Emotionen sind aus der antiken Emotionsforschung nicht mehr wegzudenken. Das zeigen nicht nur die Grundlagenwerke der 2010er-Jahre wie Angelos Chaniotis’ dreibändiges Werk der Unveiling Emotions1 oder Cairns Studien2, sondern auch David Konstans aktueller Tagungsband. Nach einer jahrelangen, fast jahrzehntelangen Beschäftigung mit Emotionen bei den Griechen3 erweiterte Konstan seinen Blick auf die antike Emotionsgeschichte auf den asiatischen Raum. Der zu besprechende Band ging aus einem Workshop in Shangai vom 17.–18. Oktober 2019 mit dem Titel „Emotions between China and Greece“ sowie aus einem weiteren Workshop „Emotions across Cultures. Classical Greek and Arabic” in Abu Dhabi vom 25.– 26. Februar 2015 hervor und vereint zahlreiche Beiträge dieser beiden Workshops. Das Werk umfasst die Bedeutung von Emotionen, wie etwa Hoffnung (elpis), in griechischen Schriften und Tragödien sowie im frühen Indien wie China, wobei auch geschlechterspezifische Emotionen berücksichtigt werden. Ziel des Bandes ist es, die Emotionen der verschiedenen Kulturen historisch zu vergleichen und die Vielfalt der ‚Kategorie‘ Emotion (S. 17) aufzuzeigen, da es inzwischen, wie Konstan selbst behauptet, „widely accepted [sei] that the description of emotions may differ from one culture to another“ (S. 1).
In der Einleitung gibt Konstan einen Einblick in die aktuelle Forschungsdiskussion über Emotionen. Er stellt das Konzept der Basisemotionen nach Paul Ekman in Frage (S. 2), da es auf Universalität und einem eingeschränkten Sprachkonzept beruhe (S. 15) und somit eine kulturelle Ausprägung von Emotionen von vornherein ausschließe. Stattdessen macht er einen Gegenvorschlag, der auf Niko Frijda und Gerrod Parrott zurückreicht. Ihnen zufolge gebe es eine Schnittmenge an Emotionen, die Konstan als Ur-Emotion bezeichnet (S. 2). Eine ähnliche Einteilung in Emotionen und Proto-Emotionen oder Pro-Emotionen finde sich bereits bei den Stoikern und vor allem bei Seneca (principia proludentia adfectibus, De ira 2,2,6), der sich wiederum auf die aristotelische Idee der pathe berufe. Konstan macht dies am Zorn fest. Ferner erläutert er am Beispiel des Zorns, Mitleids und der Furcht den Unterschied zwischen Affekt und Emotion (S. 4–7). Dazu beschränkt er sich nicht auf Aristoteles und Seneca, sondern prüft auch Aussagen Galens, Tertullians, Laktanz’ oder Gregors von Nyssa und geht auf die byzantinische wie chinesische Tradition ein. Außerdem erörtert er den Zusammenhang mit Kognition (S. 8f.), Körper (S. 10), Aktionsbereitschaft (S. 12f.) und Metaphern wie Sprache (S. 13–15). Konstan stellt schließlich fest, dass an den angeführten Beispielen nichts natürlich sei, sondern sie sehr vielseitig konstruiert seien (S. 11). Doch gerade dies mache die Emotionsgeschichte so spannend: „There may well be emotions, or what we would regard as emotions, that appear in the Homeric epics but not in Aristotle, and vice versa” (S. 16).
Der erste Beitrag beschäftigt sich mit Angst (anxiety) und Sorge (worry) in chinesischen Wahrsagungen und medizinischen Abhandlungen. Zhao Lu stellt fest, dass antike Emotionsforschung hauptsächlich sprachbasiert sei, möchte aber noch einen Schritt weiter gehen und fragt danach, wie Menschen Emotionen praktizierten, womit sie das Spektrum zwischen normativen Diskurs und sozialer Praxis am Beispiel von Texten des Konfuzius beleuchtet (S. 19f.). Dazu geht sie zunächst dezidiert auf die Wortbedeutung sowie den normativen chinesischen Diskurs von worry bzw. anxiety (You) ein, um anschließend einen möglichen Unterschied zu der konkreten Wahrnehmung von Menschen im mittelalterlichen China zu konstatieren.
