F. Klose: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt

Cover
Titel
Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945-1962


Autor(en)
Klose, Fabian
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 66
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 346 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lasse Heerten, Freie Universität Berlin

„Kolonialismus boomt“, wie Sebastian Conrad auf dieser Plattform 2007 festgestellt hat.1 Die erste große Welle des Interesses an der kolonialen Vergangenheit rollt mittlerweile zwar wohl langsam aus, sie spült aber aktuell eine Vielzahl neuer Studien auf den Markt. In den Fokus historischer Forschung wurde dabei auch der Themenbereich der kolonialen Gewalt gerückt. In Frankreich und Großbritannien entzündeten sich diese Debatten unter anderem an der Aufarbeitung der Dekolonisierungskriege in Algerien und Kenia.2 Fabian Kloses 2007 in München eingereichte Dissertation, auf der das hier zu besprechende Buch beruht, widmet sich diesen zwei Konflikten, rückt sie aber in den Kontext der Entstehung eines internationalen Menschenrechtsregimes nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf der Grundlage von teilweise zuvor noch nicht ausgewertetem Archivmaterial, insbesondere aus den Archiven der Vereinten Nationen (UN) und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), versucht Klose die Verflechtungen zwischen den Geschichten der Menschenrechte und der Dekolonisation nachzuzeichnen.

Das Buch ist neben Einleitung und Zusammenfassung in fünf Analysekapitel geteilt, die jeweils in drei Unterkapitel gegliedert sind. Im ersten Analyseteil skizziert Klose die Genese einer um die Idee der Menschenrechte kreisenden „neuen Weltordnung“, die in Antwort auf die „neue Rassenordnung“ der Achsenmächte während des Zweiten Weltkriegs formuliert wurde. Im Anschluss an die Propagandakampagnen während des alliierten „Kampfes für die Menschenrechte“ (S. 20) wurden diese Ideen im Rahmen der UN zur Neugestaltung internationaler Beziehungen herangezogen. Die Entstehung neuer internationaler Normen, wie etwa in Form der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, sei als Reaktion auf die Verletzung universeller Rechte durch die Kriegsführung der Achsenmächte zu verstehen. Auch das System kolonialer Herrschaft der europäischen Siegermächte blieb davon nicht unberührt, da es nun „an den Pranger der Weltöffentlichkeit gestellt“ (S. 55) worden sei. Die Anerkennung universeller Rechte hätte der antikolonialen Bewegung das „moralische Rüstzeug“ (S. 56) geliefert.

Im anschließenden Kapitel stellt Klose vor dem Hintergrund der „umkämpften Dekolonisation“ die ereignisgeschichtlichen Verläufe des Mau Mau- und des Algerienkrieges dar. Demnach waren diese Konflikte auch ein Ergebnis der Kolonialpolitik Frankreichs und Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg, die eine Intensivierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Durchdringung der Kolonien vorsah. Trotz der um die Idee der „Freiheit“ kreisenden alliierten Kriegspropaganda kam es zuerst nicht zu einer De-, sondern zu einer Rekolonisation, die in einigen Fällen, neben Algerien und Kenia etwa in Malaya, in blutige Konflikte mündete.

Im darauf folgenden Teil zeigt Klose, welche juristischen Strategien Frankreich und Großbritannien verfolgten, um die Gewalt in den Kolonien zu legitimieren. Als „interner Konflikt“ beschrieben, in dem „Terroristen“ Ruhe und Ordnung bedrohten, versuchten die Kolonialmächte ihre Einsätze als „polizeiliche Maßnahmen“ darzustellen. Insbesondere durch Notstandsgesetze – die der kolonialstaatlichen Exekutive enorme Freiheit in der Wahl ihrer Mittel ermöglichten – sollte der antisubversive Krieg gewonnen werden; so entzündete sich ein kolonialer „Krieg ohne Regeln“. Wie Klose im anschließenden Kapitel argumentiert, wurde in dem so eröffneten Möglichkeitsraum die für koloniale Herrschaft grundsätzliche charakteristische Omnipräsenz der Gewalt noch weiter entgrenzt. Die Kolonialmächte folgten den Prinzipien „kollektiver Bestrafung“, durch das komplette ethnische Gruppen unter pauschalen Subversivitätsverdacht gestellt wurden. Folter wurde als Instrument zur Beschaffung von Informationen in diesen „Polizeieinsätzen“ gegen die Kolonisierten eingesetzt. Lager wurden eingerichtet, die im Zeichen einer Neuordnung der Gesellschaft eine Bevölkerungspolitik ermöglichten, die unzählige Menschenleben kostete. Klose wendet sich deutlich gegen eine Interpretation dieser Projekte als ambivalente Formen kolonialer Modernisierung; ihr „wahre[r] Charakter“ sei der „einer strategischen Waffe im antisubversiven Krieg“ (S. 214).

