Transmedialität ist kein neues Phänomen des digitalen Zeitalters, wie oft behauptet wird, und doch ist sie eng mit dem Aufstieg digitaler Technologien verbunden.1 Das Konzept der Transmedialität wurde in den letzten zwei Jahrzehnten in akademischen Kreisen eingeführt und diskutiert, mehr oder weniger zur gleichen Zeit, als PC und Internet in den meisten Haushalten alltäglich wurden und das Web 2.0 entstand. Es kann als eine erneute epistemologische Wende betrachtet werden, eine weitere Phase, in der das lange Zeitalter der Gutenberg-Druckkultur mit einer linearen Verbindung zwischen den „Autor:innen“ und „Empfänger:innen“ vorbei ist und der Prozess der Wissensvermittlung zu seinen mittelalterlichen und antiken Formen zurückkehrt – Informationen werden über verschiedene Medien in verschiedenen Formen und mit verschiedenen Inhalten verbreitet, es gibt verschiedene Versionen derselben Geschichte mit offenem Ausgang, und die Empfänger:innen können diese Inhalte auf verschiedene Weise verändern.
Die Technologie hat sich verändert und mit ihr die Terminologie: Man spricht von Medien – den Kanälen, über die Kommunikation stattfindet, heute z.B. Printmedien, Websites, Filme, Reenactment-Reisen, Blogbeiträge etc., und von Modi – den semiotischen Ressourcen, die Interaktion ermöglichen, wie Text und Video (visuell), Radio und mündliche Rede (auditiv) etc. Der Kern der Wissensvermittlung hat sich nicht verändert. In der Antike und im Mittelalter waren mündliche Erzählungen, Höhlenmalereien, in Stein gehauene Papyri, Manuskripte, Skulpturen, Textilien und Vasenmalereien die Medien und Modi. Die antike Agora, die Kirche und die mittelalterliche Gemeinde waren die Plattformen für den Erhalt und die Weitergabe von Informationen. Für uns, die wir in den letzten vierhundert Jahren fast ausschließlich in einer Druckkultur gelebt haben, erscheinen die multimedialen Gerüchte des Internets und die Informationskanäle von Facebook und Twitter neu. In diesem Sinne der epistemologischen Neubetrachtung von Quellen und historischen Narrativen unserer Zeit sind die Reihe „Routledge Advances in Transmedia Studies“ und das Buch von Nicole Basaraba, Transmedia Narratives for Cultural Heritage: Remixing History, die überarbeitete Dissertation, die am Trinity College in Dublin abgeschlossen wurde, zu sehen.
Das Buch besteht aus drei Teilen mit jeweils zwei Kapiteln, also insgesamt sechs Kapiteln. Der erste Teil befasst sich mit dem Konzept und dem Bereich des interaktiven digitalen Geschichtenerzählens (interactive digital narrative) und den damit verbundenen Herausforderungen (S. 21–69). Dieser Bereich ist im akademischen Diskurs gut vertreten, da in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe wichtiger Monographien und Sammelbände erschienen sind, die dieses aufkommende Phänomen unserer Zeit beleuchten.2
Der zweite Teil legt einige theoretische und praktische Grundlagen für den Gegenstand von Basarabas Arbeit, die nicht-fiktionale digitale Erzählung, fest (S. 71–124). Die Autorin bezieht sich auf antike Rhetoriktheorien und wendet Aristoteles' Redekomponenten Ethos (Glaubwürdigkeit), Pathos (Emotionen) und Logos (Argumente) auf die Bewertung der aufkommenden digitalen Erzählungen an. Sie spricht von vier Arten von Überzeugungen: Ethos als Schöpfer-Nutzer-Transaktion oder wie digitale Medien die soziale Wahrnehmung des Inhaltsproduzenten verändern und wie das Publikum gleichzeitig zum Produzenten wird; Pathos als die Präsentation multimodaler Inhalte und die Erfahrung von Handlungsfähigkeit oder wie multimodale Inhalte zunehmend genutzt werden; Logos als eine entstehende multiperspektivische Erzählung und Transmedialität; und Kairos als die Schaffung einer positiven Erfahrung für den Nutzer durch das Design des interaktiven digitalen Erzählsystems, die dramatische Handlungsfähigkeit, die den Nutzern interaktiver digitaler Erzählungen gewährt wird.