Douglas Cairns untersucht nicht nur, inwiefern das griechische Konzept von elpis als Emotion bei Platon und Aristoteles angesehen wird, sondern auch wie es sich vom heutigen englischen Begriff der Hoffnung (hope) unterscheidet. Dazu geht er systematisch vor: er arbeitet zunächst (1) die englische Bedeutung, dann (2) die griechische und schließlich (3) die Überlappungen von hope und elpis heraus. Cairns kann bereits innerhalb der griechischen Literatur Entwicklungslinien nachweisen. Damit zeigt er die Komplexität des Konzepts von elpis (S. 51) sowie dessen Zusammenspiel mit anderen Emotionen auf. So sei etwa ein affektiver und motivierter Charakter von Hoffnung nur teils in den griechischen Texten erkennbar (S. 51) und bei Aristoteles etwa spiele elpis eine bedeutende Rolle in einer weiten Palette von „affective and desiderative phenomena“, die nur gelegentlich und in bestimmten Kontexten mit hope vergleichbar sei (S. 65).
Michael Nylan und Trenton Wilson skizzieren eine kurze Geschichte der Kühnheit (daring) im frühen China. Es geht darum, am Beispiel der Dokumente der Han-Dynastie herauszuarbeiten, wie Herrscher der sage rule (Herrschaft der Weisen) ihr Wissen (superior knowledge) gegenüber anderen darzustellen und zu präsentieren hatten. So hätten die Herrscher nicht zu behaupten gewagt, etwas zu wissen („did not dare [claim to] know“, S. 75), um damit das allgemeine Wissen und ihre Autorität zu monopolisieren. Denn das würde sie hierarchisch über Andere stellen. Das Ziel der Verfasser ist es über den rhetorischen Gebrauch des Begriffs, einen tieferen Einblick in das emotionale Leben von Mitgliedern der regierenden Elite der frühen Reiche zu erlangen (S. 78). Denn nicht den Mut zu haben, zu monopolisieren (not daring to monopolize) hänge mit einem Konzeptcluster zusammen, das Emotionen und Einstellungen wie Furcht (fear) umfasse (S. 90). Das Konzept von not daring repräsentiere einen gesunden Menschenverstand und Anstand (S. 110).
Randolph Ford räumt mit dem Mythos der Stereotypisierung von den sogenannten Barbaren auf. Ihm zufolge gäbe es nicht das Konzept der zornigen Barbaren, sondern Zorn (anger) unterliege einem Wandel, der sich an ethnographischen Kriterien festmachen lasse. Im 5. Jh. v. Chr. habe Zorn als Marker zwischen Griechen und Barbaren gedient (S. 144; 156), immer vor dem Hintergrund der Aufwertung der Griechen gegenüber den Bewohnern Asiens und Europas (etwa S. 155). Auch identifiziert Ford bei Hippokrates einen Zusammenhang zwischen Zorn und Klima (S. 151f.); er folgert, dass gleichartiges Klima gleichbleibende Emotionen hervorrufe, während mit einem schwankenden Klima schwankende Emotion einhergingen, was sich wiederum auf Sitten und Verhalten und letztlich auf die Politik ausschlage (S. 151; 153). Ford kommt zu dem Schluss, dass der den Barbaren zugeschriebene Zorn auf die Formbarkeit, Fluidität sowie Inkonsistenz der griechisch-römischen politischen Strategien und der kulturellen Selbstdefinition hinweise.
Yang Hua untersucht Hass und Rache in der Quin und Han Dynastie (221 v. Chr.–220 n. Chr.). Hua fordert, menschliche Emotionen in einen historischen Kontext und durch die Perspektive von Politik, Gesellschaft und Ideologie zu betrachten (S. 169) und fragt darauf basierend nach der Entwicklung von feindseligen Emotionen wie Hass oder Zorn, die zu einer Kultur der Rache führten. Hua zeigt auf, dass in der Qin und Han Dynastie Wut und Hass stark verbreitet waren und die Zeit von Unruhen geprägt war, bevor er verschiedene Formen der Rache identifiziert (S. 175) und darlegt, dass das Strafen durch die Lehren des Konfuzius durchaus legitimiert war, was jedoch zu Konflikten zwischen rituellen Handlungen und dem Gesetz geführt habe.
