Cover
Titel
Doping für Deutschland. Die "Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin": Geschichte, Ergebnisse und sportpolitische Forderungen


Autor(en)
Paoli, Letizia; Hoppeler, Hans; Mahler, Hellmut; Simon, Perikles; Sörgel, Fritz; Treutlein, Gerhard
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Blanka Koffer, Berlin

Medaillen für München, Öffentlichkeitsarbeit für die Bundesrepublik als ein neues Deutschland, ganz oben dabei sein in der Nationenwertung: Diese seit 1970 geäußerten Erwartungen der Politiker suchten Sportler und Wissenschaftler mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erfüllen, zumal sie auch den eigenen Ambitionen entsprachen. Die Freiburger Sportmediziner Joseph Keul und Armin Klümper waren über drei Jahrzehnte prominent an diesem nationalen Erfolgsprojekt beteiligt. So firmierte die BRD bei den Olympischen Spielen bis 2000 stets auf Platz 4 bis 5 des Medaillenspiegels, nach dem Ende der DDR und der Sowjetunion zeitweise auch auf Platz 3.

Von August 2007 bis März 2016 befassten sich zwei Kommissionen an der Freiburger Universität mit den Praktiken und Netzwerken der beiden Sportmediziner im staatlich geförderten Dopingregime der Bundesrepublik, das bereits von anderen Autoren in seiner Komplexität beschrieben worden ist.1 Freiburg sei das "Epizentrum des Betrugs" gewesen (S. 205), hier habe sich im Jahr 2007 der nach Ansicht der Autoren "größte Dopingskandal der BRD" (S. 24) um das Team Telekom mit den prominenten Radsportlern Bjarne Riis und Jan Ullrich entzündet.

Dieser Skandal war auch Anlass für die Einberufung der genannten Kommissionen, um zunächst ab Juni 2007 die Frage des Dopings im Radsport und anschließend ab Ende 2009 in anderer personeller Besetzung die Freiburger Sportmedizin insgesamt einer Überprüfung zu unterziehen. Die Initiative war offiziell vom Wissenschaftsminister Baden-Württembergs und vom Rektor der Universität ausgegangen. Als Leiter der beiden Kommissionen wurde jedoch kurioserweise kein Angehöriger der Universität oder ein fachlich einschlägiger Wissenschaftler, sondern ein pensionierter Gerichtspräsident aus der Region, Hans-Joachim Schäfer, nominiert (S. 30/31). Letizia Paoli, eine in Belgien tätige Strafrechtlerin mit Expertise zum Thema der italienischen Mafia (S. 13), übernahm anstelle der hierfür eigentlich vorgesehenen Britta Bannenberg, die "ihre Zeit für Nützlicheres verwenden wolle" (S. 204), die Leitung der zweiten, von 2009 bis 2016 tätigen Kommission, deren Mitglieder der Jahre 2015 und 2016 für die vorliegende Publikation verantwortlich zeichnen.

Der vorliegende Titel ist keine klassische wissenschaftliche Veröffentlichung, erhebt aber auch nicht einen solchen Anspruch. Vielmehr wird – in den Worten der Autoren – "der Versuch gemacht, ein zwielichtiges Kapitel der Geschichte der Universität Freiburg zu rekonstruieren und vor dem Vergessen zu bewahren" (S. 233), und dies im doppelten Sinne: Zum einen geht es um die Geschichte der Sportmedizin an der Universität Freiburg, zum anderen um die Geschichte der "Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin" selbst. Damit ermöglicht das Buch auch seltene Einblicke in Strategien und Dynamiken der Vergangenheitsaufarbeitung an einer heute als Exzellenzuniversität geführten Hochschule.

Als Quellen dienen den Autoren Dokumente unterschiedlicher Provenienz: wissenschaftliche Veröffentlichungen und Qualifizierungsarbeiten, die zeitgenössische Berichterstattung in Print, Funk und Fernsehen, Schriftgut in zahlreichen Archiven sowie Interviews mit knapp 100 Zeitzeugen. Die gut 250 Seiten starke Gemeinschaftspublikation, die die sechs Autoren seit 2018 auf Grundlage der Ergebnisse der genannten Kommission verfasst haben, gliedert sich neben Vorwort, Einleitung und Zusammenfassung in vier Hauptkapitel: Zunächst werden Wirken und Ressourcen Keuls und Klümpers in den Feldern (Leistungs-)Sport, Medizin, (Sport-)Wissenschaft und Politik eingebettet. Es folgen eine Analyse des seit Mitte der 1970er-Jahre institutionalisierten wissenschaftlichen Fehlverhaltens im Umfeld der beiden Professoren sowie eine Dokumentation der Reaktionen seitens der zuständigen Universitätsgremien auf entsprechende Hinweise seit 2011. Den Abschluss des Buches bildet ein minutiöser Bericht über die massiven Widerstände, mit denen sich die zweite Kommission bei ihrer Arbeit konfrontiert sah, insbesondere auf Seiten ihres Auftraggebers selbst, des Rektorats der Freiburger Universität.

