Angesichts der doch mehr als dürftigen schriftlichen Quellenlage (knapp ein Dutzend Inschriften aus der Region und etwa dreißig Papyri, fast ausschließlich aus dem bekannten Zenonarchiv) ist das Unterfangen, den imperialen Wandel und den ptolemäischen Imperialismus in Syrien im „langen 3. Jh. v. Chr.“ (333-187 v. Chr.) unter den Aspekten Konnektivität, Konkurrenz und Kooperation zu untersuchen, ein imposantes Vorhaben. Die früheste erzählende Quelle ist Polybios. Deshalb spielen neben Münzen archäologische Quellen eine wichtige Rolle in dieser an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2020 eingereichten Dissertation. Es ist bemerkenswert, dass ein Gebiet, das nicht nur geographisch mit dem Land am Nil verbunden war, so wenig primäre Quellen liefert, während andere sogenannte „auswärtigen Besitzungen und Einflußgebiete“ in dieser Hinsicht besser dastehen.
Unter Imperialismus versteht Johannsen mit Osterhammel „die Summe von Handlungen (…), die auf die Eroberung und den Erhalt eines Imperiums abzielen“ (S. 11), wobei in der Arbeit nicht allein die Handlungen der Imperiumsträger, sondern auch die der anderen Akteure und Betroffenen untersucht werden. „Imperien lassen sich als militärisch gestützte Herrschaftsordnungen mit einer monarchischen (problematisch R.S.) Spitze charakterisieren…“ (S. 16). Syrien ist Teil des Ptolemäerreiches beziehungsweise gehört zu den merē …tēs basileias (vgl. Polyb. 5,35,10) und ist nicht Teil der tōn exō pragmatōn („auswärtigen Angelegenheiten“), wie Ole Johannsen mit Berufung auf Polybios 5,34,9 glaubt. Denn dieser Ausdruck bezeichnet bei Polybios die „auswärtigen Angelegenheiten“, also Außenpolitik und fremde Staatswesen und nicht die „Außenbesitzungen“. Richtig hingegen ist seine Beobachtung, dass man mit den Begriffen Zentrum und Peripherie arbeiten kann, weil unter anderem der König und die Zentral- oder Hauptverwaltung, also der Hof, sich in Alexandrien befanden und der König beziehungsweise das Königspaar sich nur zeitweise in der Peripherie sehen ließ. Das gilt ja bereits für Ägypten selbst, wo in den königlichen Verordnungen zwischen Alexandria und der Chora unterschieden wird. So wäre hier analog zwischen Alexandria und dem Landesteil „Syrien und Phönikien“ zu unterscheiden. Das bedeutet nicht, dass innerhalb der Verwaltung und Organisation der einzelnen „Landesteile“ alles immer einheitlich geregelt sein muss und alles über die Zeit hinweg gleichgeblieben ist.
Nach der Einleitung (S. 1-24), die Raum und Zeit der Untersuchung abgrenzt und die Arbeit in die früheren und aktuellen Imperialismusdebatten einordnet, gliedert sich die Arbeit in drei Teile: „I. Imperiale Konnektivität: Syrien und Phönikien unter den Ptolemäern“ (S. 33-190), „II. Konkurrierende Imperien: Die südliche Levante zwischen Ptolemäer- und Seleukidenreich“ (S. 191-275), „III. Verflochtene Ebenen: Lokale Ordnung und (trans)lokale Akteure im Raum zwischen den Imperien“ (S. 281-444).
