Mittelgroße Städte sind in den letzten 15 Jahren vermehrt in den Fokus der stadtgeschichtlichen Forschung zum östlichen Europa gerückt. Ansätze wie „emerging cities“ oder „becoming metropolitan“ richteten den Blick gezielt auf jene Städte, die bisher im historiografischen Schatten großer Metropolen wie Wien, Budapest oder Warschau standen.1 Die damit verbundenen Studien stellten die Wechselwirkungen zwischen großen und mittelgroßen Städten auf den Prüfstand und hinterfragten so geläufige Zentrum-Peripherie-Modelle.
Catherine Horel, Forschungsdirektorin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), knüpft mit ihrem Buch an diesen Strang an, indem sie zwölf mittelgroße Städte des Habsburgerreichs zwischen 1880 und 1914 mit Blick auf ihre Multikulturalität untersucht. Mit der Wahl der Städte Brünn (heute Brno), Pozsony (Bratislava), Lemberg (L’viv), Czernowitz (Černivci), Nagyvárad (Oradea), Arad, Temesvár (Timişoara), Szabadka (Subotica), Sarajevo, Zagreb, Fiume (Rijeka) und Triest (Trieste) verfolgt sie zudem das Ziel, das historiografische Ungleichgewicht zwischen cis- und transleithanischen Städten zu verringern.
Das Buch stellt die Gretchenfrage nach dem „trend towards division at the end of the monarchy“ (S. 4) und argumentiert gegen die Lesart, die Monarchie sei aufgrund nationaler Spannungen zum Scheitern verurteilt gewesen. Vielmehr hätten sich nationale Konflikte und gemeinsame Teilhabe abgewechselt. Die Autorin entwickelt dieses Argument in acht Kapiteln, in denen sie durch die Linse der Multikulturalität verschiedene Akteure, Institutionen und Praktiken in den Blick nimmt. Multikulturalität definiert sie dabei als „coexistence of various levels of cultural identification based mainly on language and religion“ (S. 13). Eine Stadt sei dann multikulturell, „when groups gathering along these different affiliations are visible and audible in the landscape” (S. 13). Als Quellen dienen Horel Tageszeitungen, Zeitschriften und weitere zeitgenössische Publikationen, auf Archivquellen verzichtet sie aufgrund der Vielzahl an Fallbeispielen bewusst.
Horel setzt sich im Verlauf des Buchs mit den Bemühungen politischer Aktivist:innen auseinander, nationale Sichtweisen im Alltag zu verankern und lotet die Grenzen dieses Unterfangens aus. Nationalistische Akteure versuchten Sprache, Religion, Kulturleben und öffentlichen Raum in den Städten national zu besetzen (Kapitel 2, 3, 5 und 6) und damit Abgrenzungen zu schaffen. Zu diesem Zweck gründeten sie Zeitungen, Vereine und Parteien (Kapitel 5 und 7) und errichteten Schulen, Theater und Denkmäler (Kapitel 4, 5, 6). Die Konsequenz war die stellenweise Spaltung der urbanen Gesellschaften entlang nationaler Kategorien, die mitunter Auswirkungen auf die Politik in den Herrschaftszentren der Monarchie hatte.
Die Konkurrenz mehrerer nationaler Bewegungen innerhalb einer Stadt führte jedoch in einigen Fällen dazu, dass multikulturelle Begegnungen davon profitierten, so die Verfasserin. In Brünn zum Beispiel führte der Bau einer deutschen zur Errichtung einer tschechischen Schule und umgekehrt. Dieser Wettbewerb trug zur Ausdifferenzierung des Bildungssystems bei. Deutsche Kinder gingen auf tschechische und tschechische Kinder auf deutsche Schulen. Auch die Multikonfessionalität der Städte hatte eine Vielzahl an Bildungsangeboten zur Folge, die zur Diversität der Städte beitrugen, wie Horel am Beispiel von Triest zeigt. Das Narrativ der Multikulturalität wurde teilweise von lokalen wie auswärtigen Akteuren aufgegriffen und unter anderem intensiv zur touristischen Vermarktung genutzt (Kapitel 8).
Vielerorts entzog sich die Bevölkerung demnach immer wieder dem nationalen Diskurs, wie das Beispiel der Schulen verdeutlicht. Dem lag teilweise ein gewisser Pragmatismus im Alltag zugrunde, teilweise auch der Wunsch, die Kinder zweisprachig zu erziehen. Auch fruchtlose Spendenaufrufe in der Presse zeugen davon, dass nationale Sichtweisen nur bis zu einem bestimmten Punkt Einfluss auf das Leben in den Städten hatten. Der Bau von Infrastruktur oder Großveranstaltungen wie Ausstellungen und Besuche der Herrscherfamilie wurden als lokale Errungenschaften gedeutet und trugen laut der Autorin eher zu einem städtischen als nationalen Patriotismus bei, auch wenn nationalistische Akteure sie vereinnahmten (Kapitel 2, 6 und 8).
Horel hat mit dem 556-seitigen Buch ein umfassendes und ausgewogenes Synthesewerk vorgelegt, das die zwölf Stadtgeschichten vereint und in Konversation miteinander bringt. Das Hauptargument ist schlüssig und zieht sich durch jedes der acht Kapitel, dabei kommt es allerdings gelegentlich zu Redundanzen. Die Wahl der Fallbeispiele überzeugt, denn es gelingt Horel, die Städte aus dem cis- und transleithanischen Herrschaftsbereich in eine Erzählung zu integrieren und zugleich mit beeindruckender Kenntnis der jeweiligen Lokalgeschichte die Spezifika herauszuarbeiten. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen veranschaulichen diese Besonderheiten, eine nach Orten gegliederte Bibliografie ermöglicht einen schnellen vertieften Einstieg in individuelle Stadtgeschichten. Dem Stadtleben nähert sie sich aus unterschiedlichen Perspektiven – hervorzuheben ist unter anderem der Fokus auf die Frauenbewegungen in den Städten, auf die muslimischen Bevölkerung Sarajevos sowie auf zahlreiche satirische Quellen. Die Erkenntnisse des Buchs sind in vielerlei Hinsicht auf andere Städte übertragbar.
Auch die Verflechtungen der Städte untereinander lässt Horel schlaglichtartig aufblitzen, insgesamt überwiegen in der Erzählung jedoch die Verbindungen zu den Hauptstädten der Monarchie. Eine systematischere Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den Fallbeispielen wäre wünschenswert gewesen, hat die Forschung der letzten Jahre doch gezeigt, dass die urbanen Eliten vielseitig im Austausch miteinander standen und Städte sich gegenseitig stark beeinflussten.2
Der Ansatz des Multikulturalismus erweist sich insofern als sinnvoll, als dass durch dieses Prisma ein vielfältiges Spektrum des urbanen Lebens erfasst werden kann. Die Anwendung des Konzepts erweckt jedoch stellenweise den Eindruck von statischen, abgrenzbaren Kulturen: „We will try to determine if the citizens, perceiving indeed their city as multicultural, identified themselves with one or more cultures“ (S. 21). Dieses einleitend formulierte Verständnis steht in Kontrast zu dem situativen und fluiden Gruppenverständnis nach Rogers Brubaker, das Horel im Schlussteil des Buches einführt.3 Eine deutlichere Positionierung zur geschichtswissenschaftlichen Debatte um Multikulturalismus im Habsburgerreich hätte mehr Klarheit darüber schaffen können, in welchem theoretischen Zusammenhang Kulturen und Gruppen stehen.4 Nichtdestotrotz öffnet der Ansatz ein vielschichtiges Spannungsfeld, das Dynamiken von Konflikt und Miteinander in den Städten greifbar macht. Das Buch bietet eine umfangreiche und facettenreiche Geschichte der multikulturellen Städte im Habsburgerreich, dies- und jenseits der Leitha. Indem sie es schafft, ein differenziertes Bild des Zusammenlebens in urbanen Räumen zu zeichnen, leistet Horel sowohl zur Stadt- als auch zur Imperialgeschichte einen wichtigen Beitrag.
Anmerkungen:
1 Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher / Oliver Hochadel, Backward and Peripheral? Emerging Cities in Eastern Europe, in: Journal of East Central European Studies 67 (2018), S. 475–484; Nathaniel D. Wood, Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow, DeKalb 2010.
2 Aleksander Łupienko, Urban Knowledge Transfer between the Cities of Warsaw, Krakow, Lviv and Poznan at the Turn of the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 67 (2018), S. 578–600; Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher / Oliver Hochadel (Hrsg.), Interurban Knowledge Exchange in Southern and Eastern Europe, 1870–1950, New York 2021, für H-Soz-Kult besprochen von Hanna Kozinska-Witt, https://www.hsozkult.de/searching/id/reb-94191 (12.12.2023).
3 Rogers Brubaker, Ethnicity without Groups, Cambridge, MA 2004.
4 Johannes Feichtinger / Gary B. Cohen (Hrsg.), Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience, New York 2014, darin insbesondere der Aufsatz von Pieter Judson, Do Multiple Languages Mean a Multicultural Society? Nationalist “Frontiers” in Rural Austria, 1880–1918, S. 61–82.