K. Lindel: „Popularität“ in der deutschen Hochaufklärung

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Titel
„Popularität“ in der deutschen Hochaufklärung. Konzepte der Wissenspopularisierung zwischen Volksaufklärung und philosophischer Ästhetik


Autor(en)
Lindel, Korbinian
Reihe
Literatura (51)
Erschienen
Baden-Baden 2022: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
152 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Die vorliegende Studie bietet einen anregenden Diskussionsbeitrag zur Philosophie-, Literatur- und Aufklärungsgeschichte. Sie befasst sich mit den Diskussionen um einen spezifisch „populären“ Stil in theologischen, philosophischen und rhetoriktheoretischen Zusammenhängen, wobei es dem Autor um Popularität in doppelter Bedeutung geht, nämlich um Verständlichkeit im Vortrag und um die „Popularisierung“ spezifischer Inhalte. Sein Gegenstand ist die Aufklärungsphilosophie, genauer die maßgeblichen ästhetischen Entwürfe der Aufklärung.

Gegenüber dem Forschungsbefund, die Debatte über „Popularität“ habe ihre Ursprünge im „Breitenschrifttum“ der 1770er-Jahre, stellt Lindel zu Recht fest, dass die Diskussion der damit verbundenen Sache nicht erst mit diesem Begriff begann, sondern Fragen eines gemeinverständlichen Stils und der Herausbildung einer allgemeinen Aufklärung, die von den Zeitgenossen seit den 1780er Jahren als „Volksaufklärung“ bezeichnet wurde, ebenso wie die Selbstverständigung der Träger dieser allgemeinen Aufklärung über die eigenen Ziele und Methoden erheblich älter sind. Diese Feststellung ist nicht neu, sondern sie kann sich, wie Lindel dies auch tut, auf Forschungen beziehen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrere tausend Texte zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum präsentiert haben, die vor deren bibliographischer Erschließung „kaum oder, noch häufiger, gar nicht bekannt waren“.1 In den gedruckten Texten, in denen Gebildete miteinander über Volksaufklärung kommunizierten, erschlössen sich, so Lindel, frühe Etappen einer „Wissensgeschichte des Populären“, die dem programmatischen Gebrauch des Begriffs „Popularität“ um Jahrzehnte vorausgegangen seien.

Die zentrale Ausgangsthese der Studie lautet, die methodische Zentralforderung der frühen Volksaufklärer nach einer anschaulichen Darstellungsweise sei ganz wesentlich von Ideen der Aufklärungsphilosophie und der philosophischen Ästhetik mitgeprägt, ja, es soll der historische Zusammenhang von Volksaufklärung und Aufklärungsästhetik beleuchtet werden, um so zwei „weithin parallel geführte Betrachtungsweisen der deutschen Aufklärung“ zu verbinden (S. 13). Den Quellentexten und der damit verbundenen interdisziplinären Herausforderung will der Autor mit einem wissensgeschichtlichen Ansatz begegnen, der die einzelfachlichen Betrachtungsweisen unter der Perspektive der Philosophie zusammenführen soll. Neben den im engeren Sinne volksaufklärerischen Quellen bezieht Lindel solche Ästhetiken in seine Betrachtung ein, deren breite Rezeption einen Einfluss auf das Selbstverständnis der Volksaufklärung in ihrer Frühphase anzunehmen erlaube. Während Baumgartens lateinischsprachige „Aesthetica“ als erster systematischer Plan der Ästhetik generell als dunkel beklagt und kaum gelesen worden sei, hätten Georg Friedrich Meiers „Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften“ von 1748/49/50 im Bücherregal eines jeden gebildeten Haushalts gestanden. Damit wird die Entscheidung begründet, die in der Einflusssphäre der Meierschen Ästhetik entstandenen Theorieschriften zur Volksaufklärung in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen. Deren Verfasser seien als Ärzte oder Landgeistliche Multiplikatoren in der Lebenswelt des „gemeinen Mannes“ gewesen.

Meiers Ästhetik ist in der Tat bedeutend, indem sie „die Gründe aller Schönheiten im Denken zu entwickeln“ sucht, die Wahrheiten der höhern Wissenschaften „auf eine reitzende und angenehme Art“ vortragen will und das Ziel verfolgt, „den Geschmack der Deutschen zu verbessern“ sowie „die Ausbreitung der Wahrheiten“ zu fördern, indem die Ästhetik tausend Kunstgriffe an die Hand gebe, die Wahrheit unter tausend Gestalten auftreten zu lassen“ (Anfangsgründe, Bd. 1, 1748, Vorrede u. S. 22). Lindels Feststellung, dass im Zentrum von Meiers „Anfangsgründen“ das Programm einer über den gelehrten Stand hinausgreifenden Aufklärung stehe und umgekehrt viele Volksaufklärer die Ideen aus dem ästhetischen Diskurs in ihre Konzepte integriert und transformiert hätten, ist tatsächlich neu.

