„Gestern, der schlimmste Tag meiner Theresienstädter Zeit“, notierte sich der jetzt 61-jährige frühere Reichsfinanzrat und Richter am Reichsfinanzhof Rolf Grabower in einer seiner in die Hunderte gehenden Notizen Ende November 1944. Dabei hatte der promovierte Jurist und Nationalökonom, der als Katholik mit drei jüdischen Großeltern trotz seiner Offizierslaufbahn im Ersten Weltkrieg schlussendlich doch das Reichsfinanzministerium in Richtung München verlassen musste, seit Beginn der Deportationszeit stets Glück im Unglück gehabt. Obwohl er bereits als stellvertretender Transportleiter bei der Verschleppung aus München nach Kaunas eingeteilt gewesen war, entging er der tödlichen Evakuierung am 20. November 1941. Und auch im zweiten Transport aus der bayerischen Metropole nach Piaski am 3. April 1942 saß er nicht, obwohl Grabower als Arbeitseinsatzleiter für Juden in der Flachsröste Lohhof nahe München nur vier Tage länger eingesetzt blieb und auf der Transportliste stand. Er war nicht unabkömmlich gewesen. Jemand musste ihn beschützt haben, und Grabower sollte nach dem Krieg nicht mit Persilscheinen geizen. Am 19. Juni 1942 fuhr der seit fast 18 Jahren alleinstehende und kinderlose frühere Ministerialbeamte mit 49 anderen Personen nach dem Ghetto Theresienstadt ab.
Pauline Arndt hat die Geschichte dieses Mannes rekonstruiert und sich hierbei vor allem Grabowers Tätigkeit im Ghetto der böhmischen Festungsstadt gewidmet. Eine klassische Biografie will diese Arbeit nicht darstellen, und doch hat die Autorin Hindernisse überwunden, die ihre Selbstbescheidung hinterfragen. Dies liegt zuerst einmal an der Quellenlage.
Der Begriff des Nachlasses ist im Falle Grabowers nämlich kaum zutreffend, vielmehr handelt es sich um ein Mappenkonvolut, das viele Jahre im Keller der Bundesfinanzakademie lagerte und definitiv unvollständig ist. Im Nachlass des Berliner Sammlers Wolfgang Haney befindet sich eine Originalakte aus exakt diesem Konvolut. Aus ihr erfährt man, wie sich der Protagonist der vorliegenden Dissertation heftig und erfolgreich um eine Position in der Arbeitszentrale der jüdischen Selbstverwaltung Theresienstadts beworben hatte, und zwar mit dem, was er seit Jahrzehnten konnte: die steuerliche Erfassung von Löhnen und Umsätzen. Und mehr noch: Am 20. Dezember 1942 informierte der Leiter der Arbeitszentrale, sämtliche Abteilungen und Betriebe hätten „unserem Mitarbeiter“ Grabower sämtliche Unterlagen zwecks Arbeitsstundenerfassung vorzulegen. Damit konnte er die verpflichtende Hundertschaftsarbeit bei den Maurern verlassen und sich im Wasserkopf der überbürokratisierten jüdischen Verwaltung einen Posten erschaffen, der später zum Arbeits- und Disziplinarrichter führen sollte. Grabowers Eingruppierung als „A-Prominenter“ seit 1943 sicherte den Schutz vor den Deportationen aus dem böhmischen Ghetto ab.
Hinzu kommt, dass das Material Grabowers erst entziffert werden muss, um es in einem zweiten Schritt mit anderen Gerichtsmaterialien im Bundesarchiv oder Yad Vashem zu verknüpfen. Die Herausforderung, zahllose Namens-, Organisations- und Maßnahmenkürzel zu klären, sie in Einklang zu bringen mit dem Rechtssystem Theresienstadts und dabei Grabower als Akteur quellenkritisch zu beurteilen, ist Pauline Arndt hervorragend gelungen. Unzählige Details der Disziplinarordnung werden hier geklärt, unzählige Abgrenzungen von Zuständigkeiten zwischen Detektivabteilung, Abteilungsleitern und Ältestenrat verdeutlichen die Grauzonen von Kompetenzen, wenn es um die Strafwürdigkeit auch der kleinsten Verfehlungen geht. Gerade hier liest sich die alltägliche Not der Ghettobevölkerung spiegelbildlich aus ihren Normverstößen heraus; eine Not, die Grabower in seinen dienstlichen Wertungen so gut wie nie würdigte. Was er jedoch immer wieder praktizierte, war seine Selbstversicherung der vorurteilsfreien und stets fairen juristischen Vorgehensweise. Manchmal scheint es, als würde er schriftlich bestätigen müssen, was ihn im Alltag leitete. Derlei Auffälligkeiten erhöhten bei der Autorin die Sensibilität für Grabowers Entscheidungen und bei seinem allgemeinen Auftreten zugleich. Für ihn war buchstäblich jeder Versuch von Angehörigen oder dritter Seite, seine Haltung als Rechtsinstanz zu diesem oder jenem Falle auch nur zu erfahren, bereits ein Versuch der Einflussnahme. Derlei Initiativen verachtete er, solche Leute waren in den Notizen regelmäßig „unverschämt“. Und er bewegte sich in heute kaum noch nachvollziehbaren juristischen Kategorien, wenn er Jugendliche ab 16 Jahren in Theresienstadt nicht mehr unter Jugendrecht gestellt wissen wollte. Bei der „Ausschleusung“ genannten Deportation von 2.500 Menschen unter dem Kürzel Eb war Grabower zur Prüfung von Rückstellungen direkt dabei und monierte die Verfahrensweise, ohne ein Wort über das Glück, vom Transport nach Auschwitz verschont zu bleiben, zu verlieren. Es dokumentiert ein Paradebeispiel von Déformation professionnelle, wenn Grabower seine Beiträge zum kulturellen Vortragsangebot in Theresienstadt besonders auf Beamte zuschnitt und enttäuscht über das Publikum war. Kein Wunder also, wenn Grabowers „schlimmster Tag“ in dessen Theresienstädter Zeit eine verpasste Vorlage anlässlich einer Sitzung der Berufungskammer war, seine Diätküchenprüfung auf Bedenken stieß und er erfahren musste, dass eine Reihe von Arbeitsgerichtssachen ohne seine Beteiligung erledigt worden waren.
Pauline Arndts Studie ist chronologisch aufgebaut, kontextualisiert das Individuum stets in die historische Situation an den Orten München, Milbertshofen, Lohhof und Theresienstadt sowie im Ausblick in die Nachkriegszeit hinein. Ihre Schlussbetrachtung zur Person ist angesichts der außergewöhnlichen Position Grabowers im Ghetto Theresienstadt besonders gut gelungen. Dem heutigen Publikum das Werte- und Normengefüge eines Spitzenbeamten aus der Reichsverwaltung nahezubringen ist bereits eine bemerkenswerte Leistung. Grabowers ministerialer Dünkel wird deutlich greifbar. Hinter dem „Appendix“ genannten Kapitel verbirgt sich die kommentierte Wiedergabe von Grabowers Wochenberichten, und es gelingt der Autorin immer wieder, die Überlieferung als Konvolut interessant zu beschreiben. Es ist der Autorin zuzustimmen, wenn sie abschließend bemerkt, das letzte Wort zu Rolf Grabower sei noch nicht gesprochen, auch wenn sie mit ihrer Dissertation Maßstäbe zu setzen weiß. Beim Weglegen der Studie fragt man sich, ob Rolf Grabower und H.G. Adler als großer Kritiker der jüdischen Selbstverwaltung Theresienstadts wohl jemals miteinander korrespondiert hatten.