Mit dem Begriff „Audiovisual History“ wollen sich die Herausgeber von dem vom Flensburger Historiker Gerhard Paul geprägten Begriff der „Visual History“ absetzen, weil sich dieser, wie die Herausgeber kritisch anmerken, nur auf die Fotografie beziehe und nicht auf den Kinofilm, um den es ihnen vor allem geht. Die beiden von Paul herausgegebenen Bände „Das Jahrhundert der Bilder“1 thematisieren sehr wohl auch Kinofilme, aber eben daneben viele andere Beispiele visueller Darstellungen. Film als „historische Quelle“ einerseits und als „Historiofotie“ andererseits sind die Schlüsselbegriffe für das von Greiner und Wahl herausgegebene Buch, das neben der Einleitung der beiden Herausgeber acht Beiträge vor allem jüngerer Forscher und Forscherinnen enthält.
Einleitend stellen die Herausgeber ihr Konzept mit Blick auf den von Hayden White geprägten Begriff der „Historiofotie“ vor, der einen „relevanten Unterschied dieser audiovisuellen Historiografie zu geschichtswissenschaftlichen Publikationen […] markieren soll“(S. 11). Da White auch nicht klar benenne, so die Herausgeber, was mit dem Begriff genau gemeint sei, wollen die Herausgeber mit diesem Band Konzepte „des Films als Quelle und Historiofotie“ weiterentwickeln und damit der Audiovision „in der Auseinandersetzung mit der Geschichte angemessen Ausdruck“ verleihen (S. 11).
Zum Quellenbegriff verhält sich Sabine Lenk am Beispiel von Filmen aus der Zeit um 1900 jedoch eher kritisch und sieht den Film, mit Aleida Assmann formuliert, vor allem als „Erinnerungsträger“(S. 24), weil schon die Filme der Jahrhundertwende keine neutralen Dokumente, sondern durch Auswahl des Sujets, Narration, Aufnahmeperspektiven und technische Parameter geprägte Materialien seien, die zudem durch ihre heutige technische Bearbeitung zum Beispiel der Digitalisierung, zusätzlicher Farbgebung etc. längst an heutige Wahrnehmungsformen angepasst und als historische Quelle deshalb wenig brauchbar seien. Sie seien stattdessen als Erinnerungsträger ein Element der kollektiven Erinnerung, die immer wieder neu durch Filme und anderem (eben auch durch die Bearbeitungen) stimuliert werde. Ihre Ablehnung der Quellenfunktion ist etwas überspitzt, denn auch der Film unterscheidet sich als Quelle nicht grundsätzlich von schriftlichen Quellen, denn diese werden ja auch einer Quellenkritik unterzogen und wurden nur selten bei ihrer Entstehung bereits mit Blick auf ihre Eigenschaft als Quelle für eine spätere Geschichtsschreibung verfasst.
Rasmus Greiners Beitrag versucht das Konzept der Historiofotie theoriebezogen zu erläutern und entwickelt dafür zahlreiche neue Begriffe, von der „Metahistoriofotie“(S. 36 f.) bis zu den „Polyspheres“, unter denen er „zeichenhaft und strukturierte Erfahrungsräume, die sich erst im Prozess der Rezeption manifestieren“(S. 37) versteht. Er erläutert seinen Ansatz an Hand eines „Überläuferfilms“, also eines Films, der vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gedreht, aber erst nach ihm in die Kinos kam. Er stieß deshalb bei seiner Rezeption auf einen veränderten Kontext, in dem vom Publikum vieles anders verstanden wurde als es ursprünglich konzipiert war. Das macht ihn für die Bedeutungsverschiebungen in der Rezeptionsanalyse interessant. Greiners Beispielfilm ist Hans Deppes „Wie sagen wir es unseren Kindern“ (1944/49).
Am Konzept der Historiofotie knüpft der Beitrag von Julian Weinert über den Film „The Falconer“ (UK 1998) von Chris Petit und Iain Sinclair an. Er betont in Fortsetzung des Begriffs des „Biofilms“ und der „Biofotie“ nach Moulin, dass der Film eine „ernstzunehmende Möglichkeit“ darstellt, „parallel oder ergänzend zu biografischen Texten Lebensgeschichten (zu) thematisieren“(S. 118). Das ist sicherlich unbestritten, aber bedarf es dazu dieser neuen Begrifflichkeit? Weinert arbeitet sich vor allem am Konzept des Essayfilms ab, um in ihm eine Form filmischer Historiografie zu entdecken. Dabei schien das alles mit den Arbeiten von Christina Scherers2 und Hanno Möbius3 schon selbstverständlich. Sein Beispielfilm ist die Biografie des Filmemachers, Falkners und Schriftstellers Peter Whitehead, die in einer Montage unterschiedlicher filmischer Materialien, darunter auch digitale Animationen, dargestellt wird, wobei Weinert die ironische Haltung der Filmemacher betont, die die Form der „film biography“ selbst in Frage stelle (vgl. S. 129).
