H. Neuhaus (Hrsg.): Frühe Neuzeit als Epoche

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Titel
Die Frühe Neuzeit als Epoche.


Herausgeber
Neuhaus, Helmut
Reihe
Historische Zeitschrift Beiheft 49
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VII, 494 S.
Preis
€ 84,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hillard von Thiessen, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Debatten über Periodisierungen und Epochengrenzen dienen heute gemeinhin nicht dazu, definitive zeitliche Brüche kanonisch festzulegen. Vielmehr reflektieren sie aktuelle Sichtweisen über den Charakter eines Zeitabschnitts, erproben die Tragfähigkeit neuer oder wieder diskutierter Ansätze und – um zum wissenschaftspolitischen Bereich überzugehen – sind geeignet, Teilfachbereiche zu stabilisieren oder in Frage zu stellen. Das muss umso mehr für einen Band gelten, der sich mit dem Epochencharakter und den Epochengrenzen der Frühen Neuzeit befasst. Dass die Historiographie heute mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von der Tragfähigkeit des Epochenbegriffs „Frühe Neuzeit“ ausgeht, ist nicht zuletzt daran abzulesen, dass das große „F“ die nur einen Teilepochencharakter ausdrückende kleingeschriebene „frühe Neuzeit“ weitgehend verdrängt hat. Dabei ist die Annahme, dass der Zeitraum von etwa 1500 bis ca. 1800 in der europäischen Geschichte eine gewisse Einheit repräsentiert, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert worden, wie Helmut Neuhaus in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes betont. Seitdem wurden an den meisten historischen Seminaren Lehrstühle oder Professuren für die Geschichte der Frühen Neuzeit eingerichtet.

Wie ist es nun – nach Lektüre des Bandes – um deren Zukunft bestellt? Alles in allem offenbar gut: Die große Mehrheit der Autoren des Bandes bestätigt den Eigencharakter der Frühen Neuzeit, oder sie betrachten sie als einen Zeitraum des Übergangs von einem mittelalterlichen zu einem der Moderne zugeordneten Idealtypus. Letzteres gilt zum Beispiel für den Beitrag von Axel Gotthard zur Raumwahrnehmung. Ihm zufolge kann die Frühe Neuzeit als Übergangszeitraum betrachtet werden, in dem ein Wandel von der Inselraumstruktur des Mittelalters zur territorialisierten Raumwahrnehmung des langen 19. Jahrhunderts stattfand. Auffallend ist, dass einer ganzen Reihe von Autoren die Abgrenzung der Frühen Neuzeit gegenüber der Moderne leichter fällt als gegenüber dem späten Mittelalter. Viele Beiträge verorten im späten 18. Jahrhundert oder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutliche Brüche bzw. grundlegende gesellschaftliche Veränderungen auf verschiedenen Ebenen. Entsprechende Beiträge betreffen die Historiographiegeschichte (Merio Scattola), die Religiosität bzw. Konfessionalisierung (Andreas Holzem) und die Wirtschaftsgeschichte (Ulrich Pfister). Desanka Schwara fordert in ihrem Aufsatz über mediterrane Diasporagesellschaften zwar einerseits die Abkehr von herkömmlichen Periodisierungsmodellen, da diese den ganz unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen der verschiedenen kulturellen Gruppen nicht gerecht würden. Andererseits aber postuliert auch sie einen die gesamte multikulturelle Welt des Mittelmeerraums aufbrechenden epochalen Bruch mit den Nationalstaatsbildungen des 19. Jahrhunderts.

Für den Beginn der Frühen Neuzeit ergibt sich ein anderes Bild. Verschiedentlich werden Kontinuitäten ausgemacht, die das Spät-, mitunter sogar das Hochmittelalter mit der Frühen Neuzeit verbinden. Das gilt vor allem für Beiträge aus Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft, wie etwa die Aufsätze des Musikwissenschaftlers Laurenz Lütteken und der germanistischen Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter. Auch werden Epochengrenzmarkierungen zwischen Mittelalter und Neuzeit relativiert. So bestreitet Philippe Büttgen, dass der reformatorische Gewissensbegriff als entscheidender Schub hin zu neuzeitlichen Individualitätskonzepten gewertet werden könne. Christian Freigang hingegen sieht im 15. Jahrhundert durchaus einen grundlegenden Wandel in Bildproduktion und -verständnis, nennt aber auch Elemente der Kontinuität. So sei die bildende Kunst auch nach 1500 eng mit der Frömmigkeitspraxis und sozialen Selbstdarstellung verflochten geblieben.

Das Pendel der Frühneuzeit-Historiographie scheint also derzeit eher auf Seiten von „früh“ als von „neu“ zu stehen. Dieser Befund muss allerdings insoweit relativiert werden, als viele Autoren gerade die Ambivalenz der Epoche zwischen „Musterbuch der Moderne“ und „Alteuropa“ betonen. Schwächer konturiert ist das Periodisierungsproblem der „Sattelzeit“, also der Annahme eines zur Moderne überleitenden, relativ langen, aber grundlegenden Wandlungsprozesses von 1750 bis 1850. Immerhin plädiert Hans-Werner Hahn in seinem instruktiven Aufsatz dafür, diese Zeit als eine eigene Phase in der Geschichte des Bürgertums wahrzunehmen. Sie sei von einer Koexistenz manifester gesellschaftlicher Beschleunigungsfaktoren und des Fortwirkens ständischer Traditionen und Denkweisen geprägt gewesen.

