Kirchenbücher gehören so selbstverständlich zum Standardrepertoire frühneuzeitlicher Quellengattungen – etwa für Studien zur Familiengeschichte, Historischen Demographie, Historischen Anthropologie, Mikrogeschichte – und als Basisreferenz für personengeschichtliche Untersuchungen, dass ihr serieller und standardisierter Charakter häufig als gegeben angenommen wird. Natürlich ist bekannt und wird reflektiert, dass insbesondere in der Phase ihrer Einführung noch wenig Standardisierung vorlag, die Verzeichnung lückenhaft war und die Serialität der Daten noch lange fragmentarisch blieb. Umso erstaunlich erscheint, dass noch keine Studie vorlag, die sich mit den Verzeichnungspraktiken der verschiedenen beteiligten Akteur:innen auseinandersetzte und danach fragte, inwiefern und warum gerade in den ersten Jahrzehnten nach der Einführung standardisierter Vorgaben die vielfältigen Formen und Varianzen in den Verzeichnungen zu deuten sind. Wie sind sie in den sozialen Kontext einzugliedern und welche Rolle spielten die Kirchenbuchschreiber dabei, die vorgefundenen sozialen Praktiken ihrer Gemeindemitglieder mit den geltenden Normen in Form administrativen Schriftguts in Übereinstimmung zu bringen?
Diese Lücke füllt Eva Marie Lehner mit ihrer Dissertation in hervorragender Weise. Sie untersucht anhand mehrerer hundert katholischer, lutherischer und reformierter Kirchenbücher ausgewählter Gemeinden aus dem 16. und 17. Jahrhundert insbesondere die erste Phase der Einführung, Etablierung und Durchsetzung von Kirchenbüchern. Ihr Interesse gilt dabei der Art und Weise, wie die beteiligten Akteure bei den drei großen „rites de passage“ – Taufe, Ehe und Tod – ihre Einträge in die Kirchenbücher strukturierten, sie anreicherten mit weiteren Informationen, die sie für wichtig erachteten und wie die (neuen) Praktiken des Verzeichnens auch Rückwirkungen auf die sozialen Praktiken der Gemeindemitglieder zeitigten. Theoretisch und methodisch entfaltet sich die Arbeit zwischen Praxeologie, Intersektionalität und Wissensgeschichte, was in der Einleitung luzide und überzeugend miteinander vor dem Hintergrund der Problemstellung ausgeführt und diskutiert wird.
Ausgehend von der Bedeutung der drei Ereignisse für die Individuen, aber auch für die jeweiligen Gemeinden strukturiert Lehner die Arbeit nicht nach Konfessionen oder spezifischen Zeitschnitten, sondern fragt nach den biographischen, ein- und ausschließenden, ordnenden und administrierenden Praktiken in den Kirchenbüchern vor dem Hintergrund der theologischen wie auch sozialen Bedeutung des Ereignisses. Dementsprechend gruppieren sich die Unterkapitel um verschiedene mit diesen Schwellensituationen verbundene Herausforderungen und Problemstellungen, denen die Pfarrer und Diakone mit ihrer Verzeichnispraxis begegnen mussten.
So wird im Kontext der Taufe die Problematik der Verzeichnisse an sich mit Blick auf die konfessionellen Unterschiede und die Haltung zu möglichen Zweit-/Wiedertaufen problematisiert. Großen Raum nehmen in der Arbeit, wie auch in den Kirchenbüchern, die vielfältigen Verzeichnispraktiken zur Taufe oder Nicht-Taufe von Kindern ein, die unter oder kurz nach der Geburt verstarben oder von der Hebamme notgetauft wurden. Die oftmals genaue Beschreibung der Umstände verweist auf die große Bedeutung, aber auch hohe Fragilität jener Passageriten, die theologisch wie körperlich von großen Unsicherheiten geprägt waren. Aber auch Konfessions- und Religionswechsel lassen sich in den Taufeinträgen nachvollziehen.
