S. Barsch u.a. (Hrsg.): Disability History

Cover
Titel
Disability History.


Herausgeber
Barsch, Sebastian; Bösl, Elsbeth; Lingelbach, Gabriele; Rössel, Raphael
Reihe
Zeithistorische Forschungen (19, 2022, Heft 2)
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
198 S., 26 Abb.
Preis
Jahresbezug € 75,00; Einzelheft € 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Wegscheider, Institut für Sozial- und Gesellschaftspolitik, Johannes Kepler Universität Linz; Matthias Forstner, Abteilung für Empirische Sozialforschung, Johannes Kepler Universität Linz

Zentrale Aufgabe der Disability History ist es, die vielfältigen und komplexen, aber auch verborgenen und oft vergessenen Geschichten von Behinderung zu erforschen und soweit möglich zu rekonstruieren.1 Ausgehend vom anglophonen Gebiet konnte sich das Forschungsfeld seit den 2000er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum – zwar noch klein, aber stetig wachsend – etablieren (S. 220).

Disability History ist konzeptionell besonders mit den Denkrichtungen aus den emanzipationsorientierten Disability Studies verbunden. Diese eröffneten neue Perspektiven, sowohl auf Behinderung als auch auf Normalität, welche nicht als naturgegeben, sondern als soziokulturell konstruiert begriffen werden. Somit können Ungleichheiten im Zusammenhang mit als abweichend angesehenen Körpern als Folgen soziokultureller Marginalisierung analysiert werden.2 Folglich befasst sich Disability History grundsätzlich mit dis/ableistischen Vorstellungen und Strukturen und deren Genese sowie mit persönlichen Erfahrungen in Zusammenhang mit Behinderung in verschiedenen Lebensbereichen, Epochen und Kulturen.

Da Behinderung und Menschen mit Behinderungen in der zeithistorischen Forschung vernachlässigt werden, ist es begrüßenswert, dass sich das vorliegende Heft der „Zeithistorischen Forschungen“ mit Disability History befasst. Die vier Herausgeber:innen sind Expert:innen auf ihrem Gebiet und zeichnen sich durch rege Publikationstätigkeit mit Bezug zu Disability History aus. Im einleitenden Beitrag betonen Sebastian Barsch und Elsbeth Bösl, dass sich die Beiträge den verschiedenen Perspektiven von Disability History widmen und das Heft somit „ein Panorama unterschiedlicher Ansätze und Verständnisse von Behinderung präsentiert“ (S. 229).

Der vorliegende Band enthält, wie in den Themenheften der „Zeithistorischen Forschungen“ üblich, neben der Einleitung vier Artikel mit Forschungsergebnissen über die Wahrnehmung und den Umgang mit Menschen mit Behinderungen in unterschiedlichen Bereichen und in unterschiedlichen Ländern, zwei Essays, die sich gegensätzlich mit methodentheoretischen Ansätzen in der Disability History auseinandersetzen, zwei Beiträge zum innovativen und kritischen Umgang mit zeithistorischem Quellenmaterial sowie drei Besprechungen von Publikationen und Fernsehinhalten, die in den 1970er-Jahren erschienen sind. Vier der zwölf Beiträge sind in englischer Sprache abgefasst. Interessanterweise befassen sich drei Beiträge ganz oder teilweise mit der Situation in der DDR und einer mit der UdSSR. Allen Beiträgen wurden zumeist inhaltlich an den Text angebundene Abbildungen beigefügt, denen in allen Fällen auch Bildbeschreibungen und Legenden beigelegt sind, um die Lesbarkeit zu erhöhen.

Der erste Artikel von Michael Rembis beschäftigt sich mit den in diversen Schriftstücken übermittelten Erfahrungen von „mad writers“. Diese waren Insass:innen von psychiatrischen Einrichtungen in den USA der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es wird eindrucksvoll aufgezeigt, dass das Leben in den Anstalten zwar von Terror, Fremdbestimmung, Einsamkeit und Isolation geprägt war, aber die Insass:innen sich auch als Widerstand gegen die Gewalt der Institution Räume für Freundschaft, gegenseitige Unterstützung und Autonomie schufen. Dadurch entstanden Gegenkulturen und Beziehungen – „nearly all mad writers described the strong ties that bound them to their fellow inmates“ (S. 257).

