Cover
Titel
The Pursuit of Pleasurable Work. Craftwork in Twenty-first Century England


Autor(en)
Marchand, Trevor H.J.
Reihe
New Anthropologies of Europe (4)
Erschienen
New York 2021: Berghahn Books
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
£ 132.00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Regina F. Bendix, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen

Der Sozialanthropologe Trevor Marchand hat bereits verschiedene Werke zum Handwerk unter dem Gesichtspunkt von Wissen, Ästhetik und kultureller Ausprägung verfasst, insbesondere zum Lehmbau sowohl im Jemen als auch in Mali. Das hier vorgelegte Werk konzentriert sich auf das Handwerken mit Holz und bietet ein Komplement verschiedener, aber gut vereinbarer Ziele: Es ist eine eingängige und äußerst klar verfasste Ethnographie zum Lehren und Erlernen der Möbelschreinerei; es verbindet einen Blick auf die gegenwärtige Situierung eines Nischenhandwerks mit dessen Wachstum und Institutionalisierung in der Geschichte Londons ebenso wie in der Geschichte britischer Bildungs-Policy; es bietet einen Beitrag zur Wissensanthropologie und ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Auflösen der Grenzen zwischen prestigeträchtigem „Buchlernen“ und andern Formen des Wissens im staatlichen Bildungswesen. Im Epilog verdichtet sich dies zu folgender Aussage: „Defusing the dichotomy and dismantling the hierarchy between mind and body need not diminish the importance of ‚book-smarts‘; rather a level playing field hinges on raising the profile of skill-based knowledge and suturing the plurality of intelligences into a pioneering curriculum of learning activities.“ (S. 348) Die Option, in der Ausbildung einen Weg zu suchen, der zu „genussvoller Arbeit“ führt, sollte jedem offenstehen, impliziert Marchands Credo.

Diese Zielrichtung verdeutlicht, dass Marchand hier nicht in nostalgischer Manier schwindenden Möglichkeiten des Handwerkens in industrialisierten und postindustrialisierten Zeiten nachträumt. Stattdessen referiert er den Utopisten William Morris mit Blick auf dessen Konzept von Handwerk „as both practice and social ideology“ (S. 2) und seinen Einfluss auf Handwerk als ein von Klassen losgelöstes Lern- und Arbeitsfeld. Zwei Kapitel gründen auf historischer Quellenarbeit. Marchand erzählt hier die Genese der „Carpenter’s Company“ (vergleichbar zu einer Gilde) im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen London sowie die Ausgestaltung und Reglementierung des Lehrverhältnisses. Danach wird der Aufbau des „Building Crafts Colleges“ – die Ausbildungsstätte für Baugewerke – seit der Elisabethanischen Zeit geschildert, auch hier immer mit Blick darauf, wie Lehren und Lernen von Handwerk verankert und im Lauf der Zeit institutionalisiert wurden. In den darauf folgenden ethnographisch fundierten Kapiteln bleiben institutionelle Konturen und Curricula im Blick, der Fokus richtet sich nun aber auf eine Kohorte aspirierender Möbelschreiner:innen, die gemeinsam mit Marchand eine Ausbildung am Building Crafts College aufnehmen. Wiewohl alle über Marchands ethnographisches Vorhaben informiert sind, wird er als Auszubildender behandelt und korrigiert, was für eine Ethnographie handwerklichen Wissens- und Könnenserwerbs wesentlich ist. Gleichzeitig flicht er Erfahrungen des sozialen Miteinanders mit ein, etwa im Pub, wo das Klassen- und Diversitätsdurchbrechende der gemeinsamen Handwerksaspiration greifbar wird.

Parallel zur autoethnographischen Erfassung seines eigenen Weges durch die Ausbildung als Kunstschreiner bietet Marchand detaillierte Beschreibungen der Lehrkräfte und der Auszubildenden, die aus sehr unterschiedlichen Motivationen dabei sind: Schulabbrecher arbeiten neben Berufsumsteiger:innen, die Altersunterschiede sind erheblich. Manche arbeiten daneben bereits auf Baustellen mit den eher grundständigen, bereits erworbenen Kenntnisse im Zimmern, manche nehmen nur einen Teil der Ausbildung mit. Marchands enge beobachtende Teilnahme kombiniert mit Interviews und vielen informellen Gesprächen fließt in die Darstellung der Lehr- und Lernschritte ein. Sukzessive wird das „Wissen in Händen“ erweitert und verinnerlicht – von der Materialität und Eignung verschiedener Hölzer über die Handhabung von Werkzeugen erarbeiten sich die Teilnehmenden Kenntnisse, die als Abschluss in ein selbst entworfenes und gezimmertes Möbelstück münden. Ganz im Sinne einer Ethnographie der Vielfalt des Wissenserwerbs wird etwa nachgezeichnet, wie der jüngste Auszubildende realisiert, dass er selbst am besten lernt und seine Handgriffe optimiert, wenn er sich zu anderen gesellt, sie unterstützt, über den Arbeitsvorgang spricht und sich dabei Abläufe einprägt. Ebenso wird deutlich, wie Auszubildende je nach Veranlagungen Aufgabenstellungen anders auffassen oder andere Lernblockaden konfrontieren und wie Lehrkräfte sich ergänzen in der Einschätzung, Anleitung und Begleitung der handwerklichen wie sozialen Disposition der Lehrlinge.

Für Marchand selbst war sein Forschungsprojekt in der Möbelschreinerei ein Schritt in Richtung eines genussvolleren Lebens aus dem Hamsterrad der neoliberalen Universität heraus, in seinem Fall der School of Asian and Oriental Studies in London. Er ließ sich lange vor Ruhestandsalter emeritieren, um in Tätigkeitsfelder einzutreten, die mehr Vielfalt in der Realisierung von ihm selbst als wesentlich erachteter eigener und gesellschaftlicher Ziele und mehr Selbstbestimmung bieten, was ihm inzwischen auch gelungen ist. Und wenn es nicht klappt, meinte er in einer E-Mail-Kommunikation, „kann ich immer noch aufs Möbelschreinern zurückfallen“. Dass „pleasurable work“ nicht identisch ist mit „einfach“ oder „mühelos“, illustriert die Studie vollumfänglich, insbesondere im Kapitel 9, wo Marchand die Motivation und den Weg von vier seiner Mit-Auszubildenden vorstellt. Vordergründig ist bei allen das Ziel, eine genussvolle Arbeitsweise zu finden und dabei nicht nur ein Handwerk zu meistern, sondern es auch so ins Leben einzubinden, dass dieses genussvoll bleibt. Das letzte Kapitel erkundet genau diese Nachhaltigkeit in Gesprächen mit alternden Handerkern, geleitet von der Frage, wie Handwerkskönnen sich in seiner steten Erweiterung erhält. Die Suche nach „pleasurable work“ wird nicht jeden zur nach Maß gearbeiteten Möbelschreinerei führen. Aber im Idealfall wird sie, und hierzu will Marchand mit Vehemenz anregen, Erfahrungen akkumulieren und zur Gewissheit führen, welche Formen des ganzheitlichen Lernens und Wissens einem besonders liegen und welche Art des Schaffens einem ein Maß der Genugtuung bereiten. Marchand betrachtet sein Buch als ein Manifest dafür, Handwerkskönnen einen höheren gesellschaftlichen Status zu verleihen und, breiter gefasst, das Lernen mit Händen im schulischen Curriculum wieder breit zu integrieren, um Kindern und Jugendlichen die Verbindung von Körper und Geist in der Wissensentfaltung offen zu halten.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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