S. Kesper-Biermann: Einheit und Recht

Titel
Einheit und Recht. Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch 1871


Autor(en)
Kesper-Biermann, Sylvia
Reihe
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 245
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
VIII, 502 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Désirée Schauz, Zentralinstitut für Geschichte der Technik, Technische Universität München

Das Deutsche Kaiserreich bekam bereits kurz nach seiner Gründung sein eigenes, nationales Strafgesetzbuch. Das Gesetzbuch war der vorläufige Abschluss einer intensiven Kodifizierungsarbeit der deutschen Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts. Obwohl es bereits in den 1880er-Jahren als reformbedürftig galt, sollte es noch für lange Zeit Geltung besitzen. Während die bürgerliche Gesellschaft die Verschriftlichung des Rechts als zentrale Errungenschaft ansah, schenkte die historische Forschung dem materiellen Strafrecht nur wenig Aufmerksamkeit. So erklärte erst kürzlich Rebekka Habermas den Fokus der klassischen Rechtsgeschichte auf den juristischen, strafrechtlichen Diskurs für überholt und machte die gerichtlichen Aushandlungsprozesse für den Wandel der Rechtsordnung im 19. Jahrhundert verantwortlich.1 Tatsache ist, dass die Geschichte des deutschen Strafrechts bislang nicht systematisch aufgearbeitet wurde. Selbst die Rechtsgeschichte juristischer Provenienz behandelte die Strafrechtsgeschichte stiefmütterlich. So kursieren immer noch Versatzstücke bürgerlich-moderner Meistererzählungen, während man aktuelle Interpretationsansätze vergeblich sucht.

Sylvia Kesper-Biermann hat sich in ihrer geschichtswissenschaftlichen Habilitationsschrift diesem Desiderat angenommen. Sie untersucht die Entwicklung der deutschen Strafgesetzgebung vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Im Zentrum der Studie steht die Frage, inwieweit Kriminalrechtsexperten die Gesetzgebung beeinflussten. Kesper-Biermann unterscheidet dabei vier Phasen: Die Krise des Strafrechts Mitte des 18. Jahrhunderts markierte den Beginn der modernen Strafrechtsgeschichte. Es folgten im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert erste Gesetzbücher, die vorwiegend von rechtsphilosophischen Debatten über die Legitimierung der staatlichen Strafgewalt begleitet waren. Zwischen 1830 und 1850 konkretisierte sich dann der juristische Diskurs. Es wurden Detailfragen der verschiedenen Entwürfe im deutschsprachigen Raum erörtert sowie erste Erfahrungen mit den bereits vorhandenen Gesetzbüchern und entsprechende Korrekturen diskutiert. Im Zeitraum zwischen 1850 und der Reichsgründung kreisten die Debatten schließlich hauptsächlich um die nationale Vereinheitlichung des Strafrechts.

Im Zuge der Kodifizierung entwickelte sich die Strafrechtswissenschaft zur juristischen Teildisziplin, die ihr eigenes Theoriegebäude unter den neuen Prämissen der Rechtsstaatlichkeit errichtete. Die Studie macht deutlich, wie dabei vermeintliche Gegensätze zu einer frühneuzeitlichen „Willkürherrschaft“ konstruiert wurden. Im weiteren Verlauf differenzierte sich das Strafrecht ebenso wie das strafrechtswissenschaftliche Wissen weiter aus: Das Strafprozessrecht schälte sich langsam als eigenständiger Bereich heraus. Dagegen verlor die Rechtsphilosophie, die anfangs die Strafrechtswissenschaft als Leitdisziplin angeführt hatte, an Bedeutung. Nachdem es nicht mehr primär um theoretische Grundsatzfragen, sondern um Details und Verbesserungen ging, gewann das Erfahrungswissen der juristischen Praktiker deutlich an Gewicht. Im Zuge der nationalen und demokratischen Bewegungen hielten die neue Denkfigur des „Rechtsbewusstseins des Volkes“ sowie das Streben nach Rechtseinheit Einzug in die Reformdebatten. Trotz des vorläufigen Scheiterns der nationalen Einigung war das Ideal der Rechtseinheit fest im strafrechtswissenschaftlichen Diskurs verankert. Nicht nur die mehrheitlich nationalliberale Gesinnung der Juristen, sondern auch die methodisch vergleichende Perspektive sowie die große Mobilität der Strafrechtslehrer innerhalb der deutschsprachigen Universitätslandschaft waren ein Garant dafür.