Claire Shaw beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Hörbehinderung und Gehörlosigkeit in der Sowjetunion der 1930er-Jahre. Dabei stützt sie ihre Analyse auf Druckerzeugnisse und Archivberichte über die mehrtägige und jährlich stattfindende Veranstaltung Beregi Slukh! (Schützen Sie Ihr Gehör!). Im Sinne der sowjetischen Gesundheitspolitik wurden Menschen aus der Gehörlosengemeinschaft dazu gebracht, die Bevölkerung über die Prävention von Hörschäden aufzuklären, damit die als rückständig angesehene Gehörlosigkeit bei den utopischen „New Soviet People“ ausgemerzt würde. Shaw zeigt jedoch auch, wie gehörlose Aktivist:innen über diese Zielsetzung hinweg die Aktion nutzten, um ableistische Vorstellungen und soziale Stigmatisierung zu entkräften und auf ihre eigene Identität und ihre Leistungen für die kommunistische Gemeinschaft hinzuweisen.

Der Beitrag von Ulrike Winkler schildert vier unterschiedliche Geschichten von Menschen mit Behinderungen in der DDR, die mit dem Ziel des Abbaus von baulichen Barrieren und Förderung der sozialen Integration verbunden sind. Diese zeigen, wie trotz einer Staatsideologie, die auf gemeinschaftliche Solidarität, Integration und Gleichstellung abzielte, die tatsächlich erfolgten staatlichen Maßnahmen zur Förderung von Inklusion und zum Abbau von Barrieren begrenzt waren, weshalb Ambivalenzen auftraten und auch trotz des Engagements einzelner Bürger:innen viele Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen wurden.

Gabriele Lingelbach und Raphael Rössel untersuchen Kur- und Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien in Ost- und Westdeutschland nach 1945. In beiden Ländern, mehr noch aber in der DDR, kamen die Bemühungen für organisierte Freizeitangebote bei Behinderung eher aus dem Umfeld der Kirchen, später ging die Initiative auch vom Staat aus. Der Fokus lag dabei interessanterweise nicht auf der Förderung der Kinder mit Behinderungen, sondern auf der ihrer Mütter, das heißt auf der Wiederherstellung ihrer Fähigkeit zur Care-Arbeit. Erst durch das Drängen der Mütter, die ihre Kinder auch aus Mangel an Alternativen mitnehmen wollten, wurden zunehmend Zugangsbarrieren sowie Vorurteile abgebaut und die Kinder mit Behinderungen in die Konzeption der Freizeit- und Erholungsaktivitäten inkludiert.

Es folgen zwei Essays, die methodentheoretische Ansätze für die Disability-Forschung vorstellen und ausloten. Sebastian Schlund plädiert für eine größere Beachtung des intersektionalen Ansatzes in der allgemeinen Geschichtsforschung, um komplexe (Diskriminierungs-)Phänomene von mehrfach miteinander verschränkten Benachteiligungen besser analysieren und verstehen zu können. Ergänzend und gegensätzlich dazu weist Nina Mackert in ihrem Beitrag darauf hin, dass nicht die Untersuchung der Abweichung im Fokus stehen soll, sondern auch die Herstellung von Fähigkeitsnormen und ihre Verknüpfung mit Subjektivierungsweisen in einem soziohistorischen Kontext berücksichtigt werden muss, um zu verstehen, wie Barrieren entstanden sind und aufrechterhalten werden.

