Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen ist in der Schweiz seit wenigen Jahrzehnten Gegenstand kritischer historischer Forschung. In den vergangenen zehn Jahren erfuhr das Forschungsfeld weitere bedeutende Impulse durch die Arbeiten der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen (2016 bis 2019) und des Nationalen Forschungsprogramms 76 „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76, 2018 bis 2023). Letzteres förderte unter seinem Dach insgesamt 29 Forschungsprojekte.1
Der Erziehungswissenschaftler Daniel Deplazes verfasste die vorliegende Studie im Rahmen eines NFP-76-Projekts, angesiedelt am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich. Im Zentrum seiner Arbeit steht das 1924 eröffnete Landerziehungsheim Albisbrunn in Hausen am Albis, nahe Zürich gelegen, das für sogenannt „schwererziehbare“ Knaben und männliche Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren konzipiert war (S. 16, 18). Er fokussiert die Jahre 1960 bis 1990, womit auch die bislang wenig untersuchten 1980er-Jahre in den Blick geraten. So werden Kontinuitäten benennbar über die vermeintliche Zäsur von 1981 hinweg, als in der Schweiz die Praxis der administrativen Versorgung abgelöst wurde durch den zivilgesetzlich verankerten fürsorgerischen Freiheitsentzug.
Zur Analyse seines Untersuchungsgegenstands bedient sich Deplazes der Werkzeugkiste der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Bruno Latour. Das vielleicht überraschendste Element dieser Analysemethode ist die „symmetrische Perspektive“, die „neben menschlichen auch ‘nicht-menschlichen Wesen’ als Akteuren zuteilwird, sofern ihnen bei der Konstituierung von Bedeutung eine entscheidende Rolle zugesprochen wird“ (S. 23). Dabei wird den Dingen nicht beliebig eine Agency unterstellt. Dies geschieht idealiter über menschliche Akteure, die „in Berichten einem Ding eine Handlung zuschreiben“ (S. 28). Um die Verbindung oder Assoziationen zwischen den verschiedenen Akteuren zu beschreiben, schlägt die ANT eine sogenannte Infrasprache vor mit gängiger technischer Metaphorik wie „Verbindung“, „Verschaltung“ oder „Relais“ (S. 33). Auch alltäglichere Metaphern und Listen beansprucht der Autor als heuristische Werkzeuge, um die Komplexität der Akteur-Netzwerke zu beschreiben.
Der Hauptteil der Studie widmet sich fünf Akteur-Netzwerken, die sich thematisch unter den Stichworten Buchhaltung, Drogen, Heimforschung, Heimkritik und schliesslich Pädagogisch-therapeutische Intensivabteilung (PTI) fassen lassen. Die Reihenfolge ist nicht hierarchisiert, sondern alphabetisch, also zufällig gesetzt – Latours Empfehlung folgend, „mitten unter den Dingen“ zu beginnen (S. 73).
Mit der Buchhaltung wird zunächst der Entwicklung des Landheims Albisbrunn zu einem „finanziellen Hybrid“ (S. 99) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gefolgt. War die Trägerstiftung lange Zeit durch private Geldgeber alimentiert worden, versiegten diese Quellen zu Beginn der 1950er-Jahre allmählich (S. 84). In der Folge lässt sich anhand der steigenden Staatszuschüsse insbesondere in den 1960er- und 70er-Jahre ein Wandel Albisbrunns von einer privat zu einer privat-staatlich finanzierten Einrichtung beobachten, was für den schweizerischen Heimsektor exemplarisch ist. Das Zürcher Heimgesetz von 1962 trug zu den Lohnkosten des Heimpersonals bei, während über das „Bundesgesetz über Bundesbeiträge an Strafvollzugs- und Erziehungsanstalten“ von 1966 Betriebsbeiträge geleistet wurden, insbesondere für qualifiziertes Personal (S. 94). Auf diese Weise wurde die Entwicklung der subventionierten Einrichtungen gelenkt und zugleich die Professionalisierung des Personals gefördert.2
Als ein weiterer wichtiger Akteur erweisen sich gemäss Deplazes die Drogen (S. 117). Das rasante Aufkommen insbesondere von Cannabis, LSD und Heroin, des Weiteren auch Kokain und Medikamenten, trafen das Schweizer Heimwesen unvorbereitet und konfrontierten es mit einer neuartigen Klientel. Der Ruf nach spezialisierten Einrichtungen für „drogengefährdete Jugendliche“ wurde in Expert:innenkreisen spätestens ab Mitte der 1970er-Jahre laut. Deplazes zeigt detailliert auf, wie sich der Suchtmittelkonsum in Albisbrunn von 1968 bis 1982 entwickelte, zeichnet die Beschaffungswege nach und ortet dabei verschiedene „Umschlagplätze“ in der Stadt Zürich (S. 127): seit den 1970er-Jahren einen Seeuferabschnitt am Platz Bellevue, genannt „Riviera“, in den frühen 1980er-Jahren das Autonome Jugendzentrum und später das Jugendhaus Drahtschmidli. Der Umgang der Heimleitung mit Suchtmitteln in der Institution war konservativ, indem für eine „eindeutige Haltung“ gegen Drogen plädiert wurde. Die Realität sah derweil anders aus, so dass der Heimleiter 1985 feststellte, dass 90 Prozent der eintretenden Jugendlichen Drogenerfahrungen hätten. In diesem Kontext lässt sich ein Ausgrenzungsprozess beobachten, wenn dealende Jugendliche „als besonders gefährlich für die leicht zu beeinflussenden Jugendlichen“ deklariert und „den Behörden zur Verfügung gestellt“ wurden (S. 135).
