Der Sammelband, herausgegeben von den Soziolog:innen Daniel Meyer, Julia Reuter und Oliver Berli, stellt Programm und Vorschlag zugleich dar. Es geht um die Stärkung der Ethnografie als Methode in der Hochschulforschung. Bisher dominieren in diesem Bereich statistische Analysen sowie Interviewstudien. Diese legen zwar die Strukturen und Handlungslogiken von Institutionen „höherer Bildung“ erkenntnisreich offen. Doch der Einblick in die Komplexität des gelebten Alltags – in die Routinen und gemachten Erfahrungen auf der „Mikro-Ebene“ – bleibt weitestgehend verwehrt. Es ist der ethnografische Zugriff, so die Herausgeber:innen, der diese entscheidende Komponente zum Verständnis des akademischen Feldes vor die analytische Linse holt.
Der Band ist in seiner konzeptionellen Klarheit und der offerierten Mannigfaltigkeit von empirisch-analytischen Betrachtungen bestechend. Im ersten Abschnitt des Buches, „Positionen und Perspektiven“, wird die Forschungsagenda in mehreren Eckpunkten verdichtet. Meyer, Reuter und Berli stellen dabei das Potential der Ethnografie heraus, Einblicke in die Vielgestaltigkeit von Hochschulen mit ihren verschiedenen sozialen Settings geben zu können. Dem ethnografischen Unterfangen geht es nicht so sehr darum, die Folgen hochschulübergreifender Maßgaben aufzuzeigen, wie dies in der bisherigen Hochschulforschung getan wurde, sondern, so das Argument, darzulegen, wie diese Maßgaben „von unten“ (S. 24) – in Gremien und von den verschiedenen Akteur:innen einer Hochschule – ausgehandelt werden. In diesem Zusammenhang geht Julian Hamann in seinem Beitrag den Gründen für das „Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung“ nach. Insbesondere den Vorbehalt gegenüber der Ethnografie, eine zu große Nähe zum Forschungsgegenstand einzufordern, stellt er überzeugend als die eigentliche methodische Stärke heraus, generiert sie doch eine herausgehobene Selbstreflexivität, bei der die „eigenen blinden Flecke“ in der Forschung sowie die grundlegende gesellschaftliche Situiertheit wissenschaftlicher Betrachtungen hervortreten. Schließlich wird in diesem Abschnitt eine Didaktik der Ethnografie geboten. Sophie Richter und Elisabeth Friebertshäuser zeigen genau auf, wie ethnografische Zugänge in der forschenden Lehre fruchtbar gemacht werden. Das didaktische Potential zeigt sich darin, dass Studierende durch die ethnografische Methode das „universitäre Feld“ befremden und so die eigene Positionalität darin problematisieren.
Mit dieser Konturierung der „Positionen und Perspektiven“ wird im zweiten großen Abschnitt des Bandes mit dem Titel „Ethnografien hochschulischer Settings“ die vorgeschlagene Forschungsagenda zur materialdichten Empfehlung. Die Leserin begibt sich dabei auf die Spuren von Student:innen und Dozent:innen, Dingen und Orten gleichermaßen. Kornelia Engert widmet sich dem Seminar als allgegenwärtiger Veranstaltungsform an Hochschulen. Auf Grundlage von Interviews und dokumentierten Seminardialogen legt sie die Aushandlung von Statusunterschieden zwischen Lehrenden und Studierenden dar und zeigt, wie diese Dynamik das vermittelte Wissen zentral modelliert. Der folgende Artikel verbleibt im Kontext der Lehre. Das AEDiL-Autor:innenkollektiv1 setzt hier mit beeindruckender Verve auf die Autoethnografie. Sie wird konsequent systematisiert und mit dem Plädoyer für eine kollaborative Arbeitsweise verbunden: In der gemeinschaftlichen „Reflexion der eigenen Lehre und der eigenen Lehrpraktiken“ (S. 109), so das Argument, wird die Verschränkung von Struktur und Lehrpersonal nachhaltig bewusst und kann die Blackbox Lehre geöffnet werden.
Tanya Tyagunova wendet in ihrem Beitrag den Blick von den Lehrenden hin zu den Studierenden und betrachtet die „prüfungsbezogenen Internetinteraktionen“ (S. 145) in Facebookgruppen. Anhand von Chatverläufen vollzieht sie nach, wie sich der Onlineaustauch zu Handlungsanweisungen generiert – er also operationalisiert wird. Der universitäre Schauplatz wird ein weiteres Mal gewechselt, indem Katrin Schoof den Lernort „Bibliothek“ in den Fokus holt. Ihre Ausführungen sind vor allem methodisch interessant, fächert sie doch die Ethnografie nochmals auf und thematisiert beispielsweise die Zugangsweise der Videofeedback-Interviews, das cognitive bzw. mental mapping sowie Gespräche, die sich entlang von gezeigten Fotos entfalten. Anschließend führt Daniel Meyer die Leserin in das Vereinsleben Studierender ein. Eingängig portraitiert er das studentische „Organisationsforum Wirtschaftskongress“ in dessen identitätstiftenden – sozialen wie materiellen – Manifestationen und versucht anschließend die ethnografische Zugangsweise einmal mehr zu systematisieren. Im Fortgang des Bandes verschiebt sich der Fokus auf die Forschung und Administration an Hochschulen. Tobias Röhls Betrachtung der Dingwelt von Universitäten bildet gleichsam den Übergang in diesen Themenbereich, legt Röhl doch offen, wie sehr Dinge in ihrer Handlungs- und Präsenzmacht als Schnittstellen universitär „gegenläufiger Welten“ fungieren und helfen mögliche Überschneidungen gut zu handhaben. Danach ergründet Björn Krey die Praxis des Lesens und Schreibens an Universitäten und stellt dar, wie sich die „physische Verhaltensumgebung" (Goffmansche „Reservate“, S. 223) mit ihren Menschen, Kommunikationsstrukturen und Leistungsanforderungen zu einer „Maschine“ (im Sinne von Deleuze und Guattari, S. 215) formt und das wissenschaftliche Denken radikal diszipliniert.