In den Themenheften der „Zeithistorischen Forschungen“ werden die thematischen Aufsätze von Beiträgen flankiert, die sich im Fall des vorliegenden Heftes mit dem Erschließen neuer Quellen und der vielfältigen Nutzung dieser auseinandersetzen. Der Beitrag von Pia Schmüser weist auf die Problematik, aber auch den Nutzen von Eingaben für die Rekonstruktion von Alltagsgeschichte am Beispiel der DDR hin. Nicholas Watson verweist darauf, dass der Aktivismus für Barrierefreiheit eng mit der Geschichte der Behindertenbewegung verbunden ist. Am Beispiel des anglo-amerikanischen Raums wird thematisiert, wie Rollstühle und Rollstuhlfahrer:innen zuerst ausschließlich medikalisiert, ab den 1950er-Jahren auch politisiert wurden. Nachdem der Rollstuhl als Mittel zur selbständigen Fortbewegung außer Haus verbessert wurde, wurden auch die Umweltbarrieren durch Gehsteige oder im öffentlichen Verkehr als Ungerechtigkeiten thematisiert.

Zum Schluss widmet sich die Rubrik „Neu gelesen“ bzw. „Neu gesehen“ älteren Publikationen und Fernsehbeiträgen, die zu ihrer Zeit wirkmächtig waren. Bücher des US-amerikanischen Psychologen Harlan Lane sowie die ZDF-Serie „Unser Walter“ werden vor dem Hintergrund emanzipatorischer Disability-Forschung neu kontextualisiert, analysiert und bewertet. Der dritte Text hat als einziger (als „Extra“ gekennzeichnet) keinen Bezug zum Heftthema.

Insgesamt erscheinen die Beiträge auch für thematische Outsider gut verständlich. Sie beleuchten das breite Potential der Disability History anhand unterschiedlicher Themen und Zugänge. So zeigt der Beitrag von Michael Rembis die häufig vernachlässigte Perspektive der Anstaltsinsass:innen in der Tradition der auch für die Disability Studies wichtigen People’s History gut gelungen auf. Die Beiträge von Claire Shaw und Ulrike Winkler behandeln Aspekte von Behinderung innerhalb von realsozialistischen Regimes. Sowohl die staatlich-strukturelle Perspektive als auch die Erfahrungen und Handlungen von Betroffenen miteinbeziehend, zeigen beide Autorinnen ideologische Ambivalenzen sowie die Wechselwirkung von Vernachlässigung und Ausschluss durch den Staat und individuellen Handlungsmöglichkeiten auf. Grundsätzlich verstärkt der gemeinsame Fokus einiger Beiträge auf Behinderung im Realsozialismus die thematische Kohärenz des Hefts. Der Beitrag von Gabriele Lingelbach und Raphael Rössel kommt ohne die Einbeziehung der Betroffenenperspektive aus, was schade ist und, wie sie angeben, an dem verfügbaren Quellenmaterial lag. Die zwei methodologischen Essays sind auf hohem Niveau abgefasst und geeignet, die methodentheoretische Diskussion voranzubringen. Auch die beiden anregend praxisrelevant verfassenden Quellenstudien sind bereichernd, wobei das sehr wichtige Thema der Kulturgeschichte des Rollstuhls im 20. Jahrhundert den Rahmen des kurzen Textes etwas sprengt.

Die Beiträge bieten gute Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen in diesem Bereich, dessen geschichtswissenschaftliches Potential mit Sicherheit noch lange nicht ausgeschöpft ist. Ihr Zugang zum Phänomen Behinderung ist jedoch sehr unterschiedlich. Während manche Autor:innen explizit an Erkenntnisse der Disability Studies anknüpfen, wird der Begriff in anderen in seiner alltäglichen und defizitorientierten Bedeutung nicht problematisiert. So muss auch bemängelt werden, dass mitunter Begrifflichkeiten wie „geistige“ Behinderung zum Beispiel in Lingelbachs und Rössels Beitrag verwendet werden, die als veraltet und abwertend gelten und von Betroffenen selbst abgelehnt werden.3

Anmerkungen:
1 Paul Longmore, Why I Burned my Book and Other Essays on Disability, Philadelphia 2003.
2 Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung, Hamburg 2020.
3 Ottmar Miles-Paul, Sprache prägt unser Denken und schafft Realitäten – so auch der Begriff geistige Behinderung, in: kobinet-nachrichten, 15.03.2023, https://kobinet-nachrichten.org/2023/03/15/sprache-praegt-unser-denken-und-schafft-realitaeten-so-auch-der-begriff-geistige-behinderung/ (18.04.2023).