Im ersten Teil spielen die ptolemäischen Siedlungsgründungen eine wichtige Rolle und aufgrund des Fehlens schriftlicher Quellen sind besonders die archäologischen Zeugnisse und deren Deutung relevant. Johannsen kann deutlich machen, dass die verschiedenen Gründungsarten nicht rein militärischer Natur waren, sondern wesentlich der Erschließung des Landes dienten. Dass auch die Levante zum einheitlichen Wirtschafts- und Finanzraum mit „Kernägypten“ zählte, zeigt im Übrigen das einheitliche Währungssystem. Über das Zollsystem erfährt man hingegen nichts. Es gibt einen regen Austausch von Menschen und Waren,1 wobei ein eigenes Unterkapitel zu Wirtschaft und Handel sicherlich sinnvoll gewesen wäre. Herrscherverehrung2 und Verbreitung ägyptischer Kulte sind wesentliche Merkmale der ptolemäischen Herrschaft. Die wenigen Belegstellen zeigen aber, dass es sich bis auf eine Ausnahme (Höhlenheiligtum von Wasta3) immer um Personen handelt, die entweder Nichteinheimische sind oder zumindest herausragende Positionen in diesem Imperium innehaben. Wir wissen somit nicht, wie sich der ‚kleine Mann‘ von der Straße positioniert hat.
Im zweiten Großkapitel geht es im Wesentlichen um die Einordnung der sogenannten „Syrischen Kriege“ in die Gesamtpolitik. Der Verteidigung der Historizität des Mitgiftabkommens aus dem Jahr 194 v. Chr. mit der Teilung der Einnahmen zwischen Ptolemäern und Seleukiden, die auch für den Fall der Toubiaden in Teil III relevant ist, ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet (S. 219-230).
An dieser Stelle sei eine Bemerkung gestattet: Betrachtet man den „Imperialismus“ von Seiten der Bewohner der erst kürzlich einem (neuen) „Imperium“ beigetretenen Gebiete, so haben sie in der Regel drei Möglichkeiten: Erfahrungsgemäß erträgt die schweigende Mehrheit ihr Schicksal und lebt weiter wie bisher, da sich in ihrem Alltag nicht viel ändert, ein kleiner Teil übt sich in widerständigem Verhalten und ein dritter Teil, insbesondere die Eliten, schließlich arbeitet mit der neuen Herrschaft oder Regierung zusammen. Sie zeigen als „Kooperateure“ ihre Loyalität den neuen Machthabern gegenüber unter anderem in Äußerlichkeiten, sie passen sich an: Survival of the fittest. In den Augen der anderen beiden Teile sind sie – negativ betrachtet – zum Teil Kollaborateure, Überläufer oder gar Verräter. Um diese geht es in Teil III. Bei Johannsen heißen einige dieser Personen „Brückenakteure“ oder „kulturelle Makler“. Wegen der schlechten Quellenlage konnte Johannsen nur drei sicher historische Personen ausmachen, die diesem „indigenen“ Anforderungsprofil der „Brückenakteure“ entsprechen. Das ist Philokles, der König der Sidonier, der relativ gut bezeugt ist, der in vielfältigen Aktionen im Interesse der Ptolemäer im Mittelmeer unterwegs ist, Anordnungen4 trifft, Ehrungen und Statuen erhält, der aber nirgends mit einem ptolemäischen Titel oder einer Amtsbezeichnung in offiziellen Texten erwähnt wird und dessen Abstammung selbst aus Sidon unsicher ist. Dann ist aus Sidon ein dikastes (Bedeutung hier unsicher) Diotimos5 zu nennen, dem anlässlich eines Sieges im Wagenrennen bei den nemeischen Spielen eine Statue in Sidon mit einem griechischen Epigramm aufgestellt wurde, in dem die mythische Verwandtschaft mit Kadmos erwähnt wird. Dieser muss aber der Wettkampfteilnahmeberechtigung wegen als Grieche wahrgenommen worden sein. Und schließlich der bekannte, für einige Kleruchen eponyme judäische Truppenführer Toubias, der enge Beziehungen zu dem berühmten Dioiketen Apollonios unterhielt und der ihm und Ptolemaios II. Geschenke zukommen ließ. Seine Entourage begleitet und eskortiert die des Zenon auf der Reise durch die südliche Levante. Toubias macht sein Geld mit Landbesitz, Handel und Sicherheitsdiensten, also das, was landläufig warlords tun. Von der einfachen indigenen Bevölkerung, sofern sie überhaupt als solche zu identifizieren ist, gibt es keine Zeugnisse zu diesen Aspekten der Untersuchung. Sie finden sich lediglich einige Male als Begleitpersonen im Troß des Zenon oder als Kleinhändler erwähnt. Ein Appendix zu Josephus‘ Tobiadenroman als historische Quelle beschließt die Arbeit.