Die systematische Heimforschung, die sich in den frühen 1970er Jahren zu formieren begann, ist ein weiterer Akteur im Netzwerk des Heimwesens. Von akademischer Seite geraten hier Heinrich Tuggener, Ordinarius für Sozialpädagogik an der Universität Zürich, und sein Team in den Blick, die in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Reihe von Publikationen zu Anstalten des Straf- und Massnahmenvollzugs verantworteten. Mit ihrer kritischen Sicht waren diese akademischen Arbeiten für die Akteur:innen des Heimwesens und der behördlichen Subventionsstellen nur bedingt anschlussfähig (S. 171, 175). Im Rahmen der Arbeitsgruppe Jugendheimleiter, der Koordinationskommission für den Vollzug von Strafen und Massnahmen an Jugendlichen und jungen Erwachsenen (KoKo) sowie der Sektion Straf- und Massnahmenvollzug des Bundesamts für Justiz wurden in Eigenregie statistische Erhebungen und Bedarfsabklärungen durchgeführt, die gegenüber der Heimerziehung legitimierenden und lenkenden Charakter hatten, wie Deplazes belegt (S. 177–201).
Der Akteur Heimkritik wird in einem nächsten Schritt in seinen unterschiedlichen Facetten beleuchtet. Ein Ausgangspunkt bildet die nach deutschem Vorbild benannte „Heimkampagne“, die in den Jahren 1970/72 die „Aufhebung der Heimerziehung zugunsten ‘betreute[r] Wohngemeinschaften’“ forderte (S. 235). In den Erziehungseinrichtungen machte sich die mitunter massenmedial geführte Heimkritik unmittelbar bemerkbar, unter anderem durch die tendenziell zunehmende Zahl an Fluchten (S. 241). Diese führten die Jugendlichen zum Beispiel in die Arme der „Hydra“, einer links-autonomen Splittergruppe der „Progressiven Organisationen Basel“. Auch die Zürcher Auffangstation „Flip-in“, gegründet 1974, war eine Anlaufstelle für Flüchtige. Delikat daran ist, dass der Initiant der innovativen Einrichtung wegen sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige vorbestraft war und 1977 wegen desselben Delikts erneut zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde (S. 250–262). Auch die Rocker, namentlich der 1970 etablierte Zürcher Hells-Angels-Ableger, bot Heimjugendlichen Unterschlupf, was unter anderem zu einer medialen Verknüpfung der jugendlichen Faszination für motorisierte Zweiräder und der Rocker-Szene führte (S. 266).
Der letzte Akteur, dem die Studie folgt, ist die Pädagogisch-therapeutische Intensivabteilung. Die geschlossene, „fluchtsichere“ Abteilung mit „Separationszellen“ wurde in Albisbrunn nie verwirklicht (S. 298). Erste Andeutungen finden sich bereits in Architekturplänen von 1966 (S. 304) und endgültig vom Tisch war das Konzept geschlossener Settings 1987, als der Zürcher Regierungsrat den Einbau von „Separationszellen“ in Albisbrunn definitiv ablehnte (S. 351). Das Scheitern des Projekts erklärt Deplazes anhand der Genese des Akteur-Netzwerks der PTI und analysiert zu dem Zweck drei „Relais“, also fernbetätigte Schalter, die Aufschluss geben über den Diskurs zur PTI: Fallakten, Studienreisen institutioneller Akteure und Architekturpläne (S. 317–339).
