Der Greifswalder Historiker bietet in seinem umfangreichen Werk einen Durchgang durch 1000 Jahre litauischer Geschichte mit chronologischer Grundierung, aber fokussiert auf zentrale Themen von der ersten Erwähnung des Namens „Litauen“ bis zur Jahrtausendfeier des Staates Litauen im Jahre 2009. Dabei unterscheidet er vier Epochenblöcke, vermeidet aber die üblichen Epochenzuschreibungen wie „Mittelalter“, „Frühe Neuzeit“ et cetera, sondern orientiert sich ‒ ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs εποχή ‒ an den Wendepunkten und Schlüsseldaten einer Geschichte Litauens.
Kapitel 1 und 2 behandeln die Zeit von der ersten quellenmäßigen Erwähnung Litauens (1009) bis zur litauisch-polnischen Union von Lublin (1569) und von dort zur dritten litauisch-polnischen Teilung (1795). Obwohl dieser letztgenannte Zeitabschnitt eigentlich Niendorfs Hauptforschungsgebiet darstellt und Darstellungen dazu im deutschsprachigen Raum immer noch einen gewissen Seltenheitswert besitzen, widmet der Verfasser ihm nur etwas mehr als ein Sechstel des Umfangs seiner Darstellung, während die Zeit von 1795 bis 1918 (Kapitel 3) und von 1918 bis 2009 (Kapitel 4) über zwei Drittel füllen. Einen Schwerpunkt hat Niendorf bewusst in die Zwischenkriegszeit gelegt, mit dem Argument, dass diese Epoche sowohl inner- als auch außerakademisch das derzeit größte Interesse finde. Es bleibt offen, ob dies dem vermeintlich öffentlichen Interesse geschuldet ist und ob diese Ausrichtung eher der Autor oder der Verlag zu verantworten hat. Niendorf hätte sich ja im Gegensatz dazu auch entschließen können, bewusst andere Epochen in den Blick zu nehmen, um das Bild der litauischen Geschichte in der Öffentlichkeit zu diversifizieren und so einen pädagogischen Effekt zu erzielen.
Lobend hervorzuheben ist, dass Niendorf eine durchaus kritische Haltung vertritt gegenüber dem im offiziellen litauischen Narrativ gerne hergestellten Nexus zwischen dem modernen Staat Litauen, wie er seit 1918 besteht, und dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Großfürstentum Litauen, dessen Staatlichkeit zunächst in mehreren Unionen mit dem Königreich Polen und schließlich mit der dritten litauisch-polnischen Teilung (1795) von der politischen Landkarte Europas getilgt wurde. Die zwischen 1795 und 1918 unter zarischer Herrschaft stehenden, ehemals großfürstlich-litauischen Gebiete und ein erst spät und unter dem Eindruck der polnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts sich entwickelndes litauisches Nationalbewusstsein rechtfertigen dieses Unbehagen gegenüber Thesen von der historiographischen Kontinuität. Man darf sich gleichwohl fragen, warum Niendorf eine „Geschichte Litauens“ dann aber letztlich doch in einem Band abhandelt, der die ethnisch, sprachlich, sozioökonomisch, politisch, rechtlich und territoriell völlig unterschiedlichen Gemeinwesen (Großfürstentum / Republik) nicht nur physisch zwischen zwei Buchdeckel presst, sondern selbst das staatenlose 19. Jahrhundert unter zarischer Herrschaft als Teil einer Geschichte Litauens behandelt. Wie also sieht das einigende Band aus? Was rechtfertigt eine tausendjährige Geschichte unter dem Label "Litauen"? Gibt es in dieser Hinsicht mehr als eine territorialpolitische Titulatur? Um eins vorwegzunehmen: Das litauische „Volk“ oder die litauische „Nation“ sind für Niendorf jedenfalls nicht die Träger einer Geschichte Litauens. Er wendet sich sogar explizit gegen eine „Volksgeschichte“, wie sie noch bis ins späte 20. Jahrhundert selbst von nichtlitauischer historiographischer Seite gern erzählt wurde (für den deutschsprachigen Raum zum Beispiel von Manfred Hellmann). Niendorf geht stattdessen von den territorialen Zuschreibungen aus, die mit dem Begriff „Litauen“ zu ihrer jeweiligen historischen Zeit evozierbar waren, ganz „unabhängig von […] Herkunft, Sprache oder Religion“ der Menschen, die das jeweilige Territorium bewohnten (S. 5). Doch auch das Territorium besaß im Laufe der Jahrhunderte weder eine feste Größe noch eindeutige Gestalt. Vielmehr haben wir es bei Litauen mit einem quasi immer neuen politischen und geographischen Gebilde zu tun. Es kommt hinzu, dass Litauen insbesondere in den älteren Perioden eine religiöse und sprachliche Vielfalt besaß, die im 20. und 21. Jahrhundert schon aufgrund des reduzierten Staatsterritoriums deutlich geringer wurde, gleichwohl aber nie verschwunden und erst wieder in ihrer Fülle zu entdecken ist. Auch das macht eine eindeutige semantische Bestimmung des Namens „Litauen“ schwierig.