Es ist eine der Stärken des Buches, neben dem Wandel auch Kontinuitäten aufzuzeigen, die von einer juristischen Fortschrittsideologie verdeckt wurden. Ehrdelikte sowie Ehrstrafen – um ein Beispiel herauszugreifen – galten lange Zeit als typisch vormodern. Während sich die Forschung bisher auf die rechtliche Durchsetzung einer neuen Eigentumsordnung als Spezifikum des 19. Jahrhunderts konzentrierte, vermag die vorliegende Studie zu zeigen, dass traditionelle Rechtsbrüche wie Ehrverletzungen weiterhin statistisch relevant blieben und die Juristen beschäftigten. Der Ehrbegriff wandelte sich zweifellos auf dem Weg von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft und er passte nicht widerspruchsfrei ins Gebäude der modernen Straftheorien, doch die Ehrstrafen verschwanden nicht völlig aus den neuzeitlichen Kodizes. Zu dieser revisionistischen Perspektive gehört auch der Nachweis, dass der juristische Gleichheitsgrundsatz nicht automatisch soziale Differenzen einebnete.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach der Teilhabe von Kriminalrechtsexperten am Prozess der Strafrechtsgesetzgebung. Mit der zunehmenden Bedeutung der Parlamente veränderten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die formalen Rahmenbedingungen politischer Entscheidungen. Kesper-Biermann betont, dass sich früh ein geregeltes Verfahren zur Diskussion der geplanten Gesetzbücher herausbildete. Die Entwürfe legten zwar die Ministerialbehörden vor, doch ihnen standen meist Juristen – vorwiegend Praktiker aus der Rechtsprechung – beratend zur Seite. Die Veröffentlichung der Vorentwürfe gab dann vor allem den Rechtsgelehrten an den Universitäten die Gelegenheit, die Vorlagen zu kommentieren. Auf diese Kommentare wurde im weiteren Gesetzgebungsprozess wiederholt Bezug genommen. Sowohl Regierungsvertreter als auch Parlamentarier stützten sich in ihrer Argumentation auf wissenschaftliche Autoritäten.

Die Analyse der parlamentarischen Debatten verdeutlicht, dass sich die politischen Kontroversen nur noch auf wenige Punkte des umfassenden Kodex beschränkten. Es ging um militärische und adelige Sonderrechte, die vor allem Konservative verteidigen wollten. Zentrale Streitpunkte waren bekanntermaßen die Abschaffung der Todesstrafe und die Behandlung politischer Verbrechen. Hierauf konzentrierte sich die Energie des liberalen Lagers und ihrer Sprecher – Parlamentarier, die vorwiegend selbst der juristischen Profession angehörten. Doch obwohl die Liberalen diese Aspekte zur Kardinalsfrage moderner Strafrechtstheorie erklärten, bringt Kesper-Biermann Beispiele dafür, dass sie nicht immer nur prinzipientreu agierten.

