Lucy Parker setzt sich in ihrem Buch, das aus einer im Jahr 2016 an der Universität Oxford eingereichten Dissertation hervorgegangen ist, eingehend mit einer einflussreichen, doch in der Forschung bisher stark vernachlässigten Figur des spätantiken römischen Ostens auseinander, dem Styliten Symeon dem Jüngeren (521–592). Symeon war das Haupt einer klösterlichen Gemeinschaft auf dem Mons admirabilis, dem „Wunderbaren Berg“, bei Antiocheia. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er dort in extremer Askese auf Säulen zunehmender Höhe. Durch die Lage dieses Ortes nahe der Straße zwischen Antiocheia und dem Haupthafen der Metropole, Seleukeia, erlangte Symeon rasch überregionale Bekanntheit, zog Pilger und Bittsteller an, korrespondierte mit Kaisern und Patriarchen.
Parker setzt sich in erster Linie mit der Art der Darstellung des Holy Man Symeon in seiner Vita, verfasst vermutlich zu Beginn des 7. Jahrhunderts, und in den ihm zugeschriebenen Predigten auseinander. Aus dem Studium dieser vornehmlich hagiographischen Texte gewinnt sie spannende Erkenntnisse über die Kritik an Symeons Status als Holy Man, mit der er selbst und seine Gemeinschaft sowohl zu seinen Lebzeiten wie auch in den Jahrzehnten nach seinem Tod konfrontiert waren. Parkers detaillierte Untersuchung des reichhaltigen hagiographischen Quellenmaterials zu Symeon – seine Vita ist die längste spätantike Biographie überhaupt – ist sehr begrüßenswert, denn es wurde in der historischen Forschung bisher kaum beachtet. Parker kann überzeugend darlegen, dass das Quellencorpus zu Symeon die in den letzten zwei Jahrzehnten verschiedentlich geäußerte Hypothese untermauert, der zufolge die Autorität von Holy Men keineswegs immer akzeptiert war und auf uneingeschränkte Zustimmung stieß.1 Ganz im Gegenteil: Symeon und der Kult, der sich nach seinem Ableben an seiner Wirkungsstätte etablierte, wurden wiederholt massiv kritisiert und Symeons Nutzen als Fürsprecher vor Gott in Zweifel gezogen. Der Hauptgrund dafür waren die wiederholten Katastrophen, von denen Antiocheia zu Symeons Lebzeiten heimgesucht wurde: mehrere schwere Erdbeben (526, 528 und 588) und die Eroberung durch die Perser 540 zogen Stadt und Umgebung in Mitleidenschaft, zudem forderte seit den frühen 540er-Jahren auch die justinianische Pest ihren hohen Tribut. Offensichtlich war Symeon nicht imstande, die Region von Antiocheia vor all diesem Unheil zu beschützen. Dies verlangte nach einer Erklärung, denn sonst wäre er schnell nicht mehr als Holy Man angesehen worden, und der einträgliche Pilgerzug zum Kloster auf dem Wunderbaren Berg hätte aufgehört. Parker analysiert diese Erklärungsstrategien sorgfältig und stellt in den Kapiteln 2–4 jeweils eine Quelle in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen.
Das erste Kapitel bietet eine informative Übersichtsdarstellung zu Antiocheia im 6. Jahrhundert und zu den Transformationsprozessen in Gesellschaft und Kultur, welche unter anderem durch die Erfahrung der verschiedenen Katastrophen ausgelöst wurden. Dabei wertet Parker sowohl das schriftliche wie auch das archäologische Quellenmaterial kompetent aus. Sie thematisiert zudem die sich zunehmend verfestigende Spaltung zwischen Anhängern und Gegnern des Konzils von Chalkedon (451), die zur allmählichen Herausbildung eigenständiger miaphysitischer Kirchenstrukturen führte, und die Kritik, der die chalkedonischen Patriarchen Antiocheias wiederholt ausgesetzt waren. Symeon war also keineswegs die einzige kirchliche Autorität, die in jener Zeit des Umbruchs angezweifelt wurde.