Hans Häberli leitete das Landheim von 1961 bis 1989, also beinahe während des gesamten Untersuchungszeitraums. Seine Person wird nicht gesondert behandelt, sondern zieht sich als umtriebiger menschlicher Akteur durch das gesamte Werk, was einen Eindruck vermittelt von seiner Art der Betriebsführung, der normativen Praxen, der intensiven Netzwerkpflege und des Lobbyings. Auf diese Weise macht die Analyse die zahlreichen „Verschaltungen“ sichtbar im intermediären Bereich zwischen akademischer Wissenschaft, Bundes- und Kantonalpolitik sowie den stationären Einrichtungen der Deutschschweizer Jugendhilfe; dies vor allem im dynamischen Zeitraum nach 1970, als aufgrund von Gesetzesrevisionen (Jugendstrafrecht 1974) und lauter werdender Anstaltskritik der Reformdruck im schweizerischen Heimwesen besonders gross war.
Die äusserst fundierte Studie von Daniel Deplazes füllt mit ihrem spezifischen Ansatz Lücken innerhalb der eingangs erwähnten Forschungsprogramme und knüpft an Untersuchungen zur stationären Kinder- und Jugendfürsorge in der Schweiz an.3 Darüber hinaus bietet sie zahlreiche Einblicke in Nebenschauplätze und politische Diskurse, die mit dem Heimbetrieb in Albisbrunn in Verbindung standen. Die Erziehungspraxis in der Einrichtung wird dabei nur punktuell gestreift, der Fokus geht vielmehr über das Heimgelände hinaus und eröffnet ein Panorama der Jugendfürsorge in Zürich und der Deutschschweiz und den damit verknüpften gesellschaftlichen Problematisierungen mit Schwerpunkt in den 1970er- und 1980er-Jahren. Inspirierend ist ausserdem das Quellenkorpus, das neben Spiel- und Dokumentarfilmen Sendungen aus dem SRF-Medienarchiv miteinbezieht, einem bislang selten genutzten Fundus. Latours ANT, so wie sie Deplazes anwendet, erweist sich als ein gewinnbringender Ansatz, indem sie den Blick in ungewohnter Weise auf nicht-menschliche Akteure lenkt, sie als wirkmächtig identifiziert und Tiefenbohrungen gebietet. Deplazes räumt selbst ein, dass dieses Mitbestimmungsrecht der (nicht-menschlichen) Akteure über die Quellenauswahl „die Bewegungsfreiheit des historisch Forschenden“ einschränkt (S. 371). Manche Fährten werden vielleicht nicht weiterverfolgt, gewisse Aspekte könnten unberücksichtigt bleiben, weil sie hinsichtlich der Akteure als nicht handlungsrelevant interpretiert werden. Die metaphernreiche Infrasprache der ANT irritiert stellenweise, bringt aber auch beinahe schon poetische Bilder hervor, etwa wenn Professor Tuggener „auf mindestens zwei Berge steigen musste, um die Heimleitungen zu sprechen“ (S. 215). Insofern handelt es sich bei dieser Studie nicht um eine trocken-theoretische Lektüre, sondern um einen originellen Streifzug, begleitet zuweilen von latenter Ironie, stets mit Ausgangspunkt Albisbrunn.
Anmerkungen:
1 Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen, https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/startseite (20.03.2024); Nationales Forschungsprogramm 76 „Fürsorge und Zwang“, https://www.nfp76.ch/de (20.03.2024).
2 Urs Germann, Entwicklungshilfe im Innern. Die Heimpolitik des Bundes im Zeichen sich wandelnder Staatlichkeit, 1960–1990, in: Lucien Criblez / Christina Rothen / Thomas Ruoss (Hrsg.), Staatlichkeit in der Schweiz. Regieren und Verwalten vor der neoliberalen Wende, Zürich 2016, S. 57–83, bes. S. 65f. Vgl. ausserdem: Gisela Hauss / Kevin Heiniger / Markus Bossert, Praxis der Sozialstaatlichkeit. Koordinieren und Finanzieren zwischen Expertise, Staat und Gemeinnützigkeit, Zürich 2023, S. 118–125.
3 Vgl. etwa: Sabine Jenzer, Die „Dirne“, der Bürger und der Staat. Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1930er Jahre, Köln 2014; Kevin Heiniger, Krisen, Kritik und Sexualnot. Die „Nacherziehung“ männlicher Jugendlicher in der Anstalt Aarburg (1893–1981), Zürich 2016; Gisela Hauss / Thomas Gabriel / Martin Lengwiler (Hrsg.), Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940–1990, Zürich 2018; Susanne Businger / Nadja Ramsauer, „Genügend goldene Freiheit gehabt“. Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950–1990, Zürich 2019; Markus Furrer / Anne-Françoise Praz / Sabine Jenzer (Hrsg.), Lebenswege fremdplatzierter Jugendlicher 1950–1985 (Itinera 51), Basel 2024.