Beispielhaft geht Lindel auch der durch Theologen geführten Debatte um Popularität in der deutschen Aufklärung nach, um als Ergebnis die enorme Orientierungsleistung hervorzuheben, die Ideen aus der Popularästhetik bis weit in die 1780er-Jahre auf die Geistlichen gehabt hätten. Diskutiert wird sodann das Konzept der „Herablassung“, das in der Theologie wie in der Volksaufklärung eine große Rolle spielte, es folgen Kapitel zur „ars popularis“ und zum Publikum sowie zu inklusiven Popularitätsmodellen der „Hochaufklärung“. Nicht zuletzt wird die Behauptung einer „Volksaufklärung ohne Volk“ diskutiert und darauf hingewiesen, dass Selbstbildungsinitiativen für die Breitenwirkung der Volksaufklärung wichtig waren. Interessant auch die Gedanken zu den Zusammenhängen von Physikotheologie und Volksaufklärung.

Lindl durchmisst das gesamte Feld der Verschränkungen von Volksaufklärung und Ästhetik und bietet dem Leser interessante Fragestellungen, regt aber auch zu Widersprüchen an. Auf ein zentrales Missverständnis sei hier hingewiesen: Der Autor meint feststellen zu können, dass die bibliographische Erschließung der volksaufklärerischen Literatur, an der der Rezensent beteiligt war, von der Grundsatzentscheidung einer Trennung bzw. Trennbarkeit von Volksaufklärung und philosophischem Höhenkamm ausgegangen sei. Dass es eine solche Grundannahme keinesfalls gab, mag Reinhart Siegerts 2002 getroffene Feststellung im „Grundriss der Geschichte der Philosophie“ verdeutlichen: „Die Volksaufklärung war kein eigener Zweig aufklärerischen Denkens, sondern der Versuch, Grundgedanken der aufklärerischen Philosophie in das praktische Leben einzuführen.“2

Dass bei Lindel überhaupt der Eindruck entstehen konnte, die Debatte über eine allgemeine Aufklärung habe von den gleichzeitigen Entwicklungen der „Hochaufklärung“ getrennt werden sollen, hat arbeitstechnische Gründe, die bei der Entstehung von Band 1 – er verzeichnet die Schriften von den Anfängen bis 1780 – der Bibliographie zu bedenken sind. Der unter den Bedingungen der 1980er Jahre entstandene Band – man war auf Karteikarten, die Bücherlexika von Kayser und Heinsius sowie die umständlich-aufwendige Fernleihe oder Reisen angewiesen – blieb auf die Konzentration auf volksaufklärerische Schriften im engeren Sinne beschränkt, wollte man ihn jemals abschließen. Verzeichnet wurden damals 1.494 Titel, in unserer Datenbank aber finden sich dreißig Jahre später für Nachträge mit dem Deskriptor „nach Redaktionsschluss“ um die 2.600 zusätzliche Titel, die nicht zuletzt durch die wunderbaren neuen elektronischen Hilfsmittel zur Kenntnis gekommen sind. Der Kern der volksaufklärerischen Literatur allerdings ist im ersten Band der Bibliographie gleichwohl bereits enthalten, darüber hinaus auch nicht wenige Schriften der Aufklärungsphilosophie. Zentrales Anliegen war damals die Kritik an dem restriktiven Aufklärungsverständnis einer manchmal auch heute noch anzutreffenden Aufklärungsforschung, die ihren Gegenstandsbereich auf die gelehrte Kommunikation der Eliten eingrenzt und solche Texte meidet – manchmal auch ihre Existenz verschweigt oder ihre Bedeutung bestreitet –, die an breitere Bevölkerungsschichten gerichtet waren oder Fragen der Volksbildung diskutierten. Eine Dichotomie von Volksaufklärung und Aufklärungsphilosophie zu konstruieren, ist also niemals beabsichtigt gewesen. Für die damaligen Forschungsmotive ist zu bedenken, dass es in der Aufklärungsforschung traditionell als unzweifelhaft galt, dass die deutsche Aufklärung vorwiegend Selbstaufklärung der Eliten gewesen sei und den Weg zu breiteren Bevölkerungskreisen weder gesucht noch gefunden habe. Dagegen war mit den Quellen zu argumentieren und die Überzeugung vieler Aufklärer in den Mittelpunkt zu stellen, dass ohne einen universalistischen, alle Menschen einbeziehenden Anspruch von einer Aufklärung überhaupt keine Rede sein kann.

Der Forderung, eine Scheidung von volksaufklärerischer und philosophischer Debatte zu vermeiden, kann also nur zugestimmt werden, ja, es führt zu fruchtbaren Ergebnissen, deren Verschränkungen zu analysieren. Indem Lindel zeigen kann, dass es in seinem Untersuchungszeitraum von 1740 bis 1790 am Beispiel der Hallenser Ästhetik wesentliche Zusammenhänge von philosophischer Theoriebildung und früher Volksaufklärung gibt, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Aufklärungsforschung.

