Cover
Titel
Jewish Philanthropy and Enlightenment in Late-Tsarist Russia.


Autor(en)
Horowitz, Brian
Reihe
A Samuel and Althea Stroum Book
Erschienen
Anzahl Seiten
x, 342 S.
Preis
$ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Dohrn, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Brian Horowitz (Tulane University, New Orleans) hat die erste Monographie über die „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland“ (Obschtchestwo rasprostranenija prosweschtschenija sredi jewrejew w Rossii, OPE) vorgelegt. Unter der Federführung Baron Jewsel Ginzburgs von Repräsentanten der jüdischen Finanzaristokratie 1863 in St. Petersburg gegründet, war die OPE die erste, über zwei Jahrzehnte die einzige und im gesamten Zeitraum ihres Bestehens die mächtigste moderne Organisation der Juden im Russischen Reich. Unter der Herrschaft der Bolschewiki war die OPE dazu verurteilt, nur noch ein Schattendasein ihrer selbst zu führen. Ende 1929 wurde sie geschlossen.

Die OPE war eine bürgerliche Vereinigung, die, den Ideen der Aufklärung folgend, vorwiegend Bildungsarbeit betrieb und förderte. Wiederholt bot sie jüdischen Aufklärern (Maskilim) ein Betätigungsfeld, die als Avantgarde und Netzwerker für die Verbreitung moderner Bildung wirkten. Maskilim waren über zwei Generationen führende Mitarbeiter der OPE. In der Gesellschaft kooperierten die neuen jüdischen Wirtschafts- und Bildungseliten aufs Engste miteinander. 1 Das Besondere der Gesellschaft war, dass es ihr im Laufe der Geschichte stets gelang, die zunehmenden Konflikte zwischen den divergierenden Gruppen innerhalb der russländischen Juden zu schlichten und sowohl die Befürworter der russischen Akkulturation, die Jiddischisten, als auch die Zionisten zu integrieren. Nur die Orthodoxie hielt Abstand. Horowitz charakterisiert die OPE als eine national-liberale Organisation (S. 5). Sie selbst verstand sich als Interessenvertretung der jüdischen Bevölkerung im Ansiedlungsrayon, die bis zum Ersten Weltkrieg mehr als neunzig Prozent der Juden im Russischen Reich ausmachte. Trotz gleichbleibendem Profil veränderte sich die Gesellschaft im Wandel der Zeiten angesichts neuer Erfordernisse. In den 1860er-Jahren wurde sie von der Regierung als zentrale Organisation der Juden im Reich respektiert und in ihrer Arbeit unterstützt. In wesentlichen Grundsätzen war man sich über die Notwendigkeit und den Weg der Modernisierung der Juden einig. Aber seit dem Abbruch der staatlichen Bildungsreform im Jahre 1873 versagte die Regierung der Gesellschaft ihre Hilfe und behinderte sie stattdessen in den verschiedentlichen Bemühungen, moderne Bildung unter den Juden zu fördern. Auch von Seiten der jüdischen Orthodoxie wurden der OPE immer wieder Hindernisse in den Weg gelegt. Seit 1900 erhielt die Gesellschaft materielle Unterstützung von der „Jewish Colonization Association“ (ICA) in Paris (S. 118).

Horowitz rekonstruiert die Geschichte als offenen Prozess, so dass – wie in den Debatten der „Pahlen Kommission“ über die Gleichstellung der Juden oder den Projekten der OPE zur Ausbildung von Reformrabbinern – die Pluralität der Akteure wie ihrer Konzepte zur Sprache kommt. Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte, die anfangs viel Bekanntes und in den letzten beiden Teilen neue Forschungsergebnisse enthalten. Im ersten Abschnitt geht Horowitz auf die Gründungsgeschichte und die ideologischen Differenzen zwischen der Zentrale in St. Petersburg und der ersten Filiale in Odessa (seit 1866) ein. Indem sie gleich zu Beginn eine Reform der traditionellen jüdischen Grundschule betrieben und somit die jüdische Orthodoxie gegen sich aufbrachten, verfolgten die mittelständischen Vertreter der OPE in Odessa eine radikalere russische Akkulturationspolitik als die Finanzaristokratie in St. Petersburg. Horowitz lässt bedauerlicherweise Alexis Hofmeisters Forschungsergebnisse zur OPE in Odessa gänzlich unberücksichtigt, die das Engagement von Frauen für Mädchenbildung in der ansonsten von Männern bestimmten Vereinigung belegen. 2 Vom Kreis der Akteure stellt der Autor nur die Familie Baron Ginzburgs ausführlich vor. Ansonsten macht er lediglich vereinzelt Angaben zu führenden Mitgliedern wie dem Publizisten Michail Morgulis, der seit 1878 die Gesellschaft in Odessa leitete, dem Orientalisten Awraam Garkawi (Harkavy), der seit 1880 Sekretär der OPE in St. Petersburg war, oder dem Juristen Leonti Bramson, der die Gesellschaft seit den 1890er-Jahren führte. Wichtige Akteure aus der Gruppe der Bildungselite, die Konzept und Arbeit der OPE maßgeblich und zum Teil über einen langen Zeitraum mitbestimmten wie der Physiologe Nikolaj Bakst, der Jurist Jakow Galpern, der Publizist Michail Kulischer, die ehemaligen Lehrer Emmanuil Lewin und Lew Gordon, werden zwar zitiert, aber nicht vorgestellt. Der Pädagoge und Sekretär Uscher Rosenzwejg, der sich für die berufliche Bildung engagierte, wird dagegen nicht einmal erwähnt. Auch bleiben bedeutende Faktoren der Vorgeschichte wie die staatliche Bildungsreform für Juden, in der von Lehrern wie Lewin, Gordon und Rosenzwejg moderne Schulformen und neue Curricula breit erprobt und die ersten russisch-jüdischen Intellektuellen wie Morgulis, Galpern, Bakst sozialisiert worden waren, in ihrer Tragweite unerkannt.

