K. Gabbert u.a. (Hrsg.): Erinnerung-Macht-Gegenwart

Titel
Erinnerung-Macht-Gegenwart. Analysen und Berichte


Herausgeber
Gabbert, Karin; Gabbert, Wolfgang; Goedeking, Ulrich; Heidhues, Annette Nana; Huffschmid, Anne; Krämer, Michael; Schmid, Thomas; Schulte, Christiane; Stanley, Ruth
Reihe
Jahrbuch Lateinamerika 32
Erschienen
Anzahl Seiten
217 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anika Oettler, Institut für Soziologie, Philipps-Universität Marburg

Seit dem Ende der lateinamerikanischen Diktaturen und Bürgerkriege, die die politische Geschichte dieser Weltregion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hatten, hat sich die Frage, ob und wie mit den Gräueln der Vergangenheit umzugehen sei, zu einem zentralen Forschungsthema entwickelt. Die Literatur über lateinamerikanische Erinnerungspolitiken füllt inzwischen bereits ganze Bibliotheken, und nun wurde mit dem jüngsten Jahrbuch Lateinamerika „erinnerung macht gegenwart“ ein weiterer Band zum Thema vorgelegt. Anything new? Ausgehend von den aktuellen Debatten um kollektive Sinnstiftung, Erinnerungsbrüche und Opferhierarchisierung ist den Herausgeber/-innen der schwierige Spagat gelungen, sowohl alte Fragen neu zu beantworten als auch – und dies macht den Band letztlich besonders lesenswert – in eine neue Richtung zu weisen.

Aus den Beiträgen, die hier nicht alle einzeln gewürdigt werden können, entsteht insgesamt ein differenziertes Bild des erinnerungspolitischen Terrains in Lateinamerika. Während die Artikel über Wahrheitskommissionen (Wolfgang Heinz) und den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof (Ruth Stanley) einen Überblick über die Funktionsweise und Wirkungsmächtigkeit zentraler vergangenheitspolitischer Institutionen liefern, wird mit den anderen Beiträgen des Bandes ein Forschungsfeld abgesteckt, das den umstrittenen und variablen Charakter des sozialen Gedächtnisses in den Vordergrund der Betrachtung rückt. In diesem Kontext beschreibt Stefan Rinke den 11. September 1973 als einen immer neu umgedeuteten Erinnerungsort, der in ein polarisiertes Gedenken eingefasst ist. Mit der kulturellen Dimension der Aufarbeitung von Vergangenheit befassen sich Anette Nana Heidhues in ihrem Beitrag über die Einrichtung von Gedenkstätten in ehemaligen argentinischen Folterzentren und Valeria Durán, die unter anderem anhand von Fotobänden die „Aufbereitung von der Sphäre des Intimen her“ (S.149) untersucht und dem Brückenschlag zwischen privatem Erleben und öffentlicher Erinnerung nachgeht.

Neue Evidenzen liefern Anne Becker und Olga Burkert, die sich mit der Bewegung der hijos, der Kinder der Verschwundenen befassen, und dabei politische Praktiken wie die Protestform der escrache – des Outings von Schergen des Terrors – an den gesellschaftlichen Kontext zurückbinden. Während das Auftreten der H.I.J.O.S. (Kinder für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Schweigen) im Argentinien der 1990er-Jahre vor dem Hintergrund einer irruption of memory stattfand und zu einer „Erneuerung von Protest- und Ausdrucksformen“ (S. 109) führte, war die diskursive Wirkungskraft in Mexiko wesentlich eingeschränkter. Dort entstanden erste Organisationen von hijos in einem gesellschaftlichen Umfeld, das sich durch die Ignoranz und Verleugnung vergangener Repressionspraktiken auszeichnete. Diese Beobachtungen führen die beiden Autorinnen zu der interessanten Hypothese, dass die Praktiken des Gedenkens weit weniger globalisiert sind als oftmals angenommen.