Einspruch wäre gegen die Behauptung zu erheben, Christian Wolff habe philosophische Fragen und Belange von der Popularisierung noch prinzipiell freigestellt; für die Wirkungsmächtigkeit der Schulphilosophie auf die praktische Aufklärung und die Volksaufklärung ist Wolff das wichtigste Beispiel. Schon bei Wolff ist zu finden, was Lindel bei Meier entdeckt, dass dieser nämlich den Wert der Erkenntnis nicht mehr absolut, sondern nach Maßgabe lebenspraktischer Tauglichkeit bemisst. Früh schon hat Wolff unter dem Primat des Praktischen und des für den Alltag Nützlichen gegen jene Philosophen und Gelehrte polemisiert, die sich in selbstgenügsamer Gelehrsamkeit gefielen. Wolffs Programmatik einer dem Gemeinnutz verpflichteten, auf das Praktische und den Alltag gerichteten Aufklärung enthält bereits die wesentlichen Grundgedanken und Motive der späteren Volksaufklärung. Jedes Konstruieren eines grundlegenden Gegensatzes von rationalistischer Schulphilosophie und Volksaufklärung erscheint somit als abwegig, bedenkt man auch noch, wie viele Träger der frühen Volksaufklärung durch die Wolffsche Philosophie geprägt waren. Ja, selbst beim „gemeinen Mann“ gab es eine Reihe von Schülern, die meinten, aus seiner Philosophie ihr Recht ableiten zu dürfen, zu philosophieren und selbst zu denken; mit dem Schmied Johann Valentin Wagner nennt Lindel einen von ihnen, ein weiterer bedeutender ist der Kleinbauer Johann Ludewig.3

Mit einem Fazit soll Lindel noch einmal ausdrücklich recht gegeben werden, dass nämlich bei der Rekonstruktion der Herausbildung einer universalistischen, ausdrücklich alle Menschen einbeziehenden Aufklärung nach dem heutigen Wissensstand sehr viel breiter auch Debatten der sogenannten „Hochaufklärung“ einzubeziehen sind; zusätzlich wären aus den Bereichen der Übersetzungen und der Schönen Literatur Beispiele wichtig. Für die Fragen der Popularität endlich dürfte auch die lateinischsprachige philosophische Literatur einschlägig sein. Auf jeden Fall wäre noch deutlicher jeder Vorstellung entgegenzutreten, dass es sich bei Hoch- und Volksaufklärung um zwei Teile handele, die einander ohne Schnittmenge gegenüberstünden. Dies ist mit den heutigen Werkzeugen des Bibliographierens und dem viel besseren Zugang zu den Quellen inzwischen sehr viel leichter nachzuvollziehen. Beispielhaft dafür, was zusätzlich an Wichtigem für die Entstehung der Volksaufklärung zu nennen ist, kann etwa Johann Georg Sulzers Werk „Kurzer Begriff aller Wissenschaften“ von 1745 genannt werden, das Lindel vorstellt, weil es in bemerkenswerter Weise den Nutzen der Weltweisheit auch für Bauern begründete. So soll der vorliegenden Studie, bei der es sich offenbar um eine akademische Abschlussarbeit handelt, höchstes Lob ausgesprochen werden. Dem Rezensenten war es jedenfalls eine Freude, bei der Lektüre erleben zu dürfen, zu welch fruchtbaren Fragen die von ihm und Reinhart Siegert der Forschung bereitgestellten Texte hier geführt haben.

Anmerkungen:
1 Holger Böning / Reinhart Siegert, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1: Holger Böning, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Bd. 2.1 u. 2.2: Reinhart Siegert / Holger Böning, Die Volksaufklärung auf ihrem Höhepunkt 1781–1800; Bd. 3.1, 3.2, 3.3, 3.4: Reinhart Siegert, Aufklärung im 19. Jahrhundert – „Überwindung“ oder Diffusion? Stuttgart 1990, 2001, 2016.
2 Reinhart Siegert, Volksaufklärung. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe, hrsg. von Helmut Holzhey, Bd. 5: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Basel 2014, S. 415–424, 445–447, hier S. 416 [verfasst wurde dieser Beitrag bereits 2002].
3 Zahlreiche Beispiele für andere solcher Autodidakten einschließlich von 600 entsprechenden Kurzbiographie finden sich in: Holger Böning / Iwan-Michelangelo D’Aprile / Hanno Schmitt / Reinhart Siegert (Hrsg.), Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von „Autodidakten“ unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Mit 600 Kurzbiographien von Autodidakten im deutschen Sprachraum bis 1850 und Verzeichnissen von Bauernbibliotheken, Bremen 2015.

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