Marcus Gräser nimmt seine Leser:innen mit auf eine mehr als vierhundertjährige Reise durch die Geschichte Nordamerikas von der Gründung der ersten englischen und französischen Siedlungen in der neuen Welt bis zur Amtszeit Präsident Donald Trumps. Nordamerika heißt zwar hauptsächlich Vereinigte Staaten, aber der Verfasser richtet den Blick regelmäßig nach Norden und zeigt divergierende Entwicklungen der US-amerikanischen und kanadischen Gesellschaften auf.
Die größte Herausforderung bei der Abfassung eines solch umfassend angelegten Überblickswerks ist es, die Materialfülle zu ordnen und übersichtlich zu präsentieren. Das gelingt dem Verfasser, indem er fünf große chronologische Blöcke bildet, die „Siedlergesellschaft und Kolonialherrschaft“, „Revolution und Konterrevolution“, „Marktgesellschaft und Nationsbildung“, „Industriestaat und Moderne“ sowie „Weltmacht und Wohlfahrtsgesellschaft“ überschrieben sind. Innerhalb jeden Blocks werden zentrale politische, gesellschaftliche und kulturelle Probleme und Entwicklungen analysiert.
Anders als bei den meisten deutschen und insbesondere amerikanischen Überblicksdarstellungen stehen einzelne identitätsstiftende Ereignisse wie die Revolution, der Bürgerkrieg, der New Deal und der Zweite Weltkrieg nicht im Zentrum der Darstellung. Das Unterkapitel „Sezession und Bürgerkrieg“ wird auf weniger als zehn, der New Deal auf sechs und der Zweite Weltkrieg auf kaum mehr als fünf Seiten behandelt. Das Augenmerk des Verfassers liegt stattdessen auf einer Analyse längerfristiger, miteinander verschränkter Strukturen und Entwicklungen wie Einwanderung, Demokratisierung und kulturelle Emanzipation der USA von Europa. Im Kapitel „Marktrevolution“ etwa wird das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren untersucht, die zum wirtschaftlichen Aufstieg der USA im Verlauf des 19. Jahrhunderts geführt haben. Die industrielle Revolution lieferte Waren, die der Markt haben wollte. Zu diesen Waren zählte auch Baumwolle, die im Süden angebaut und im Norden weiterverarbeitet wurde. Über mehrere Generationen hinweg stellte diese Arbeitsteilung ein „Stück Integration in einer arbeitsteiligen Nationalökonomie“ dar (S. 209). Mit der rasch wachsenden landwirtschaftlichen und industriellen Produktion gewann die Verbesserung der Infrastruktur an Bedeutung. Schließlich analysiert der Verfasser den Beitrag, den die Wirtschaftspolitik, die Zollfrage und die Einwanderung für die Marktrevolution gespielt haben. Die Bevölkerung wuchs von unter zehn Millionen Menschen (1820) auf über dreißig Millionen am Vorabend des Bürgerkriegs. Damit standen der Industrie stets ausreichende und billige Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Mehrzahl der Einwanderer zog in die Nordstaaten; damit gewann der Norden ein demographisches und wirtschaftliches Übergewicht gegenüber dem Süden, was politisch nicht folgenlos blieb. Die Südstaaten standen schließlich vor der Frage, ob sie vor diesem Hintergrund Teil der Union bleiben oder sich lossagen wollten. Es gelingt dem Verfasser, viele Einzelinformationen übersichtlich in ein überzeugendes interpretatorisches Gesamtbild zusammenzufügen.
Im Zuge des wirtschaftlichen Erfolgs der USA bildete sich eine Mittelschicht (middle class) heraus, die nach bestimmten Idealen und Vorstellungen lebte. Dazu zählten etwa Reinlichkeit, Selbständigkeit und Bildung. Wie auch bei der Marktrevolution läuft die Analyse des Verfassers über die Mittelschicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Fluchtpunkt Bürgerkrieg zu. Die Bürger des Nordens definierten sich immer stärker sklavereikritisch und verurteilten die Wirtschaftsform des Südens als barbarisch. Für den Süden konstatiert er eine gegenläufige Entwicklung. „Nicht wenige Sklavenhalter imaginierten sich als eine Quasi-Aristokratie und orientierten sich in ihrem Lebensstil am englischen Landadel, nicht zuletzt auch durch den demonstrativen Prunk der großen Herrenhäuser“ (S. 226). Dies mag erklären, warum viele Südstaaten auf die Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten mit dem Wunsch nach Loslösung von der Union reagierten. Lincoln war ein äußerst moderater Abolitionist, dennoch fürchteten die Südstaaten nach seinem Amtsantritt um „den Fortbestand ihres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“ (S. 255).