Von besonderer Bedeutung sind die klassischen rhetorischen Prinzipien (Erfindung, Anordnung, Stil, Erinnerung und Übertragung), die bereits von Cicero und Quintilian ausführlich diskutiert wurden und die sie auf die sieben Phasen des interaktiven digitalen Erzählens übertragen. Das System zur Erstellung multimodaler und transmedialer Geschichten umfasst folgende Schritte: In Phase 1 geht es darum, das Publikum zu kennen und die "Produser" (ein Portmanteau aus producer und user) zu modellieren: den Hintergrund des Publikums in Bezug auf Sprache, Lebenserfahrung und kognitive Gewohnheiten, da sie diese in die Interpretation von Texten einbringen. In Phase 2 geht es darum, die Kommunikationsziele und -maßnahmen zu definieren, z.B. welche Art von Erfahrung oder welche emotionale Reaktion beim Publikum erwünscht ist. Phase 3 ist die Vermittlung (pronuntiatio): Die transmediale Narratologie geht davon aus, dass Geschichten von den Beschränkungen und Möglichkeiten eines bestimmten Vermittlungsmediums beeinflusst werden. Phase 4 ist die Erfindung (inventio): Es gibt viele Software-Optionen, um interaktive digitale Geschichten zu entwickeln. Phase 5 ist die Gestaltung (dispositio): An der Gestaltung interaktiver digitaler Geschichten können viele Kreative beteiligt sein, z.B. Autor:innen, Designer:innen und Programmierer:innen. Die Struktur der Erzählung sollte so gewählt werden, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem gewünschten Grad an Interaktivität und den Benutzer:innen erreicht wird. Phase 6 ist Design und Stil (elocutio). In der digitalen Rhetorik verschiebt sich der Stilkanon von der Sprache hin zum Design, einschließlich Optionen wie Farbe, Schriftwahl, Layout, Interaktivität, angemessener Medieneinsatz und Benutzerfreundlichkeit. Phase 7 ist die Aktualisierung des Gedächtnisses (memoria). Das Gedächtnis im digitalen Medium bezieht sich auf die digitale Kompetenz, Informationen zu speichern, abzurufen und zu manipulieren. Die Aktualisierung (Updates) des Gedächtnisses stellt sicher, dass die Erzählung im Gedächtnis des Publikums bleibt.
Der letzte Teil befasst sich mit zwei konkreten Fallstudien zum Remix von Kulturerbe: Die 11 UNESCO-Welterbestätten der australischen Strafgefangenenlager (Australian Convict Sites)3 und der Irische Nationale Hungersnotweg (Irish National Famine Way)4 demonstrieren die Anwendbarkeit des siebenstufigen Frameworks (S.125–180). Basaraba, die persönlich an beiden Projekten beteiligt war, zeigt, wie die Big-Data-Analyse bestehender transmedialer Inhalte in eine interaktive Webdokumentation umgewandelt werden kann und wie bestehende Erzählungen systematisch neu gemischt und mit dem „umgekehrten“ transmedialen Ansatz verbunden werden können. Es gibt ein immenses erzählerisches Potenzial, das es zu erforschen gilt, um je nach den Interessen der Nutzer:innen verschiedene neue Erzählungen zu entwickeln. Nationale Tourismusstatistiken wurden gesammelt, um einen Überblick über die allgemeinen Touristen in den verschiedenen Regionen Australiens und Irlands zu erhalten und um einen Vergleich und eine Differenzierung mit den Besuchern der Websites zu ermöglichen. Die öffentlich zugänglichen Berichte der Verwaltungsbehörden der Welterbestätten enthielten geschätzte Besucherzahlen. Darüber hinaus wurden TripAdvisor-Bewertungen als Quelle für Besucherinformationen ausgewählt, da sie eine praktische Stichprobe von Besuchern der Stätten darstellen und die Bewertungen von Nutzern generiert und zu einer transmedialen Erzählung zusammengefügt wurden, die auf einer Vielzahl vorhandener Inhalte basiert.
Alles in allem ist dieses Buch ein faszinierender Versuch, die bestehende Theorie des transmedialen Erzählens auf interaktive digitale Erzählungen auszudehnen und einen theoretischen Rahmen für die Bewertung und Schaffung verschiedener Genres interaktiver digitaler Erzählungen zu nicht-fiktionalen Themen mit Fallstudien zum kulturellen Erbe zu integrieren. Es ist ein Weg, darüber nachzudenken, wie unsere Zeit ihre Rechte einfordert und die Art und Weise bestimmt, wie Geschichte mit alten und neuen Medien und in alten und neuen Modi interpretiert wird. In epistemologischer Hinsicht ist es ein gutes Beispiel dafür, wie und was eine neue Generation über Geschichte denkt.
Anmerkungen:
1 So formuliert Jason Mittell: “Any thoughtful study of contemporary transmedia must start with the vital caveat that transmedia is not a new phenomenon, born of the digital age”, siehe ders., Strategies of storytelling on transmedia television”, in: Marie-Laure Ryan and Jan-Noel Thon (Hrsg.), Storyworlds across media: toward a media-conscious narratology, Lincoln 2014, S. 253–277, hier: S. 253. Siehe auch Nicole Gabriel / Bogna Kazur / Kai Matuszkiewicz, Reconsidering Transmedia(l) Worlds, in: Claudia Georgi / Brigitte Johanna Glaser (Hrsg.), Convergence Culture Reconsidered: Media - Participation – Environments (Göttinger Schriften zur Englischen Philologie 9), Göttingen 2015, S. 163–194.
2 Siehe z.B. Marie-Laure Ryan (Hrsg.), Narrative across Media: The Languages of Storytelling, Lincoln 2004, Henry Jenkins, Convergence Culture – Where Old and New Media Collide, New York 2006, Carlos Scolari / Paolo Bertetti / Matthew Freeman, Transmedia Archaeology: Storytelling in the Borderlines of Science Fiction, Comics and Pulp Magazines, New York 2014; Matthew Freeman / Renira Rampazzo Gambarato (Hrsg.), The Routledge Companion to Transmedia Studies, London 2019; Matthew Freeman / Anthony N. Smith, Transmedia/Genre: rethinking genre in a multiplatform culture, London 2023.
3https://whc.unesco.org/en/list/1306/ (29.04.2024).
4https://nationalfamineway.ie (29.04.2024).