Den Aushandlungsprozess der Norm von Gleichstellung und Diversität in Fakultätsgremien thematisiert Theresa Lempp. Absolut überzeugend kann sie aus der Verschließung des akademischen Feldes gegenüber ihrer Forschung – und eben nicht aus dessen Offenheit – Daten generieren, die Auskunft über die zugeschriebene Relevanz des Geschlechterthemas an Universitäten geben. Auf diese Weise verschafft Lempp nicht nur einen Einblick in die universitären Beharrungstendenzen gegenüber der Gleichstellung, sondern legt ein grundlegendes Merkmal der Ethnografie frei: nämlich, dass sie letztlich nie „scheitern“ kann. Thomas Etzemüller spürt wiederum der Geschichte des Berliner Wissenschaftskollegs nach. Er fragt, wie sich hier ein spezifisches Milieu von doch sehr unterschiedlichen Akademiker:innen konstituierte. Mit wissenschaftssprachlicher Gewandtheit ermöglicht er der Leserin – ganz im ethnografischen Sinne –, in die beschriebene Zeit „einzutauchen“ und aus der empathischen Nähe, der wissenschaftlichen Distanziertheit seinen Betrachtungen zu folgen und so die Analyse zu verstehen. Indem Etzemüller die Unschärfe analytischer Begrifflichkeiten stark macht, wird er im Besonderen der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes gerecht. Im Folgenden entwirft Christian Meier von Verl eine „Praxeologie der Ethnografie“. Um hierbei die Frage zu beantworten, wie ethnografisches Wissen genau generiert wird, verbindet er theoretische Überlegungen mit eigener Empirie. Sein Ziel, eine „neue empirisch-reflexive Wissenschaftstheorie und Methodologie der Ethnografie“ (S. 295) zu ermöglichen, ist ambitioniert. Und doch hätte er bei aller gewinnbringenden Theoretisierung mehr Raum für das „Nicht-Theoretisierbare“ der Ethnografie schaffen können; andernfalls wird ihr buchstäblich der Reiz und so die „Schönheit“ ihrer Unwägbarkeit entzogen. Franz Schultheiß schließt den Band und stellt seine Studie zur Habitusformation und Milieusozialisation an der Universität St. Gallen vor. Die Attraktivität der Untersuchung liegt zwar darin aufzudecken, wie soziokulturelle Dispositionen an der untersuchten Institution genutzt und geschaffen werden. Noch interessanter ist allerdings, dass die Universität die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse unterband, was darauf verweist, wie sehr Hochschulen um „Diskretion“ bemüht sind und Ethnografien, da sie gleichsam auf die Goffmansche Hinterbühne streben und so gewissermaßen immer „indiskret“ sind, als geradezu gefährlich „entlarvende“ Unternehmungen wahrgenommen werden.
Insgesamt ist der Band in der Vielfalt von Betrachtungen wissenschaftlich äußerst anregend und wegweisend. Er offeriert anhand von ethnografischen Daten wichtige Systematisierungen des methodischen Vorgehens und des Wissens, das durch Ethnografien generiert wird.
Bei aller Begeisterung, mit der ich „Ethnografie der Hochschule“ gelesen habe, gibt es für mich (lediglich) einen Einwand gegenüber dem Sammelband. So ist die Ethnografie eben nicht nur methodisches Vorgehen und hieraus abstrahiertes Wissen. Sie ist eine Forschungsweise, die sich mit einer spezifischen Form der Repräsentation verbindet und dabei dezidiert auf die Momente des Evokativen setzt: auf fesselnde Geschichten von tatsächlichen Menschen, Orten, Dingen und Ereignissen. Hier verweigert sie sich dem Stil und der Dominanz (er)nüchtern(d)er Systematisierungen, theoretischer Ableitungen und übergreifender Konzeptionierungen. Sie gibt vielmehr den Blick auf das „Ungeordnete“, das „Ungefähre“, das „Fluide“, das Einzigartige und Unmittelbare frei, ohne dies analytisch einhegen zu wollen. Stattdessen schafft sie Interpretationsräume. Das bedarf eines wissenschaftlichen Erzählstils, der zugleich den eigentlichen Reiz – den „Thrill“ – unserer Forschungsfelder zu vermitteln vermag. Er verschwindet meines Erachtens in einigen Artikeln allzu sehr hinter dem Ringen um Abstraktionen und diskurssetzende Kategorisierungen. Hier könnten die Verfasser:innen erzählerisch und so wissenschaftlich deutlich mehr wagen. Dieser Einspruch ist als Wunsch zur gemeinschaftlichen Diskussion zu verstehen.
Grundsätzlich bleibt: Der Band leistet einen immens wichtigen Beitrag zur Stärkung der Ethnografie in der Hochschulforschung.
Anmerkung:
1 AEDiL meint: „AutoEthnographische Forschung zu digitaler Lehre und deren Begleitung“.