Wichtig ist Niendorf bei seiner Darstellung schließlich, einen „Blick ‚von oben‘ mit einem Blick ‚von unten‘“ zu kombinieren. Es gehe ihm um die „konkreten Lebenswelten“, um eine Darstellung von „Hütten und Palästen oder Straßen und Plätzen“ ebenso wie um „menschliche Schicksale“, das heißt um einen biographischen Zugang der Geschichte Litauens (S. 5). Diesen Anspruch kann Niendorf für die Epochen bis 1569 aufgrund der schlechten Quellenlage allerdings kaum umsetzen. Besser gelingt dies für spätere Perioden, wenn er etwa im dritten Kapitel über die „gesellschaftliche Gliederung“ und am Beispiel einer lokalgeschichtlichen, teilweise auch alltagsgeschichtlichen Studie über die „Möchtegern-Hauptstadt“ Grodno sinniert. Gerade für die Zeit vor 1918 allerdings darf man fragen, was es in einem ständisch gegliederten, von Staatlichkeit, Staatsbürgerlichkeit, Grund- und Gleichrechtlichkeit noch weit entfernten Untertanenverband mit einer „gesellschaftlichen Gliederung“ auf sich hat, was also eine konglomeratisch und politisch bestenfalls korporativ verfasste Bevölkerung zu einer „Gesellschaft“ machte.
Über die innerterritorialen Aspekte hinaus diskutiert Niendorf auch die Sinnhaftigkeit einer Geschichte Litauens im Rahmen einer „transnationalen“ und einer „Verflechtungsgeschichte“. Hintergrund ist die Tatsache, dass in Litauen derzeit eine Rückbesinnung auf die Nationalgeschichte stattfindet und ein nicht weniger als zwölfbändiges Werk entsteht, das die historiographischen Positionen der Zwischenkriegszeit angesichts einer offenbar als bedrohlich empfundenen Europäisierung und Globalisierung der litauischen Politik, Wirtschaft und Kultur wiederzubeleben versucht. Um ein Gegengewicht zu setzen, thematisiert Niendorf etwa im ersten Kapitel ganz bewusst den „Blick des Westens“ auf das „heidnische“ Litauen. Im zweiten Kapitel geht er auf Selbst- und Fremdbilder über Litauen und „Eingriffe von außen“ ein und betont im dritten Kapitel Litauens kulturelle Kontakte mit den europäischen Mächten, insbesondere Polen. Gleichwohl beharrt Niendorf darauf, dass den Kern einer solchen Erzählung ‒ insbesondere für ein nicht-litauischsprachiges Publikum ‒ eine akkurate, faktologisch zuverlässige und sich auf die wesentlichen Entwicklungen und Wendepunkte konzentrierende Darstellung bilden muss.
Fast 40 Prozent des Bandes (rund 200 Seiten) entfallen auf den Anhang. Er enthält einen gewaltigen Anmerkungsapparat, eine diesem gegenüber eher knappe Auswahlbibliographie westsprachlicher Forschungsliteratur, eine überaus nützliche Aussprachehilfe, eine kurze Zeittafel, eine Liste von Herrschern und Spitzenpolitikern, ein Abbildungs- und Kartenverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister.
Insgesamt ist Niendorf mit dem vorliegenden Werk eine Darstellung gelungen, die bei allen hier formulierten teils kritischen Anmerkungen zu prinzipiellen Fragen der Geschichte Litauens als zuverlässiger Begleiter sowohl für interessierte Laien als auch professionelle Historikerinnen und Historiker gelten darf. Sie füllt zudem eine empfindliche Lücke in der deutschsprachigen historiographischen Literatur: Niendorfs Werk ist die erste umfassende deutschsprachige Abhandlung zur Gesamtgeschichte Litauens seit Manfred Hellmanns eher schmalen, 1966 erstmals und am Ende seines Lebens in vierter Auflage 1990 erschienenen „Grundzügen der Geschichte Litauens und des litauischen Volkes“.