In seinem Beitrag stellt Stavroula Kiritsi Ergebnisse aus seinem Projekt vor. Es galt, ein modernes Publikum zu befragen, welche Emotionen bei ihnen während der Aufführung von antiken Theaterstücken, hier Sophokles' Oedipus, ausgelöst worden sind. Aufgrund der Annahme, dass sich griechische Emotionsbegriffe von englischen Begriffen unterscheiden (S. 193), untersucht Kiritsi, ob Tragödien in ihrer Übersetzung dieselben Emotionen auslösen wie damals. Kiritsi stellt fest, dass moderne Emotionen viel differenzierter seien als in der Antike und in verschiedenen Nuancen auftreten.
John T. Kirby vergleicht in seiner Studie eine weitere Kultur mit der griechischen und der chinesischen, um sich noch mehr von einer monokulturellen Analyse zu entfernen. Deshalb bezieht er die indische Kultur in seine Untersuchung mit ein. Nachdem er ausführlich Platons und Aristoteles’ Emotionskonzept besprochen hat, geht er auf die sanskritische Kultur Indiens am Beispiel der Nāṭyaśāstra (Abhandlung über Theater/Tanz) von Bharatamuni sowie auf das chinesische Werk Liyun (Aufzeichnungen von Riten) aus der frühen konfuzianischen Zeit ein. Bharatamunis Annäherung an Emotionen sowie die chinesischen Abhandlungen seien dem Zugang des Aristoteles zu Emotionen sehr nah, wiesen aber auch Unterschiede auf (S. 255; 271).
Der nächste Beitrag widmet sich einem geschlechterspezifischen Thema. Yiqun Zhou betrachtet Liu Xiangs Lienü zhuan (Überlieferungen von Frauen), ein bedeutender Text für die Frauengeschichte in China (S. 279). Darin untersucht sie die Bedeutung von Geschlecht in der Darstellung und Wahrnehmung von den negativen Emotionen Zorn, Trauer und Scham. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen Geschlecht, Emotionen und sozialen Hierarchien (S. 279). Besonders der Zusammenhang zwischen Macht und Emotionen wird in ihren ausgewählten Texten sehr deutlich beim Zorn, der mit Männlichkeit verbunden sei. Trauer hingegen hänge mit einer devoten Haltung zusammen, die auf Weiblichkeit zurückgeführt werde. Scham hingegen gelte geschlechterunabhängig als positive moralische Emotion.
Curie Virág untersucht anhand Xúnzǐs Ethiktheorie, wie die psychischen und körperlichen Vorgänge des Menschen in die umfassenderen sozialen, politischen und kosmischen Realitäten integriert wurden. Xúnzǐs Konzept erfasse nicht nur Phänomene, die wir heute als Emotion verstehen, sondern auch moralisch psychologische Aspekte und Zustände wie Liebe oder Hass. Virág arbeitet den erweiterten Sinn von Emotionen aus dem Konzept heraus ausgehend vom Zusammenhang mit menschlicher Intelligenz, Kognition und Bewertung, dem sich über Xúnzǐs Bericht über das Praktizieren von Weisheit (practical wisdom) annähern ließe, wobei der Philosoph Emotionen als Objekte der Kontrolle sowie als passiv, formbar und trainierbar auffasse (S. 305f.). Dabei untersucht Virág die Texte vor einem ontologischen, epistemologischen wie ethischen Hintergrund (S. 304), geht zunächst auf die Bedeutung von Ritualen sowie der damit zusammenhängen Maßhaltung (Technê of practical wisdom) ein, um die Emotionen in Xúnzǐs Konzept zu verorten. Sie kommt zu dem Schluss, dass Emotionen mehr seien als mentale Zustände und Körperausdrücke: Alles zusammen sei ein komplexes System.
