Nach den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wird noch deutlicher, was wir ohnehin schon wussten: Das Thema Migration polarisiert. Debatten über Maßnahmen zu Asylrecht und Abschiebungen dominieren die Schlagzeilen. In Zeiten eines sprunghaften Anstiegs von Fluchtzuwanderungen wächst die Sorge, dass das Sozialsystem, der Wohnungsmarkt und das Bildungssystem überlastet werden könnten. Gleichzeitig bleibt eine Offenheit für zugewanderte Menschen bestehen.1 Deutschland steht damit an einem Scheideweg und muss zentrale Weichen für zukünftige Richtungen der Flucht- und Migrationspolitik stellen.2 Wissenschaftliche Beiträge wie das Buch des Historikers Jakob Schönhagen liefern den historischen Kontext, um zu verstehen, wie sich Flüchtlingspolitik im 20. Jahrhundert in der Welt entwickelte und warum Flüchtlingsschutz wichtig ist.
Schönhagen, geboren 1989 in Tübingen, studierte Geschichte und Englisch auf Lehramt und promovierte am Historischen Seminar der Universität Freiburg in der Forschungsgruppe Zeitgeschichte. Mit dem aus seiner Dissertation hervorgegangenen Buch gelingt ihm ein großer Wurf, denn er betrachtet das Politikfeld nicht nur von seinen Ursprüngen bis heute – mit speziellem Fokus auf die Nachkriegszeit bis 1975 –, sondern auch in einem globalen Kontext. Sein Doktorvater Ulrich Herbert veröffentlichte bereits 2001 ein Standardwerk, welches die Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Ära Kohl nachzeichnete.3 2006 legte der britische Experte für Migrationsforschung Philip Marfleet ein Buch vor, in dem er die Flüchtlingsfrage in einem umfassenden globalen Kontext analysierte; 2013 demonstrierte der Historiker Peter Gatrell aus Manchester die Wirkmächtigkeit von flüchtenden Personen und zeigte die komplexen Ursachen und Auswirkungen von Flucht in globaler Perspektive.4 Schönhagen greift in seiner Überblicksstudie auf das breite Fundament des Wissens dieser und vieler anderer Forscher:innen zurück und erweitert es durch umfassende Archivrecherchen in sechs Ländern (Äthiopien, Frankreich, Großbritannien, Indien, Schweiz, USA). Das Resultat ist ein im deutschsprachigen Raum einzigartiges Buch, welches eine detaillierte Geschichte der Institutionalisierung der internationalen Flüchtlingspolitik erzählt.
Die Studie verfolgt das Ziel, die Entstehung der Flüchtlingspolitik als globales Handlungsfeld zu untersuchen, und unterzieht hierzu vor allem die 1950er- bis 1970er-Jahre einer eingehenden Prüfung. Im Untersuchungszeitraum 1945–1975 wurde Flucht schrittweise als weltweites Ordnungsproblem der internationalen Beziehungen anerkannt. Erstmals kamen Staaten zu der Erkenntnis, „es sei die Aufgabe der Staatengemeinschaft, Geflüchtete zu unterstützen und dafür leistungsfähige institutionelle Strukturen aufzubauen“ (S. 10), argumentiert Schönhagen. Er fragt nach den Bedingungen und Ursachen, die den Wandel im Verständnis des Fluchtproblems von einer temporären zu einer dauerhaften Herausforderung bewirkten. Hierbei folgt er drei Untersuchungssträngen. Schönhagen setzt sich erstens mit den treibenden Kräften sowie den Konzepten und Zielen der internationalen Flüchtlingspolitik auseinander. Zweitens behandelt er die konkrete institutionelle Ausgestaltung dieser Politik. Drittens wird der Fokus auf die Praxis der Flüchtlingshilfe gelegt, wobei untersucht wird, wie diese wiederum auf die Wahrnehmung und Ausarbeitung der zugrundeliegenden Konzepte Einfluss nahm. Hinzu kommen vier Akteursgruppen, die Schönhagen in seinem Tableau näher betrachtet: die staatliche Innen- und Außenpolitik, internationale Regierungsorganisationen, nichtstaatliche Akteure sowie eine Gruppe von internationalen Expert:innen, Beamt:innen und Wissenschaftler:innen. Augenfällig stellen Geflüchtete keine eigene Akteurskategorie dieser Studie dar. Der Autor integriert jedoch wiederholt Einzelschicksale in seine Darstellung (jedes Hauptkapitel beginnt mit drei Kurzbiographien). So zeigt er etwa, dass internationale Experten wie der Jurist Paul Weis oder der Migrationsforscher Eugene Kulischer durch eigene Fluchterfahrungen geprägt waren, wodurch Geflüchtete nicht nur als Objekte, sondern auch als handelnde historische Subjekte erscheinen.