Klose skizziert anschließend die beidseitigen Effekte, die der internationale Menschenrechtsdiskurs und die Dekolonisierungskriege aufeinander hatten. Der Dekolonisationskrieg in Kenia fand im „Abseits des internationalen Menschenrechtsdiskurses“ statt: Die Bewegung war schlecht organisiert, zudem fehlte ein „mächtiger Dritter“ (Carl Schmitt) – also eine externe Macht, die den antikolonialen Kampf unterstützte. Darüber hinaus war die britische Propaganda, die die Mau Mau als „barbarische Wilde“ darstellte, weitgehend erfolgreich. So gelang es den Kenianern niemals die internationale Öffentlichkeit für ihre Belange zu mobilisieren. Der algerische Fall ist ganz anders gelagert. Der Front de Libération Nationale (FLN) verfügte über eine international vernetzte Organisation und mit Ägypten einen strategisch schwergewichtigen Partner. Der Algerienkrieg wurde so auch nicht in der Schlacht um Algiers, sondern, wie Matthew Connelly bereits gezeigt hat, in der Schlacht um New York entschieden.3 Auf dem Parkett der Vereinten Nationen wurde der Konflikt auf die Agenda internationaler Politik gehievt. Der FLN konnte den Krieg zu einem Zeitpunkt für sich entscheiden, als die militärische Niederlage bereits weitgehend besiegelt war. Klose bezieht sich auf Connelly, arbeitet aber noch stärker als dieser den Bezug auf das internationale Menschenrechtsregime heraus. Er kann auf diese Weise zeigen, wie die Idee der Menschenrechte als „source of embarrassement“ zu einer „antikolonialen Bedrohung“ für die europäischen Mächte wurde – wenn sie effektiv genutzt wurde. Das Scheitern der Mau Mau scheint so auch durch das Fehlen einer internationalen Mobilisierung über den Menschenrechtsdiskurs erklärbar.

Einige Einwände hat der Rezensent jedoch zu formulieren. Klose zeichnet ein sehr eindeutiges Bild der Geschichte der Menschenrechte, in der diese als etwas per se Gutes hervortreten. Für diese Position kann man sicherlich viel Sympathie aufbringen, die Ambivalenzen in ihrer Geschichte gehen so aber verloren. Interessant ist, welche Arbeiten zur Geschichte der Menschenrechte Klose nicht zitiert. Auffällig ist vor allem, dass ein Verweis auf Alice Conklins Arbeiten fehlt, in denen die amerikanische Historikerin am Beispiel Französisch-Westafrikas zeigt, wie die Idee der Menschenrechte mit dem kolonialen Projekt nicht nur reibungslos verbunden werden konnte, sondern es sogar beförderte: Frankreich sollte demnach dieser „mission civilisatrice“ folgen, um Afrikaner zu ihren Rechten hinzuführen.4 Menschenrechte waren folglich nicht nur eine antikoloniale Waffe, sondern ebenfalls eine Instrument des Kolonialismus. Das gewaltsame Festhalten der französischen Kolonialmacht an ihren algerischen Besitzungen könnte so auch, zumindest teilweise, als Festhalten an der kolonialen Zivilisierungsmission, durch die ironischerweise auch irgendwann einmal die Menschenrechte in die Kolonien exportiert werden sollten, erklärt werden. Diese Möglichkeit thematisiert Klose leider nicht einmal.5