So sollte zunächst die Person Armin Klümpers ganz aus der Untersuchung ausgeklammert werden, Anfragen wurden "ausweichend, mit monatelanger Verzögerung oder gar nicht beantwortet", Dokumente vorenthalten oder für "verschwunden" erklärt (S. 204–211). Mehrere Treffen mit der Wissenschaftsministerin Baden-Württembergs, Theresia Bauer, waren vonnöten, um die Arbeit voranzutreiben. Ein ganzer, angeblich verschollener Aktenbestand der Universität, die "Keul-Akten", findet sich Jahre später in den Privaträumen der Universitätsjustiziarin Ursula Seehorst (S. 211). Auch die Klaviatur der Massenmedien wussten die etablierten Akteure aufgrund ihrer Positionen im wissenschaftlichen Feld virtuos zu betätigen, sodass sich die Frage stellt, ob das Unternehmen unter einer Leitung in universitärer Eigenregie überhaupt so vorangekommen wäre wie unter der (fachlich wie national) Externen Paoli. Auch dies wäre ein lohnender Gegenstand für Medienwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker, gerade auch vor dem Hintergrund des Verlaufs des umstrittenen Forschungsprojekts "Doping in Deutschland" (2009–2012) mit Teilprojekten in Münster und Berlin.2

Trotz der zahlreichen Hemmnisse kommen die Autoren zu belastbaren Ergebnissen über die zeittypische Interaktion von Akteuren in den Feldern Politik, Sport, Medizin und Wissenschaft. Am konkreten Beispiel der Etablierung und Expansion der Freiburger Sportmedizin seit 1970 lässt sich die Anatomie von Macht in der bundesrepublikanischen Gesellschaft jener Jahre nachvollziehen: Strukturelle Zwänge und verinnerlichte kollektive legitime Werte übersetzten sich in individuelle und institutionelle Ambitionen und die mehr oder weniger ausgeprägte Bereitschaft, Grenzen ethischer und rechtlicher Art zu überschreiten. Paoli et al. argumentieren, Josef Keul und Armin Klümper seien zu erfolgreichen Doyens des Dopings nur dank der entsprechenden Verfügbarmachung von Ressourcen (inklusive einflussreicher Netzwerke selbst im Bereich der juristischen Exekutive) und dank der konstanten Nachfrage nach sportlicher Leistungssteigerung aufgestiegen. Sehr klar herausgearbeitet wird dabei auch die Rolle des ebenfalls 1970 gegründeten Bundesinstituts für Sportwissenschaft, einer bis heute unmittelbar dem Innenministerium zugeordneten Bundeseinrichtung.

Es bieten sich Vergleiche nicht nur mit den Doping-Praktiken der DDR an. Als ein weiteres Beispiel wird kurz ein italienischer Star der internationalen Doping-Branche genannt, Francesco Conconi (S. 15), der das erfolgreiche Zusammenspiel zwischen Universitäten, Politikern, der Sportwelt mit ihren gemeinnützig verfassten Verbänden und umsatzstarken Firmen in der Konsumgüterindustrie sowie dem staatlich wie privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitswesen ebenfalls hervorragend personifiziert.

Insgesamt ein überraschend offenes Buch, das weder Selbstreflexion noch die Benennung konkreter Praktiken und Akteure in Vergangenheit und Gegenwart scheut und dringenden methodischen Fragen zeit- und streitgeschichtlicher Arbeit nicht ausweicht.3 Historiker, die sich für die Entstehung der unmittelbaren Gegenwart gespaltener Gesellschaften interessieren, müssen sich auch zunehmend juristischen Fragen ihrer Arbeit stellen. Sie müssen sich um geeigneten Medien- wie Rechtsbeistand kümmern, sofern sie Akteure und Institutionen mit Einfluss adressieren möchten, selbst wenn dies im Auftrag dieser Institutionen selbst geschieht. Entsprechend gerüstet könnten sich Historiker auch hierzulande vermehrt der Herausforderung des "Nach-Oben-Forschens"4 stellen, wie dies die Autoren der vorliegenden Monographie – Mediziner, Sportwissenschaftler, Juristen und ein LKA-Beamter – wagen, um die gesellschaftliche Diskussion hierzu mit belastbarer Empirie zu unterfüttern.

Anmerkungen:
1 Insbesondere von Brigitte Berendonk, Werner Franke, Giselher Spitzer, Gerhard Treutlein.
2 Zusammenfassend: Giselher Spitzer, Doping in Westdeutschland, in: Doping 2 (2017), S. 88–93. In den Medien wurde über die Unstimmigkeiten ausführlich berichtet, beispielsweise: Robert Kempe, Nur die eine Hälfte. Wenn Anfang November die Ergebnisse des Forschungsprojekts `Doping in Deutschland´ präsentiert werden, wird ein wesentlicher Teil fehlen, in: Deutschlandfunk am 17.10.2012, https://www.deutschlandfunk.de/nur-die-eine-haelfte-100.html (23.09.2022); Michael Reinsch, Angst vor der Debatte, in: FAZ am 02.09.2013, https://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/doping/doping-studie-angst-vor-der-debatte-12556873.html (23.09.2022). Daraus das folgende Zitat des damaligen Innenministers Hans-Peter Friedrich: "Der Bericht war nicht das, was wir in Auftrag gegeben hatten.“
3 So die passende Formulierung von Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003.
4 Im US-amerikanischen Original eleganter ausgedrückt als "Studying Up". Diesen Begriff brachte die Kulturanthropologin Laura Nader 1972 ein für Forschung über diejenigen mit Macht und Verantwortung – "about those who have power and responsibility", vgl. Laura Nader: Up the anthropologist. Perspectives gained from Studying Up, In: Dell Hymes (Hrsg.), Reinventing Anthropology, New York 1972.

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