Lars Frühsorge, der auf einer fundierten empirischen Basis die Frage zu beantworten sucht, wie die violencia in indigenen Gemeinden Guatemalas erinnert wird, dekonstruiert die „potentielle exotischste Schilderung Außenstehender“ (S. 182), die in wissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Diskursräumen zirkuliert. Er widerlegt eindrucksvoll den Mythos von einer erinnerungskulturellen Andersartigkeit indigener Gemeinden und verweist auf die Bedeutung der Generationenlage sowie auf das dynamische Wechselspiel zwischen lokalen und nationalen Diskurssträngen.

Anne Huffschmid umzäunt in zwei Beiträgen ein Forschungsfeld, das in den bisherigen Debatten um die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit „der“ lateinamerikanischen Vergangenheit bestenfalls am Rande erwähnt wird. In ihrem ersten Beitrag untersucht sie die Erinnerung an die 68er Bewegung in Lateinamerika als einer vielstimmigen, alltagskulturellen Gegenbewegung, die, anders als in den USA und Westeuropa, nicht aus einer Überflussgesellschaft heraus entstanden sei. Huffschmid erinnert daran, wie es Ende der 1960er-Jahre zu jener „bemerkenswerten Verdichtung“ (S. 143) kam, als das kulturelle Aufbegehren phantasievolle Blüten trieb und die politische Bewegung gegen autoritäre Regime erstarkte, aus der sich der bewaffnete Widerstand der Guerilla entwickelte. Mit diesem Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung befasst sich auch das Gespräch, das Anne Huffschmid mit der Politikwissenschaftlerin Pilar Calveira, einer ehemaligen Guerillera, die jahrelang in argentinischen Folterzentren inhaftiert war, geführt hat. Calveira geht es vor allem um den notwendigen „Bruch mit der Heuchelei“ (S. 72). So wie die hijos die Täterschaft der vermeintlich „Anständigen“ ans Licht brächten, müsse sich einerseits die gesamte Gesellschaft ihrer Vergangenheit und Mittäterschaft stellen, und die Linke sich andererseits kritisch mit den Fehlern ihrer politischen und gewaltsamen Praktiken auseinandersetzen: hier wie dort ginge es darum, „sich politisch zu verantworten“ (ebd.).

Während hier die Frage der politischen Verantwortung im Mittelpunkt steht, zieht der Beitrag von Elizabeth Jelin, der den Band eröffnet, die Diskussion auf die Ebene der Konstruktion von Geschlechterverhältnissen. Dabei werden die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken skizziert, durch die während und nach dem Terror spezifische Konstruktionen von dominanter Maskulinität und unterworfener Weiblichkeit hergestellt und gestützt werden. Maternalismus und Familismus werden in kritischer Absicht als prägende Leitmotive von Erinnerungsdiskursen im Cono Sur herausgestellt.

Die Herausgeber/innen, die davor warnen, „Memoria [Erinnerung] als Leerformel und Ersatz für Gegenwartsbewältigung zu verwenden“ (S. 8), runden das erinnerungspolitische Panorama mit einem Beitrag von Karin Gabbert ab, die detailliert und kenntnisreich beschreibt, wie sich Hugo Chávez als Reinkarnation des heldenhaften Befreiers Simon Bolívar inszeniert, als dominanter Patriarch, Fortschrittsoptimist und nationaler Held.

Das Verdienst der Herausgeber/innen des Jahrbuches ist insbesondere darin zu sehen, den Gegenwartsbezug des sozialen Gedächtnisses durch die Auswahl der behandelten Themen unterstrichen zu haben. Hier liegt das Unverbrauchte und auch das innovative Potential. In diesem Zusammenhang stellt sich dann allerdings auch die Frage, warum der Beitrag von Bert Hoffmann (Kuba nach Fidel: Was bleibt? Was kommt?) unter der Rubrik „weitere Themen“ auftaucht.

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