Das Ende des Bürgerkriegs gab dem Land die Möglichkeit, die politischen Strukturen noch einmal neu zu entwerfen. Der Verfasser referiert die zentralen Maßnahmen der Reconstruction period wie die Verabschiedung des 14. und 15. Verfassungszusatzes und erläutert Gegenbewegungen wie die Gründung des Ku-Klux-Klans, die die rechtliche Gleichstellung der Schwarzen zu verhindern suchten.
In den Kapiteln zum 20. Jahrhundert ist die Analyse von zentralen Ereignissen weniger tief als in denen zum 18. und 19. Jahrhundert. Die Phase von 1945 bis zur Gegenwart wird auf gerade einmal sechzig Seiten behandelt. Im Kapitel über die Gründe für den Vietnamkrieg etwa spricht der Verfasser sehr allgemein über den Zerfall des Kolonialreiches nach dem Zweiten Weltkrieg, der zu einem „Vakuum“ geführt habe. Hier hätte man sich eine Diskussion über Handlungsalternativen der Truman- und Eisenhower-Administrationen über Dekolonisierung vs. Wiederherstellung europäischer kolonialer Besitzungen in Asien gewünscht. Präsident Lyndon B. Johnsons aggressive Antwort auf den vermeintlichen Beschuss amerikanischer Schiffe im Golf von Tonkin im August 1964 mag dem beginnenden Wahlkampf gegen den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater geschuldet gewesen sein. Aber warum weitete Johnson nach seinem Wahlsieg den Krieg in Vietnam aus? Auch andere für deutsche Leserinnen und Leser interessante Fragen wie die Reaktion der Kennedy-Administration auf den Mauerbau im August 1961 und auf die Aufstellung sowjetischer Nuklearraketen auf Kuba werden eher beiläufig behandelt.
Amerikanische Autoren, die eine Geschichte ihres Landes vorlegen, tun dies (wenn sie kein politisch neutrales Universitätslehrbuch verfassen wollen) zumeist mit einer explizit formulierten Botschaft, wofür ihr Land steht, wofür sie es loben oder tadeln wollen. George Bancrofts mehrbändige „History of the United States“ wies im 19. Jahrhundert auf die Bedeutung Amerikas für die Durchsetzung von Freiheit und Demokratie hin. Moderne Autoren wie Jill Lepore („These Truths“) und Nikole Hannah-Jones („The 1619 Project“) gehen hingegen kritisch mit ihrem Land um und sehen unerfüllte Versprechungen beziehungsweise ein Land mit einer längeren Tradition der Sklaverei als der Freiheit. An manchen Stellen hätte man sich gewünscht, dass auch Gräser grundsätzlichere Überlegungen anstellen würde. Die Beharrlichkeit und Brutalität etwa, mit der sich Weiße seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre der Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts hinein dem Anspruch der Schwarzen auf Gleichberechtigung widersetzt haben, wird nur ansatzweise thematisiert.
Die Jahre der Trump-Administration werden bei Gräser in einem separaten Schlussteil erörtert. Die Frage, ob dessen Amtszeit ein „Betriebsunfall“ des amerikanischen politischen Systems gewesen sei, wird verneint. Stattdessen weist der Verfasser auf die zunehmend konservative Positionierung der Republikanischen Partei in den letzten Jahrzehnten hin. Trumps Wahl zum Präsidenten sei die Kulmination einer „Sehnsucht nach vermeintlich eindeutigeren Zeiten“ (S. 508) gewesen. Das stellt nicht zuletzt eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dar, weil einflussreiche Politiker eine „patriotische Geschichte“ wünschen, die gesellschaftliche Fehlentwicklungen der Vergangenheit ausblenden soll. Dem werden sich Historikerinnen und Historiker stellen müssen.
Gräsers Buch beeindruckt durch seine thematische Breite. Wer eine Gesamtdarstellung der amerikanischen Geschichte von den Anfängen bis heute sucht, wird bei ihm reich belohnt. Vielfältige politische, gesellschaftliche und kulturelle Aspekte werden in einem flüssig geschriebenen Text geschickt miteinander verwoben. Die 500 Seiten des Buches sind durchweg mit Gewinn zu lesen.