Obwohl zahlreiche Beispiele aus der chinesischen Kultur angeführt worden sind, sind die Beiträge sehr verständlich, da zu Texten und Begriffen – bis auf die Tabelle von Nylan und Wilson – stets eine englische Übersetzung vorhanden ist. Dabei kritisch zu betrachten ist die Übertragung von Emotionsbegriffen in andere Sprachen, was durchaus auch Thema der einzelnen Beiträge war. Hier ist zu hinterfragen, inwiefern dies nicht auch für eine Übersetzung vom Chinesischen ins Englische gilt; besonders einleuchtend wurde dies an Lus Diskussion über die Bedeutung von You dargelegt. Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von bestimmten Phänomenen in verschiedenen Sprachen zeigt, dass die Autoren es verstanden, moderne Vorstellungen von Emotionen von antiken Ideen zu lösen. Somit wurde deutlich, dass das, was in der Moderne als Emotion bezeichnet wird, nicht zwangsläufig in antiken Kulturen als Emotion angesehen wurde, wie etwa Cairns hinsichtlich elpis und hope oder Virág zeigten. Auch konnte der Argumentation stets gefolgt werden. Besonders strukturiert und nachvollziehbar erschienen die Texte von Douglas Cairns und Yiqun Zhou. Ein wenig über das Ziel hinausgeschossen haben mag der Text von Kirby, wenngleich er spannende Eindrücke in die verschiedenen Kulturen und einen wichtigen Beitrag für die antiken Emotionskonzepte geliefert hat. Ein wenig fragwürdig erscheint die Analyse von Kiritsi, da erstens die Emotionen der antiken Zuschauer lediglich aus normativen Abhandlungen wie von Aristoteles bekannt sind und nicht Befragungen der Menge selbst vorliegen. Zweitens wäre in Frage zu stellen, inwiefern der Ablauf wie die gesamte Performance auf der Bühne die Stimmung der Antike überhaupt spiegeln und somit überhaupt eine gemeinsame Basis geschaffen werden kann.
Trotz des Bezugs auf bereits lang in der Forschung diskutierte Thesen, wie etwa die Frage nach der Universalität bzw. Konstruiertheit von Emotionen4, bietet der Band grundlegend neue Einblicke aufgrund der erweiterten Perspektive auf den asiatischen Raum. Er konnte über die Kulturen hinweg die Bandbreite und Vielfalt von Emotionen aufzeigen und beweisen, dass sie keineswegs statisch sind. Damit kann das Werk neben dem im selben Jahr von Douglas Cairns erschienenen Sammelband „Emotions through Time“5 als neues Standardwerk für die Emotionsgeschichte gelten und weitere Forschungsperspektiven eröffnen, „a springboard to further research and analysis“, wie Konstan es nennt (S. 17).
Anmerkungen:
1 Angelos Chaniotis (Hrsg.), Unveiling Emotions I. Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World, Stuttgart 2012; Angelos Chaniotis (Hrsg.), Unveiling Emotions II. Emotions in Greece and Rome. Texts, Images, Material Culture, Stuttgart 2013; Angelos Chaniotis (Hrsg.), Unveiling Emotions III. Arousal Display and Performance of Emotions in the Greek World, Stuttgart 2021.
2 Douglas Cairns (Hrsg.), Emotions between Greece and Rome, London 2015; Douglas Cairns (Hrsg.), Emotions in the Classical World. Methods, Approaches, and Directions, Stuttgart 2017.
3 Sein bedeutendstes Werk ist wohl: David Konstan, The Emotions of the Ancient Greeks. Studies in Aristotle and Classical Literature, Toronto 2006.
4 David Konstan, Haben Gefühle eine Geschichte?, in: Martin Harbsmeier / Sebastian Möckel (Hrsg.), Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Frankfurt am Main 2009, S. 27–46.
5 Douglas Cairns (Hrsg.), Emotions through Time. From Antiquity to Byzantium, Tübingen 2022.