folge eingeführte Gesetz der obligatorischen beruflichen Vorsorge (BVG) als zweiter Säule der Altersvorsorge den Interessen von Versicherungswirtschaft, Banken und privatem Immobilienmarkt entsprach. Alles verloren aus linker und „solidaristischer“ Sicht? So düster ist Leimgrubers Fazit nicht. Denn ohne die PdA-Initiative hätte es die Forderung nach einer obligatorischen zweiten Säule und damit nach einem besseren, wenn auch „geteilten“, Versicherungsschutz zweifellos schwer gehabt.

Im Epilog führt der Autor seine Narration bis in die jüngste Zeit (1972-2006) weiter und damit auch wieder an den Ausgangspunkt der Einleitung zurück, wobei er dezidiert Stellung bezieht gegen Abbautendenzen bei den staatlichen Sozialleistungen (aktuelle AHV- und BVG-Revisionen). Matthieu Leimgruber ist mit seiner auf Englisch im renommierten Verlag Cambridge University Press erschienen Dissertation ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Schweizer Sozialstaats gelungen, die selbstredend auch auf wichtigen Vorgängerwerken (etwa vom Basler Sozial- und Wirtschaftshistoriker Bernard Degen) aufbaut. Durch die starke Orientierung an der vorwiegend politikwissenschaftlichen Welfare-Regime-Forschung und durch sein komparatives Vorgehen gelingt es dem Verfasser jedoch, die hiesige Sozialstaats-Historiographie stärker in der internationalen Forschungsdebatte zu verorten. Fast nebenbei leistet Leimgruber zudem auch einen Beitrag zu einer Geschichte der schweizerischen Fiskalpolitik im 20. Jahrhundert. Den (fast) einzigen Wermutstropfen stellt das fehlende Verzeichnis der benutzten Forschungsliteratur – einzig die Archivquellen werden im Anhang aufgeführt – dar, die in den Fußnoten zusammengesucht werden oder beim Autor bestellt werden muss.

Anmerkungen:
1 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.
2 Brigitte Studer, Soziale Sicherheit für alle? Das Projekt Sozialstaat, in: Brigitte Studer (Hrsg.), Etappen des Bundesstaates. Staats- und Nationsbildung in der Schweiz 1848-1998, Zürich 1998, S. 159-186.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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