Auch der Umkehrschluss, dass der antikoloniale Protest als eine Art Menschenrechtsbewegung gegen die koloniale Unterdrückung zu verstehen sei, ist durchaus fragwürdig. Es ist sicherlich richtig, dass der antikoloniale Block sich in der internationalen Diplomatie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend der Vokabel der Menschenrechte bediente. Gerade auf die UN trifft das zu. Allerdings gilt es hier zu differenzieren: von genau welchen Menschenrechten redeten die afroasiatischen Staaten? Auffällig ist, dass auch aus Kloses Darstellung hervorgeht, dass das Engagement für die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung als fundamentales Menschenrecht dabei deutlich im Fokus stand – schließlich kreiste die Ideengeschichte der Dekolonisation genau um dieses Konzept. Die Idee der Menschenrechte war nur in spezifischen Situationen hilfreich, um dieses Kollektivrecht zu stärken. Mit dem weiteren Katalog von individuellen Menschenrechten hat das aber herzlich wenig zu tun. Das Echo auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung war in den Kolonien so auch – gerade im Vergleich zu dem der Atlantic Charter – eher verhalten.6 Die Ideen der „Freiheit“ und der „Selbstbestimmung“ waren als „antikoloniale Waffen“ in diesen politischen Programmen viel bedeutender. Die Menschenrechte wurden in ihrer semantischen Offenheit nur als Vehikel benutzt, um spezifische antikoloniale Ideen zu transportieren.

Diese doch eher einseitige Darstellung des Themenkomplexes Menschenrechte und Kolonialismus wird durch eine Erzählhaltung der Empörung noch verstärkt. Ärgerlich ist etwa die konsequente Bezeichnung Frankreichs als ‚grande nation’ – ein Begriff, der in Frankreich in dieser Form nicht benutzt wird und seine Wurzeln in antifranzösischer deutscher Propaganda hat. Seine Verwendung ist ein Beispiel für einen mitunter ins Ironische gleitenden, moralistischen Erzählgestus. So wird der Eindruck vermittelt, dass Kloses Arbeit eine Fortschreibung einer anklagenden – im Falle Kenias abwesenden, im Falle Algeriens existenten – Moralkampagne gegen koloniale Herrschaft ist. Man kann sich durchaus fragen, ob das die Aufgabe des Historikers ist. Eine konsequente Historisierung des Menschenrechtsdiskurses und seinen Verflechtungen mit kolonialer Herrschaft und der Dekolonisation wird dadurch zumindest erschwert.

Trotz dieser Einwände ist es Kloses Verdienst, eine empirisch gesättigte und, von den angesprochenen stilistischen Ärgernissen abgesehen, sehr gut lesbare Studie vorgelegt zu haben, die zum Nachdenken über das Verhältnis von Menschenrechten, Kolonialismus und Dekolonisation anregt und weitere Arbeiten stimulieren sollte. Auch das zeichnet ein wichtiges Buch aus.

Anmerkungen:
1 Sebastian Conrad, Rezension zu: Eckert, Andreas: Kolonialismus. Frankfurt am Main 2006, in: H-Soz-u-Kult, 06.03.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-154>.
2 Auch Historiker haben mit ihren Arbeiten zu diesen Diskussionen beigetragen. So etwa Raphaëlle Branche, La torture et l'armée pendant la guerre d'Algérie 1954-1962, Paris 2001 und David Anderson, Histories of the Hanged. Britain's Dirty War in Kenya and the End of Empire, London 2005.
3 Matthew Connelly, A Diplomatic Revolution. Algeria‘s Fight for Independence and the Origins of the Post-Cold War Era, Oxford 2002.
4 Alice L. Conklin, Colonialism and Human Rights, A Contradiction in Terms? The Case of France and West Africa, 1895-1914, in: American Historical Review 103,2 (1998), S. 419-442.
5 Ebenfalls fragwürdig ist Charakterisierung des Zweiten Weltkriegs als alliierten „Kampf für die Menschenrechte“. Klose verweist so auch nicht auf Texte, die ein etwas komplexeres und ambivalenteres Bild von der Entstehung des internationalen Menschenrechtsregimes nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnen, wie etwa: Mark Mazower, The Strange Triumph of Human Rights, 1933-1950, in: The Historical Journal 47 (2004) 2, S. 379-398.
6 Das geht auch hervor aus: Bonny Ibhawoh, Imperialism and Human Rights. Colonial Discourses of Rights and Liberties in African History, Albany, NY 2007, S. 151-161.

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