Im zweiten Teil thematisiert Horowitz die Reaktionen der OPE auf die Abkehr der Regierungspolitik von der staatlichen Bildungsreform und auf die ersten großen Pogrome im Mai 1871 in Odessa sowie später, während der Jahre 1881-1885, im Süden des Reiches. Die Gesellschaft förderte weiterhin die verbliebenen staatlichen und privaten jüdischen Schulen, das Bibliotheksnetzwerk im Ansiedlungsrayon, das bereits seit den 1860er-Jahren bestand, sowie Studierende. In der Darstellung der Reaktion der OPE auf die Pogrome fasst Horowitz John D. Kliers (†) letzte Forschungen zusammen, die bereits ausführlich von Yvonne Kleinmann referiert worden sind. Klier hatte die Einschätzung widerlegt, die OPE habe nichts gegen die Pogrome unternommen und als Interessenvertretung der Juden im Ansiedlungsrayon versagt. Vielmehr habe die OPE die Situation realpolitisch zu Verhandlungen mit der Regierung über die allgemein desolate Lage der Juden im Russischen Reich genutzt, wenngleich ihre Anstrengungen wenig erfolgreich gewesen seien. 3

Die letzen beiden Teile stellen die Gesellschaft mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein und erneuertem Profil als jüdische Selbsthilfeorganisation vor. Der Generationswechsel in der OPE um 1890 dynamisierte die Politik. An die Spitze der Gesellschaft traten professionell gebildete Juristen wie Max Winawer und Leonti Bramson, die in der Ära der forcierten russischen Akkulturation sozialisiert worden waren, einiges von den Narodniki gelernt hatten und sich als russisch-jüdische Intelligenzija verstanden. In den 1890er-Jahren entwickelte die OPE ein eigenes Schulkonzept, nach dem im gesamten jüdischen Siedlungsgebiet Grund- und Berufsschulen, private und Gemeindeschulen mit jüdischem und allgemeinbildendem Curriculum gefördert wurden. Vorbildfunktion dafür hatte die Berman-Schule in St. Petersburg, die 1864 mit Hilfe der OPE gegründet und seit Mitte der 1890er-Jahre von der Gesellschaft geleitet wurde (S. 120).

Zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 kam es zu einer tendenziellen Liberalisierung und Dezentralisierung der OPE, und neue Filialen wurden eröffnet. Die nach dem Pogrom 1871 geschlossene Odessaer Gesellschaft war seit 1878 wieder aktiv, und im Jahr 1898 eröffnete die OPE in Riga und 1903 in Kiew eine Dependance. Die Abteilung in Moskau, seit 1894 im Wartestand, wurde erst 1909 legalisiert, und im selben Jahr konnte die OPE in Wilna ihre Tätigkeit aufnehmen. 1910 hatte die OPE 29 Filialen, die meisten davon im Ansiedlungsrayon (S. 196). Darüber hinaus organisierte und finanzierte die OPE seit 1907 ein Lehrerseminar in Grodno. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die von der OPE geförderten Schulen fraglos den ersten Platz in der Rangliste der jüdischen Reformschulen im Russischen Reich erobert. Während des Krieges, als die OPE unter Mithilfe der Flüchtlingsorganisation EKOPO damit betraut war, Vertriebene zu unterstützen und zu unterrichten, verdoppelten sich die Schülerzahlen (S. 223).

Die Hochzeit der OPE lag fraglos zwischen 1905 und 1919. In dieser Zeitspanne gingen aus ihrer Arbeit große Projekte hervor: allen voran die Historisch-Ethnographische Gesellschaft (1907), die von den Historischen Kommissionen in Kiew, Odessa, Moskau und Riga getragen wurde und der russisch-jüdischen Historiographie wesentliche Impulse gab, sowie die Höheren Kurse für Orientalistik (1908) in St. Petersburg als Vorstufe der Jüdischen Universität, die die Gesellschaft 1919 in Petrograd tatsächlich für kurze Zeit ins Leben rief. Ein weiterer Höhepunkt der OPE-Initiativen war die Herausgabe der „Jewrejskaja Enziklopedija“ in 16 Bänden (1907-1913).

Horowitz legt den Schwerpunkt auf die bisher vernachlässigte Spätphase der OPE. Aber auch die ersten Jahrzehnte bedürfen einer Neuinterpretation, die Horowitz nicht geleistet hat. Er erschließt erstmals Quellen aus St. Petersburger und Kiewer Archiven und Bibliotheken, nicht aber aus Archiven in Moskau und Riga. Zudem betrachtet Horowitz die OPE ausschließlich im Kontext der jüdischen Geschichtsschreibung. Eine umfassende kritische Monographie, die die OPE mit allen ihren Filialen in den Kontext der russländischen Geschichte insgesamt stellt und durch den Vergleich mit entsprechenden Interessenvertretungen anderer Sondergruppen oder aber Selbsthilfeorganisationen der Juden in anderen europäischen Imperien den Stellenwert der OPE bemisst, steht noch aus.

Anmerkungen:
1 Verena Dohrn, Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert, Köln 2008, S. 379 f.
2 Alexis Hofmeister, Selbstorganisation und Bürgerlichkeit. Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900, Göttingen 2007, S. 160-166.
3 Yvonne Kleinmann, Neue Orte – neue Menschen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 285-302.

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