Das Buch gliedert sich nach der Einleitung in sechs chronologisch angeordnete Abschnitte. Im ersten, kürzeren Teil werden die „Vorgeschichten“ behandelt, die vor das 19. Jahrhundert zurückreichen und sich bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts erstrecken. Die Teile zwei bis vier, jeweils in sechs Unterkapitel gegliedert, bilden den Kern des Buches. Der zweite Abschnitt beleuchtet die „Weichenstellungen um 1950“ (S. 45); dabei werden die Gründung des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) sowie die Genfer Flüchtlingskonvention und das „amerikanische Jahrzehnt“ (S. 115) thematisiert. Im dritten Teil, der den 1960er-Jahren gewidmet ist, wird die Konsolidierung der internationalen Flüchtlingspolitik als globales Phänomen im Zusammenhang mit der Dekolonisation und dem Kalten Krieg gezeigt. Besondere Aufmerksamkeit liegt auf Algerien und dem New York Protocol von 1966/67: Fluchtbewegungen außerhalb Europas rückten in den Fokus, und die Anerkennung der Permanenz des Fluchtproblems setzte der Illusion einer vollständigen Lösung ein Ende. Der vierte Abschnitt befasst sich vor allem mit der Flüchtlingshilfe zu Beginn der 1970er-Jahre, welche mit Blick auf Flüchtlinge aus Bangladesch 1971–1973 diskutiert wird. In einer vielschichtigen Analyse werden sowohl staatliche Akteure wie Indien oder die USA, internationale Organisationen wie die United Nations Organization (UNO) und der UNHCR, aber auch die internationale Berichterstattung sowie ihre zivilgesellschaftlichen und politischen Konsequenzen unter die Lupe genommen. Es folgt ein Ausblick, der die Entwicklung der weltweiten Fluchtbewegungen und die Expansion des UNHCR seit den 1970er-Jahren thematisiert. Im abschließenden Fazit wird die Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg zusammengefasst, und die Hauptargumente des Buches werden gelungen resümiert. Die Vielfalt der diskutierten Fallbeispiele verdeutlicht eines der Hauptargumente der Studie: dass sich die Konjunkturen der Flüchtlingspolitik „ganz wesentlich durch den polyzentrischen Charakter und die besondere Vielstimmigkeit dieses Politikbereichs“ (S. 367) erklären lassen.
Nicht alles in diesem Buch ist neu. Die Konturen dessen, was Schönhagen beschreibt, sind in Fachkreisen bekannt.5 Dennoch gelingt es ihm durch seine beeindruckende und umfangreiche Quellenarbeit, das Bild mit faszinierenden neuen Details anzureichern. Die Thesen sind fundiert und überzeugend argumentiert. Besonders deutlich wird erneut, in welchem Ausmaß die Flüchtlingshilfe als taktisches Instrument politischer Konflikte genutzt wurde. Schönhagen findet eine exzellente Balance zwischen seinen Akteurskategorien. Das Resultat ist eine polyzentrische Geschichte von Regeln und Rechtsprechungen, Institutionsgründungen und -veränderungen sowie institutionellen Entscheidungen, die sowohl die Perspektiven des globalen Südens reflektieren als auch individuelle Akteure im Rahmen einer Kulturgeschichte des Politischen hervorheben. Eine der großen Stärken dieses Buches liegt in der akribischen Archivarbeit, die sich auf 27 Archive in vier Kontinenten erstreckt. Hinzu kommt die Nutzung von elf Online-Archiven, von edierten Quellen, Filmen, Zeitschriften und Zeitungen, Congressional Records und grauer Literatur, was die Studie auf ein bemerkenswert umfangreiches und diverses Primärquellenfundament stellt. Darüber hinaus hat der Autor die Fähigkeit zu einer umfassenden Synthese, bei der er eine Vielzahl von Sekundärquellen auswertet und in seine globale Analyse integriert. Ein Personen- und Sachregister wäre allerdings hilfreich gewesen.
Die Studie ist luzide geschrieben und reich an wertvollen Zitaten. Aufgrund der schieren Informationsdichte und des Umfangs eignet sich das Werk in seiner Gesamtheit weniger für den Einsatz im Kursraum. Das Buch wendet sich vor allem an Historiker:innen mit einem Interesse an Flüchtlingsstudien, Rechts- und Politikgeschichte sowie der Geschichte von internationalen Organisationen und internationalen Beziehungen. Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen mit einem Schwerpunkt auf Flüchtlingsstudien werden ihr Verständnis von Flüchtlingspolitik durch dieses Buch vertiefen können: als ein „Produkt politischer Aushandlungsprozesse“, das „grundsätzlich wandelbar“ war und ist (S. 370). Darüber hinaus ist der Band auch für interessierte Laien zugänglich, die die heutigen Debatten um Asyl- und Flüchtlingsrecht besser verstehen möchten. Den eigenen Anspruch, die Institutionalisierung der Flüchtlingspolitik im Kontext diverser politischer Auseinandersetzungen zu untersuchen, löst Jakob Schönhagen überzeugend ein. Insgesamt handelt es sich um ein sehr gelungenes Werk zur Geschichte der Flucht, welches zu einem äußerst relevanten Zeitpunkt in den Buchläden erhältlich ist.
Anmerkungen:
1 Ulrike Wieland, Willkommenskultur in Krisenzeiten. Wahrnehmungen und Einstellungen der Bevölkerung zu Migration und Integration in Deutschland, Gütersloh 2024, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/maerz/migrationsskepsis-steigt-offenheit-fuer-zugewanderte-menschen-bleibt-dennoch-stabil (04.10.2024).
2 Hanne Beirens / Susan Fratzke / Camille Le Coz, Germany, and Maybe the European Union, Are at a Migration Crossroads, Commentaries, September 2024, Migration Policy Institute, https://www.migrationpolicy.org/news/germany-eu-migration-crossroads (04.10.2024).
3 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001 (2. Aufl. 2017).
4 Philip Marfleet, Refugees in a Global Era, New York 2006; Peter Gatrell, The Making of the Modern Refugee, Oxford 2013.
5 Einen umfangreichen Überblick hat der Autor vor zwei Jahren selbst gegeben: Jakob Schönhagen, Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik. Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 62 (2022), S. 401–457, https://library.fes.de/pdf-files/afs/bd62/afs62_schoenhagen.pdf (04.10.2024).