Der Wert dieses Bandes liegt vor allem darin, dass verschiedene Disziplinen zu Wort kommen. Es sind verschiedene Kulturwissenschaften (Musikwissenschaft, Germanistik, Kunstgeschichte, Theologie) ebenso wie Beiträge aus zahlreichen historischen Teildisziplinen vertreten (Sozial-, Wissens-, Kirchen-, Politik- und Mikrogeschichte). Diese interdisziplinäre Fülle wird noch durch drei sehr interessante Beiträge ergänzt, welche die Sicht der außereuropäischen bzw. internationalen Geschichte einführen. Das ist umso lobenswerter, als die „Frühe Neuzeit“ ein von der europäischen und angloamerikanischen Historiographie geprägtes Epochenkonzept darstellt. Indes halten sich diese drei Autoren nicht lange bei Eurozentrismusdebatten auf, sondern behandeln die Epochenfrage in jeweils erfrischend pragmatischer Herangehensweise. Monica Juneja lehnt für Indien eine postkoloniale Herangehensweise ab, da diese die vorkoloniale Zeit als „Hort antikolonialer Resistenz“ (und als eine Art indisches Mittelalter) stilisieren würde. Am Konzept der multiple modernities (Shmuel Eisenstadt) kritisiert sie, dass es Verflechtungsprozesse zwischen kulturellen Einheiten vernachlässige. Dem setzt Juneja die Vorstellung von einer in zunehmendem Maße verflochtenen Moderne entgegen. Weder die indische Geschichte von 1500 bis 1800 noch die europäische Frühe Neuzeit könnten allein aus der Binnenperspektive untersucht werden. Die Verflechtungen zwischen kulturell differenten Räumen erforderten die Formulierung von gemeinsamen Analysekategorien. Als solche schlägt sie die Entwicklung von Staatsformen, Vorstellungen von Territorialität und Grenzen, Praktiken der Kommunikation und Prozesse der Selbstdeutung und Fremdzuschreibung vor. Um Verflechtungsgeschichte geht es auch in Wim Kloosters Beitrag zur atlantischen Geschichte in der Frühen Neuzeit. Reinhard Zöllner hingegen betrachtet Verflechtungen vor allem auf historiographischer Ebene, wenn er verschiedene Periodisierungsmodelle ostasiatischer Historiker vorstellt, die teils auf autochthone Wahrnehmungsmuster von Geschichte zurückgehen, teils hingegen in Auseinandersetzung mit europäischen Modellen formuliert worden sind.

Die Herangehensweise der einzelnen Aufsätze an das Thema der Periodisierung ist sehr unterschiedlich. Einige Aufsätze bieten einen historiographischen Überblick über Periodisierungsfragen, andere diskutieren vor allem Epochengrenzen oder befassen sich mit der Definition von Teilepochen der Frühen Neuzeit. Verschiedene Autoren stellen eigene Modelle vor, die den Charakter der Frühen Neuzeit zu erfassen versuchen. Diese Vielgestaltigkeit kann durchaus zu den Stärken des Buches gezählt werden.

Allerdings hätte man sich an verschiedenen Stellen mehr Austausch zwischen den Autoren oder auch nur ihre gegenseitige Kenntnisnahme gewünscht. Das kommt besonders im Beitrag von Thomas Nicklas zum Tragen. Den Rezensenten hat bereits erstaunt, dass in Nicklas’ Beitrag ausgerechnet Kaiser Karl V. als machiavellistischer Machttechniker dargestellt wird. Begründet wird dies keineswegs mit konkreten politischen Handlungen Karls, sondern mit einer Äußerung des venezianischen Gelehrten Francesco Sansovino, der Kaiser habe die Schriften Machiavellis intensiv gelesen. Vollends unverständlich aber ist die Klage des Autors über die Selbstzerstörung einer Geschichtswissenschaft, die sich nicht mehr in ausreichender Weise mit dem Politischen und vor allem kaum noch mit Machtbeziehungen befasse. Unverständlich deswegen, weil die politische Geschichte gerade in diesem Sammelband durchaus prominent vertreten ist. Vor Nicklas’ Beitrag findet der Leser einen Aufsatz von Luise Schorn-Schütte über die political language der Frühen Neuzeit. Gefolgt wird er von Stefan Brakensieks Erläuterung seines Konzepts der „akzeptanzorientierten Herrschaft“. Außerdem findet der Leser einen Artikel von Olivier Chaline, der sich mit absoluter Fürstenherrschaft befasst und zu dem Schluss kommt, dass man am ehesten im 19. Jahrhundert von Absolutismus sprechen könne. Das alles lässt sich kaum als Indiz für ein Desinteresse der Zunft an Fragen der politischen Geschichte lesen. Dem Band, der auf die 6. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit vom September 2005 zurückgeht, hätten im Übrigen stärkere redaktionelle Eingriffe nicht geschadet. Hätte man nicht wenigstens die Selbstbezeichnung einiger Beiträge als „Vortrag“ durch „Aufsatz“ ersetzen können?

Abgesehen von diesem Einwand liegt aber ein sehr anregender Sammelband vor. Er zeigt, dass das Nachdenken über die Grenzen und die Charakteristika einer Epoche dann sehr gewinnbringend ist, wenn man von vornherein von ihrem Charakter als Konstrukt ausgeht. Besonders verdienstvoll ist, dass sowohl andere Disziplinen als auch die außereuropäische Perspektive vertreten sind. Auch in dieser Hinsicht reflektiert der Band den aktuellen Stand und die Perspektiven der Forschung wie der Wissenschaftspolitik.