36 Abbildungen in Form von Karten, Plänen, Münzen und archäologischen Denkmälern sind zum besseren Verständnis in den Text eingebunden. Ein Stellenindex (S. 509-512) und ein Personen- und Ortsregister (513-519) helfen mit, das umfangreiche Werk zu erschließen, wobei die Schwerpunkte und die Verdienste der sprachlich ansprechend verfassten Untersuchung nicht so sehr in der Auswertung der eher althistorischen Quellen als vielmehr im souveränen Umgang mit der doch beachtlichen Forschungsliteratur (S. 471-508) liegen. Man versteht jetzt besser, was die ptolemäische Herrschaft in der Levante bedeutete und wie sie funktionierte. Wer sich zukünftig mit der Herrschaft der Ptolemäer sowohl in Ägypten als auch in den übrigen Besitzungen und Einflussgebieten beschäftigen wird, für den wird dieses Buch ganz sicher nützlich und anregend sein.
Anmerkungen:
1 Einen kleinteiligen Handel bisweilen auch über größere Strecken in Kleinstkamelkaravanen von zwei bis vier Tieren von Ägypten über Gaza und Sidon bis nach Galiläa mit Alltagswaren wie Datteln, Schilfrohrmatten, eingelegtem Fleisch, Getreide, Ziegelsteine und Getreide hätte P.Col.III 2 belegen können, der indirekt ein Zeugnis für die relative Sicherheit für Mensch, Tier und Ware darstellt.
2 Das früheste inschriftliche Zeugnis für die kultische Verehrung der ptolemäischen Könige in der Levante ist nicht I.Tyr.II Nr. 386 (S. 151), da diese Inschrift mit guten Gründen von Stefano Caneva, Short notes on 3rd-century Ptolemaic royal formulae and festivals, ZPE 200 (2016), S. 207-214, hier S. 212 Ptolemaios III. zuzuordnen ist. Statt deren ist eine weitere – und eventuell als älteste – Inschrift, eine Plakette für einen Altar der Arsinoe II. (Tal, Oren, Arsinoe II Philadelphia at Philoteria / Bet Yerah (Israel), ZPE 209 (2019), S. 181-184) aufzunehmen.
3 Hier löst ein Mann mit einem phönizischen Namen dem Ptolemaios und der Aphrodite/Astarte mit einer griechischen Inschrift ein Gelübde ein. Aber auch er könnte durchaus in ptolemäischen Diensten gestanden haben.
4 IG XI 4 599,22-24: (kai [thysa]i sōtēria hyper Philokleous / en Dēlōi Apoll[ōni kai Artemidi kai Lētoi] kai Dii Sōtēri [ka]i Athēnai S[ō]ṭẹịṛạị) ist nur dann ein Beleg für die Einrichtung des Festes der Sōtēria, wenn man in dem Wort einen Eigennamen sieht und nicht das Substantiv („Dankopfer für die Rettung“), was vergleichbare Stellen nahelegen.
5 Das Argument von Johannsen könnte noch verstärkt werden, wenn man unter anderem mit Christian Habicht, Neues zur Geschichte von Kos, Chiron 37, 2007, S. 127 annimmt, dass er ein Nachfahre der Königsfamilie ist. Philokles hatte übrigens für den Wiederaufbau Thebens 100 Talente gespendet.