Für Chris Wahl sind Filme „zuallererst als ein Medium der Erinnerung zu verstehen“ (S. 77), Parallelen bestehen für ihn „zwischen Film und Erinnerungen, weniger zwischen historischen Filmen und Historiographie“ und er sieht ein ganzes Spektrum an möglichen Formen der Beschäftigung mit dem Erinnerungsfilm“: „Film als geträumte Recherche“(S. 78), „Film als alterative Geschichte“(S. 79), „Film als experimentelle Medienarchäologie“(S. 80), „Film als historische Erfahrung“(S. 80), „Film als mediales Gedenken“(S. 82) und „Film als dynamische Zeitschaft“(S. 83). Er thematisiert dies am Beispiel des französischen Spielfilms „La vieux fusil“ („Das alte Gewehr“, 1975) von Robert Enrico, in dem es um die Rache für die Verbrechen der SS in Oradour geht. Wahl stellt „La vieux fusil“ in den Kontext vergleichbarer Filme und ihrer Rezeption in Frankreich und Deutschland. Es entsteht ein sehr vielschichtiges Bild von der Bedeutung der filmischen Thematisierung für das gesellschaftliche Wissen von diesen Verbrechen. Deutlich wird hier – wie auch in den folgenden Beiträgen –, dass der Begriff der Erinnerung für die verschiedenen Analysen zentraler ist als der der Historiofotie, und dass es letztlich um den Einfluss von Filmen auf die kollektive Erinnerung, auf das historische Bewusstsein der Gesellschaft geht.
Melanie Konrad untersucht frühe Kurzfilme von Alexander Kluge und sieht in deren Nähe zum Amateur-Familienfilm den Ursprung für die spezifische Form Kluges, sich mit der Geschichte über Erinnerungen zu beschäftigen. Eine Parallele sieht sie darin zu Jutta Brückners Film „Tue recht und scheue niemand“ (1975), in dem Brückner sich mit dem Leben ihrer Mutter auseinandersetzt.
Lea Wohl von Haselberg fragt in ihrem Beitrag über „Autobiografische Erinnerungsfilme der dritten Generation nach der Shoah“ (S. 139ff.) nach der Bedeutung und Funktion derartiger Erinnerungsfilme, in denen es auch um die Auseinandersetzung der Filmemacher:innen mit gegenwärtigen Debatten um die Erinnerungskultur und aktuelle politische Konflikte geht. Zentral sind für sie deshalb die Formen der Autobiografie, der generationsspezifischen Hinwendungen zur Vergangenheit und der Erinnerung. Neue Aspekte zur Historiografie beizutragen vermögen Filme, in dem sie filmisch individuelle Geschichte erlebbar machen. Sie zugleich in größere Kontexte der Zeitgeschichte zu stellen, erklärt ihre Bedeutung.
In ähnlicher Weise gelingt es, so Daniel Körling in seinem Beitrag, Volker Koepps Dokumentarfilmen über Ostpreußen historisch verwertbares Wissen über diese Region bereitzustellen. Koepps Filme liefern in ihren Berichten über Bewohner der Region, über Orte und ihren Hinterlassenschaften sowie den neueren, oft touristischen Annäherungen sehr viel Material für eine allgemeine Geschichtsschreibung eines wenig erforschten Gebiets.
Der Beitrag von Andre Bartoniczek über die Filme von Andres Veiel (unter anderem „Black Box BRD“, 2001) zeigt die Möglichkeiten des Films für die Geschichtsschreibung und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschichte. Für Bartoniczek geben Filme Anstöße zur „Erinnerungstätigkeit“(S. 194), weil in den Filmen selbst „Erinnerungsbewegungen“ (S. 195) von der Gegenwart aus in die Vergangenheit stattfinden und diese miterlebt werden können.
Am Anfang versprechen die Herausgeber ein „multiperspektivisches Spektrum“(S. 11) an Beiträgen. Das macht dann auch den Gewinn des Buches aus. Die Bemühungen um eine neue Terminologie überzeugen dabei weniger als die profunden Beiträge über einzelne Filme, Sujets und Phasen der Vergangenheit, mit denen sich die Verfasser beschäftigen und dabei Konstruktionen von Erinnerungen und Erinnerungsarbeit herausarbeiten. Der Kinofilm steht klar im Vordergrund, von den zahlreichen oft mehrteiligen historischen Fernsehfilmen der letzten Jahre ist leider nichts zu lesen. Die Verpflichtung der Beiträger und Beiträgerinnen auf die Explikation ihres Ansatzes und auf detaillierte Filmanalysen stellt das Buch in einen dezidiert medienwissenschaftlichen Kontext, Beiträge, die die Bedeutung des Films für die Zeitgeschichtsschreibung aus allgemein historiografischer Sicht beleuchten, wären zusätzlich wünschenswert gewesen.
Anmerkungen:
1 Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute, Göttingen 2008; ders. (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1900 bis 1949, Göttingen 2009; vgl. dazu die Rezension von Wolfgang Ullrich, in: H-Soz-Kult, 14.08.2009, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11873 (17.11.2023); Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006; vgl. dazu die Rezension von Miriam Yegane Arani, in: H-Soz-Kult, 16.11.2006, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-8956 (17.11.2023).
2 Christina Scherer, Ivens, Marker, Godard, Jarman. Erinnerung im Essayfilm, München 2001.
3 Hanno Möbius, Versuche über den Essayfilm, Marburg 1991.