A. Meier u.a. (Hrsg.): Islamische Stiftungen

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Titel
Islamische Stiftungen zwischen juristischer Norm und sozialer Praxis.


Herausgeber
Meier, Astrid; Pahlitzsch, Johannes; Reinfandt, Lucian
Reihe
Stiftungsgeschichten 5
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Conermann, Orientalisches Seminar, Universität Bonn

Vor uns liegen die Ergebnisse eines Workshops zum Thema „Islamische Stiftungen (waqf) und ihre soziale Funktionen im Spannungsfeld von Stiftungsrecht und Stiftungspraxis“, der im Dezember 2004 an der Freien Universität Berlin durchgeführt worden ist. Damals trafen sich Expertinnen und Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, um sich mit der islamisch-rechtlichen Institution des waqf aus einer historischen und regionalen Perspektive zu befassen.

Stiftungen, die in der islamischen Welt bis heute ein wichtiges Element religiöser und sozialer Ordnungen darstellen, sind aus der Sicht möglicher transkultureller Vergleiche ein hochinteressantes Thema, da dieses Phänomen auch in Europa bis zur Neuzeit weit verbreitet war. Allerdings steht ein kulturübergreifender komparativer Ansatz (leider!) nicht im Zentrum des Bandes. Für Islamwissenschaftler/innen bieten Stiftungen, die man unter religiösen, rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und karitativ-philanthropischen Blickwinkeln untersuchen kann, einen sehr viel versprechenden Ansatzpunkt für Gesellschaftsstudien. Awqaf übernahmen eine Reihe von wichtigen sozialen Aufgaben. Neben der Armen- und Krankenfürsorge, der Finanzierung eines breiten Spektrums an Bildungseinrichtungen und der Unterstützung von Gilden, Familienverbänden und religiösen Gemeinschaften mag man auch die Verbesserung der Infrastruktur nennen. Vor diesem Hintergrund möchten die Autorinnen und Autoren des hier vorgelegten Sammelbandes neben sozialgeschichtlichen Analysen von Gruppenbildung und sozialer Ungleichheit auch innovative kulturwissenschaftliche Ansätze des Deutens und Verstehens kultureller und religiöser Normen und Praktiken liefern. Dabei stehen diejenigen, die sich mit der vorosmanischen Zeit befassen, vor der schwierigen Aufgabe, Aussagen aus Stiftungsurkunden abzuleiten, die in der Regel nur die Konstruktion eines Idealzustands abbilden und keine Stiftungsgeschichte liefern.

Den Anfang macht Maria Macuch, die in ihrem Beitrag eine idealtypisch geschilderte islamische Stiftung, wie sie sich erst im zweiten und dritten Jahrhundert nach der Hidschra herausgebildet hat, mit der sasanidischen frommen Stiftung vergleicht. Die Ähnlichkeiten sind bemerkenswert: Beide Einrichtungen dienen vornehmlich als Instrument der Versorgung der Familie und als Mittel zur Umgehung des Erbrechts. Daran anknüpfend beschäftigt sich Johannes Pahlitzsch mit dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die islamischen Stiftungen im Nahen Osten herausbildeten. Er zeichnet das Bild eines auch unter islamischer Herrschaft fortbestehenden christlichen Stiftungswesens vor allem im Bereich von Kirchen und Klosterstiftungen. Allerdings kann auch Pahlitzsch nicht mit konkreten Belegen für einen christlichen Einfluss auf die Entstehung des waqfs aufwarten. Aber dennoch mehren sich die Anzeichen eines transkulturellen Kontaktes und Austausches zwischen Muslimen und christlichen Gruppen.

Joseph Schachts Diktum, dass es im Islam keine „juristische Person“ gebe, wird von Doris Behrens-Abouseif mit guten Argumenten angefochten. Sie kann zeigen, dass Stiftungen unter gewissen Aspekten als rechtlich anerkannte und mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattete Körperschaft angesehen werden sollten. Awqaf gleichen zumindest in diesem einen Aspekt daher durchaus kirchlichen Stiftungen (piae causae). Auf die Weiterentwicklung der Finanzierungsinstrumente staatlicher Politik durch Nur ad-Din b. Zangi (reg. 1146-1174) konzentriert sich Stefan Heidemann. Zum einen förderte der Herrscher durch die gezielte Neueinrichtung von Stiftungen die Entwicklung der Städte. Zum anderen erschloss er mit der Umwidmung von Erträgen bereits bestehender awqaf eine neue Einnahmequelle zur Deckung staatlicher Aufgaben. Das 12. Jahrhundert war in Syrien und Nordmesopotamien eine Zeit der Erneuerung und der endgültigen Islamisierung der urbanen Regionen. Ihr Einkommen bezogen die Stiftungen vor allem aus städtischen Immobilien, wobei die Neugründungen ein umfangreiches Bauprogramm und eine Vielzahl von Institutionen finanzierten. „Durch die quantitative Vermehrung der Stiftungen gelang eine effiziente Abschöpfung städtischer wirtschaftlicher Aktivitäten bei gleichzeitig qualitativer Erweiterung des Anwendungsbereiches auf immer mehr öffentliche und semi-öffentliche Aufgaben. Die Erträge der Stiftungen erlaubten die Abschaffung der scharia-rechtlich illegitimen Steuern und Abgaben als die klassische Geldeinnahmequelle des Staates zur Finanzierung seiner Aufgaben oder zumindest ihrer Reduzierung. Mit Positionen im Dienst der Stiftungen gelang auch die Einbindung der tendenziell staatsskeptischen theologischen und juristischen Elite“ (S. 63).