Der lange Untersuchungszeitraum macht transparent, wie langwierig sich die Genese des neuzeitlichen Strafrechts gestaltete, und das in einer Zeit beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Das Reichstrafgesetzbuch von 1871, das von seinen Machern als auf der Höhe der Zeit gepriesen wurde, markiert für Kesper-Biermann den „Endpunkt“ (S. 370) einer Strafrechtsreformbewegung, die bereits im 18. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatte. Das Reichsgesetzbuch ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung aufgeklärter Strafrechtstheorien, aber Kesper-Biermann sieht resümierend den Einfluss strafrechtswissenschaftlicher Expertise auf verschiedenen Ebenen wirksam. Die Art und Weise der Einflussnahme unterschied sich allerdings von der zu Beginn des Jahrhunderts, als – wie im Fall des bayerischen Strafgesetzbuches – Rechtsgelehrte bei der Ausarbeitung federführend waren. Die Rolle der Strafrechtswissenschaft im Gesetzgebungsprozess interpretiert Kesper-Biermann als Form „wissenschaftlicher Politikberatung“ (S. 455) und revidiert damit die zeitgenössische Einschätzung, die Rechtsgelehrten seien nicht genügend einbezogen worden.

Im Bemühen, den Einfluss der Strafrechtswissenschaft nachzuweisen, vernachlässigt Kesper-Biermann jedoch eine kritische Diskussion der für die Arbeit zentralen Denkfigur des sachkundigen (neutralen) Experten. Dies hat leider zur Folge, dass Teile der in den vorangegangenen Kapiteln gesammelten Empirie in der abschließenden Bilanz unterschlagen werden. Die Studie liefert ohne Frage Beispiele dafür, dass Professoren Gutachten über den wissenschaftlichen Diskussionsstand – etwa zur Todesstrafe – anfertigten, ohne die politische Entscheidung vorwegzunehmen. Es finden sich viele Belege dafür, wie wissenschaftliche Expertise zur zentralen Legitimationsquelle staatlichen Handelns wurde. Die Arbeit führt aber ebenso klar vor Augen, in welch selektiver und instrumenteller Form sich politische Akteure wissenschaftliche Argumente aneigneten. Trotz des strafrechtswissenschaftlichen Zieles, die Grundlage für „widerspruchsfreie“ (S. 104) Strafrechtsbücher zu schaffen und diese an einem einheitlichen Theoriegebäude auszurichten, war der innerjuristische Diskurs selbst von einer großen Meinungsvielfalt geprägt. Abstrakte Begrifflichkeiten wie das „Rechtsbewusstsein des Volkes“ waren für die verschiedensten parlamentarischen Lager anschlussfähig. Zugleich konnte der Verweis auf offene wissenschaftliche Kontroversen die Abwehr notwendiger Reformen untermauern. Eine eindeutige Unterscheidung von politischer Position und juristischem Sachverstand wird hier vorausgesetzt. Strafrechtswissenschaftler wie der viel zitierte, liberal gesinnte Karl Joseph Anton Mittermaier lassen jedoch erkennen, wie schwierig es ist, klare Grenzen zu ziehen. Das aus der klassischen Soziologie stammende Bild der Moderne als einer ausdifferenzierten Gesellschaft ist in der Geschichtswissenschaft immer noch vorherrschend, und das obwohl die Kritik an diesem Zerrbild lauter wird.2 Eine Bewertung der Befunde im Lichte dieser Theoriedebatten wäre für den momentan intensiv diskutierten Aspekt der Expertenkultur lohnenswert gewesen.

Insgesamt gesehen bietet die Studie von Sylvia Kesper-Biermann dennoch viele neue Einsichten: Sie trägt zur Revision überkommener Narrative der neuzeitlichen Rechtsstaatlichkeit bei, die mitunter bis heute das juristische Selbstverständnis bestimmen. Für die Kriminalitätsgeschichte liefert das Buch wichtiges und in verständlicher Form dargebrachtes Grundlagenwissen über den strafrechtlichen Definitionsrahmen. Die Analyse der Gesetzgebungsprozesse bietet darüber hinaus wertvolle Einblicke in die parlamentarische Arbeitsweise im 19. Jahrhundert. Schließlich ist die Studie als wichtiger Beitrag zur Disziplinengeschichte der neuzeitlichen Strafrechtswissenschaft zu verstehen, der gerade von seiner Außenperspektive profitiert. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es die disziplinären Barrieren überwindet und auch in der Rechtsgeschichte Beachtung findet.

Anmerkungen:
1 Rebekka Habermas, Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009.
2 Siehe vor allem Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007.