Im zweiten Kapitel diskutiert Parker eine Gruppe von Quellentexten, die noch seltener als die Vita berücksichtigt worden sind, und zwar die 30 Predigten, als deren Verfasser traditionell Symeon selbst angesehen wird. Diese Zuschreibung lässt sich zwar letztendlich nicht beweisen, doch zeigt Parker auf, dass sie von einer Person verfasst worden sein müssen, die sich mit den lokalen Umständen genau auskannte, und dass sie schon recht kurz nach Symeons Tod zirkulierten. Die Predigten sind nur schwer zugänglich (es existiert keine moderne Edition) und deswegen wäre bei den längeren Zitaten (S. 66–69) die Wiedergabe des griechischen Originals wünschenswert gewesen. Parker analysiert die Predigten unter drei Gesichtspunkten: wie in ihnen das Wirken von Dämonen zum Ausdruck gebracht wird, welche eschatologische Vorstellungen in ihnen vorherrschen und wie hier großer Reichtum wiederholt als Zeichen heimlichen Heidentums gedeutet wird. Insbesondere der letzte Punkt ist bedeutsam und mag eine Reaktion auf Kritik gewesen sein, die von den wohlhabenden Schichten Antiocheias an Symeon geäußert wurde.
Das zentrale dritte Kapitel ist der Vita Symeons gewidmet. Parker betont, dass sich im gesamten Text zahlreiche Hinweise darauf finden lassen, dass Symeons Autorität als Holy Man immer wieder herausgefordert wurde, sogar von Mönchen in seinem Kloster. Der anonyme Autor der Vita bemüht sich, diese Kritik zu entkräften. Zahllose Wundergeschichten sollen belegen, wie Symeon das Los einfacher Bittsteller verbesserte. Dass er die großen Katastrophen nicht verhindern konnte, wird anerkannt, doch auch hier wird die Kritik mit verschiedenen Methoden abgeschwächt: So habe die Fürsprache Symeons verhindert, dass die Katastrophen noch schlimmer ausgefallen seien; diese seien nämlich als göttliche Strafe für die fortgesetzten Umtriebe reicher „Heiden“ über Antiocheia gekommen. Zudem hätten die Rückschläge und Katastrophen auch dazu gedient, Symeon wie Hiob in seinem Glauben zu testen.
Im vierten Kapitel untersucht Parker einen weiteren kaum bekannten hagiographischen Text aus dem Umkreis von Symeons Kloster, die Vita der Martha, Symeons Mutter. Diese Quelle ist außergewöhnlich, denn, wie Parker darlegt, geht daraus hervor, dass Martha eigentlich nie etwas vollbracht hat, das sie als besonders heilig erscheinen ließe. Entsprechend legt der Text denn auch einen großen Fokus darauf, dass für eine erfolgreiche Wunderheilung nicht so sehr die Qualitäten der oder des Heiligen, sondern vielmehr die fromme Gesinnung des Bittstellers entscheidend sei. Durch diese Verschiebung des Fokus und der Verantwortung weg vom Holy Man reagiert also auch dieser Text auf die Kritik an der Wirksamkeit des Heiligenkultes, wie er am Wunderbaren Berg praktiziert wurde.
Das fünfte und letzte Kapitel bietet einen breiteren Ansatz, der über die Region von Antiocheia hinausreicht. Parker vergleicht die Quellentexte, die sie untersucht hat, mit anderen Hagiographien derselben Zeit, etwa der Vita des Theodor von Sykeon oder derjenigen von Georg von Choziba. Dadurch wird deutlich, dass die Kritik am Holy Man, wie wir sie bei Symeon antreffen, nicht auf ihn beschränkt war, sondern im 6. und 7. Jahrhundert häufiger vorkam. Sie erscheint somit als ein klares Zeichen des erschütterten Vertrauens in Heilige und Asketen in einer krisenhaften Zeit des Umbruchs.
Parkers Buch liest sich leicht und mit hohem Erkenntnisgewinn und ist zudem praktisch frei von Schreibfehlern. Seltsamerweise findet sich aber bei einigen syrischen Zitaten, die in der westsyrischen Serto-Schrift wiedergegeben sind, ein ostsyrisches Punktierungssystem (S. 206f.). Es wäre zu begrüßen gewesen, wenn Parker auch noch andere weitgehend unbekannte Quellen zu Symeon eingehender untersucht hätte, etwa dessen Brief an den Kaiser Justin II. (kurz erwähnt auf den S. 111f.). Doch ist diese Auslassung aufgrund des klaren Schwerpunkts auf hagiographische Texte verständlich, auch tut sie der Qualität des Buches überhaupt keinen Abbruch. Erfreulicherweise bereitet die Autorin auch eine kommentierte Neuübersetzung der Vita Symeons für die Serie „Translated Texts for Historians“ vor. Es bleibt zu hoffen, dass diese – wie das besprochene Buch eindrücklich zeigt – äußerst reichhaltige Quelle für die Erforschung der Spätantike damit endlich den zentralen Platz erhält, der ihr zusteht.
Anmerkung:
1 Mischa Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr., Göttingen 2003; Matthew Dal Santo, Debating the Saints’ Cult in the Age of Gregory the Great, Oxford 2012.