Nachdem Gerhard Wedel am Beispiel der Biographie und Stiftungstätigkeit des Ayyubiden Muzaffar ad-Din Kukburi (1154-1232/3) vorgeführt hat, wie ergiebig eine gezielte Wortfeldanalyse in digitalisierten Textausgaben sein kann, widmet sich Lucian Reinfandt der Analyse einer Stiftungsurkunde des hohen Mamlukenoffiziers as-Sayfi Asad ad-Din Tanibak b. Abd Allah al-Ilyasi und seiner Frau. Reinfandt interpretiert nicht nur die späteren rechtlichen Verfügungen, die sich an den Rändern des Dokumentes finden (unter anderem Klärung der Besitzverhältnisse, Widerrufverzicht, Gerichtsentscheid, Tausch, Übertragung, administrative Änderung, Petition, Inkraftsetzung), sondern legt darüber hinaus eine vorbildliche Edition des schwierigen Textes vor. Mit der Rolle von Stifterinnen befasst sich Renate Jacobi in ihrem Artikel „Frauen im Stiftungswesen der Mamlukenzeit nach as-Sahawis biographischem Lexikon ad-Dau´ al-lami` (9./15. Jahrhundert)“. Frauen hatten das Recht, eigenes Vermögen zu besitzen und zu verwalten. Daher hatten sie immer wieder die Möglichkeit, Stiftungen zu öffentlichem und familiärem Nutzen zu verfügen. Neun Stifterinnen, die Jacobi ausmachen kann, gehören zur Oberschicht.

Mit Christoph Werner wenden wir uns wieder dem iranischen Raum zu. Werner wertet einen umfangreichen Katalog von Stiftungen zugunsten des Schreins von Riza seit dem 16. Jahrhundert aus, der Ende des 19. Jahrhundert von der Stiftungsverwaltung in Mashad zusammengestellt wurde. Es gelingt ihm sehr schön, den langfristigen Wandel der Bereiche nachzuzeichnen, in die die Stifter und Verwalter bevorzugt investierten. Durch verschiedene Mittel wurde versucht, eine höhere Zahl von Pilgern anzuziehen, wobei man gleichzeitig den Beschäftigten ein gutes Arbeitsumfeld zusichern wollte. Erneuter Raum- und Zeitwechsel: Astrid Meier geht der Frage nach, ob es im osmanischen Reich ein Bedürfnis nach zeitlich befristeten Stiftungen gab. Anhand zweier Gerichtsfälle zu Familienstiftungen aus Damaskus, die in den Registern der osmanischen Scharia-Gerichte dokumentiert sind, kann die Verfasserin darlegen, dass gerade die Auflösung einer Stiftung die Konstellationen von Beteiligten und ihre Motivationen offen legt. Islamische Stiftungen gelten bekanntermaßen idealiter bis zum Jüngsten Tag und können, einmal eingerichtet, nicht wieder aufgelöst werden. Aus einem historischen Blickwinkel betrachtet waren viele Stiftungen aber befristet, weil sie einfach aufhörten zu funktionieren, da sie entweder ihr Stiftungsgut oder ihren Stiftungszweck verloren hatten.

Hochinteressant sind die Anmerkungen von Stefan Knost zur „Stadtviertelstiftung in Aleppo von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“. Hier handelt es sich um einen bisher kaum erforschten Stiftungstyp. Die vielen Details der Einnahme- und Ausgabenstruktur erlauben einen tiefen Einblick in das weite Spektrum der munizipalen Aufgaben, die aus der Einrichtung finanziert wurden: Sicherheitsvorkehrungen, Instandhaltungsarbeiten an den Toren, Bezahlung von Wächtern und vieles andere. Man konnte ferner sowohl die Steuern für die Gemeinschaft, die pauschal von dem Stadtviertel zu bezahlen waren, wie auch das obligatorische „Vorratsquorum“ begleichen. Dabei handelt es sich wohl um eine Abgabe, die ursprünglich im Bedarfsfall in Form von Naturalien eingezogen wurde, sich mit der Zeit in eine feste Abgabe verwandelt hatte und nun in ihrem Gegenwert in Geld der städtischen Bevölkerung auferlegt worden war. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Abgaben, die die Hohe Pforte erhob, trieben diese zweite Steuer die Provinzgouverneure zum Unterhalt ihrer Milizen ein. Den Schlusspunkt des Sammelbandes setzt Franz Kogelmann mit einem Ausflug in das 20. Jahrhundert. Hier geht es um das Verhältnis von Staat und Stiftung in Ägypten, Algerien und Marokko unter postkolonialen Vorzeichen. Kogelmann skizziert die Kontexte staatlicher Stiftungspolitik, die dazu führten, dass die Geschichte des Stiftungswesens im 20. Jahrhundert stark von nationalen Besonderheiten geprägt war. Prozesse der Säkularisierung führten zu einer Unterordnung des Religiösen und vormals religiös kontrollierter gesellschaftlicher Bereiche unter politische Zielsetzungen.

Insgesamt zeigt der Band zwei Dinge: Zum einen gibt es im deutschsprachigen Raum eine Reihe wirklich exzellenter Islamwissenschaftler/innen, die sich mit dem islamischen Stiftungswesen in einzelnen Regionen zu bestimmten Epochen bestens auskennen. Allerdings bleibt es bei Einzelstudien – auf eine übergreifende Synthese wird ebenso verzichtet wie auf einen transkulturellen Vergleich. Das ist wirklich sehr bedauerlich, und man kann nur hoffen, dass es gelingt, den Weg aus diesem Dilemma – etwa durch die Bestimmung eines sinnvollen Vergleichsgegenstandes (etwa: Wohltätigkeit, Mäzenatentum, Erinnerungskultur, Herrschaftsausübung etc.) – zu finden.

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