Die Eheschließung brachte wiederum ganz andere Herausforderungen für die Pfarrer, aber auch die Eheleute und ihre Verwandten mit sich. Sehr genau wurde festgehalten, inwieweit die zu trauenden Paare möglicherweise schon vor ihrer Hochzeit auch eine sexuelle Beziehung gepflegt hatten, ob gar schon Kinder vorhanden waren oder Schwangerschaften, deren Legitimität durch eine Heirat nachträglich hergestellt werden sollte. Ein Effekt der immer wichtiger werdenden Fähigkeit, die eigene Ehe auch jenseits der Herkunftsfamilie und -gemeinde in Zeiten hoher Mobilität nachweisen zu können, zeigte sich in den Anmerkungen zur Trauung bzw. Taufe bei auswärtigen Paaren, indem sie eine entsprechende Bescheinigung vorweisen oder eben nicht beibringen konnten. Wie zentral innerhalb weniger Jahrzehnte das offizielle Verzeichnis einer Heirat in den Kirchenbüchern für die Legitimität der Ehe auch für die Gemeindemitglieder wurde, arbeitet Lehner anhand mehrerer „Selbstanzeigen“ heraus. Insbesondere im Falle von Schwangerschaften oder offenkundigen sexuellen Beziehungen informierten die Beteiligten den zuständigen Pfarrer über ihre offizielle, aber offensichtlich (noch) nicht notierte Verheiratung und brachten auch Zeugen bei, um etwaige Zweifel oder Ehrenstrafen auszuräumen. Zunächst verblüfft im Ehekapitel der ausführliche Rekurs auf Taufbücher im Unterkapitel zu ehelichen und unehelichen Kindern. Aber schnell wird deutlich, dass der eheliche Status von Eltern sich gerade beim Fehlen einer offiziellen Heirat oftmals viel eher bei der Taufe der Kinder ablesen ließ – waren im Ehebuch doch gerade nur die offiziellen Hochzeiten verzeichnet.
Der Abschnitt zum Eintrag von Todesfällen und Sterbeprozessen in den Sterberegistern zeigt wiederum eigene Schwerpunkte, die sich aus den theologischen Bedürfnissen, den administrativen Vorgaben, aber auch den sozialen und körperlichen Gegebenheiten ableiten ließen. Mit Blick auf die Bedeutung des „guten Sterbens“ waren zu plötzliche wie auch zu langwierige Sterbeprozess eine besondere Notiz wert, gerade weil sie besondere Herausforderungen an das „gute“ Sterben stellten. Einen erstaunlich tiefen Einblick erhält man hier in die Vielfältigkeit der körperlichen Gebrechen und Formen des Sterbens, die Menschen in der Frühen Neuzeit ereilen konnten. Ausnahmesituationen stellten dabei immer wieder Epidemien wie auch Kriegszeiten dar, in denen die gerade gewonnenen Routinen der Administration einerseits, aber auch der sozialen Praktiken andererseits durcheinander gerieten. Eindrucksvoll schildert Lehner die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges in den Fluchtbewegungen, den Pestereignissen und sozialen Unordnungen, die sich nicht zuletzt durch die hohe Mobilität der Menschen in diesen Krisenzeiten ausdrückten.
Die Vielzahl der mit der Analyse der Verzeichnungspraktiken verbundenen Schlaglichter auf das Alltagsleben, die sozialen Beziehungen, Integrations- und Exklusionspraktiken, Herausforderungen durch die Wechselfälle des Lebens ist in der Rezension nicht abzubilden. Die durchweg ausgewogene Präsentation von konkreten Beispielen und verallgemeinernden, kontextualisierenden Abschnitten führt die Leserin und den Leser durch eine spannende Quellengattung, deren Forschungspotential auf diese Weise noch einmal viele weitere Dimensionen öffnet. Aber nicht nur mit Blick auf die Individuen und Gemeinden, sondern auch auf die Pfarrer, Diakone und andere Verzeichnende. Denn sie waren es, die die normativen Vorgaben der Kirchenordnungen und des kanonischen Rechts mit der Praxis ihrer Gemeinden zu einer sinnstiftenden Einheit bringen mussten – und letztlich dafür auch bei Visitationen Verantwortung übernehmen mussten. Eva Marie Lehners Studie zeigt ganz hervorragend, wie rasch einerseits die Verzeichnispraktiken auf die sozialen Praktiken einwirken konnten und eine relevante Größe darstellten. Aber sie zeigt andererseits auch, wie heterogen, eigensinnig, fluide und situativ die Verzeichnispraktiken dennoch über viele Jahrzehnte hinweg blieben – trotz aller kirchenobrigkeitlichen Bemühungen, hier Einheitlichkeit und Klarheit herzustellen.
Die Studie regt nicht nur zum inspirierenden Lesen an (bei dem einige rhetorische Redundanzen und letzte übersehene Tippfehler nicht ins Gewicht fallen), sondern hoffentlich auch zu vielen weiteren Forschungsarbeiten, die sich auf dieser praxeologischen Ebene mit Kirchenbüchern beschäftigen, ihre Zugänglichkeit herstellen und zu systematisch-strukturellen Analysen einladen – gerade auch mit Blick auf die weitere Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert.