Es gibt inzwischen eine Vielzahl monografischer Studien, die der Frage nachgehen, wie in Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus, der die Welt mit Krieg, Vernichtung und Genozid überzogen hat, ein friedliches und – bis 1990 zumindest teilweise – demokratisches Gemeinwesen entstehen konnte. Frank Trentmanns rund 1.000 Seiten starkes Buch ergänzt diese Literatur um eine Ebene, die über die Zäsuren von 1945 und 1989 hinaus und in deutsch-deutscher Perspektive bislang noch nicht systematisch untersucht worden ist: die Ebene der Moralvorstellungen und des jeweils als moralisch erachteten Handelns innerhalb dieser Gesellschaft(en).
Trentmann ist gebürtiger Hamburger und lehrt heute als Professor in London und Helsinki. Seine Studie verfolgt – zugespitzt formuliert – die Entwicklung Deutschlands von einer Tätergesellschaft in eine Konsumgesellschaft entlang der Frage nach der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung für Mitmenschen und Umwelt im weitesten Sinne. Das Buch stellt den Versuch dar, Deutschland von 1942 bis in die Gegenwart (2022) als „moralische Landschaft“ (S. 25) zu kartieren, d.h. „Aufkommen und Verfall moralischer Werte zu verstehen und dabei zu ergründen, was die Menschen in der Vergangenheit für richtig und falsch hielten [...]“ (ebd.). Die „moralische Erneuerung Deutschlands“ versteht Trentmann dabei als vielschichtigen, komplexen, mitunter auch „überraschenden“ Prozess, der zwar eng mit der Frage nach Schuld und einer „deutschen Identität“ nach dem Holocaust verwoben sei (S. 20). Zugleich sei aber nicht „alles, was die Deutschen tun oder wofür sie sich einsetzen, auf dieses Gedenken zurückzuführen“. Wer das, abgesehen von einem zitierten SPIEGEL-Artikel Henryk M. Broders aus dem Jahr 1995, heute noch behauptet, bleibt allerdings offen (ebd.).
Während Trentmann zur Frage, was Moral ist und wie der Zusammenhang zwischen (individuellen und kollektiven) Wertvorstellungen und Handlungen gefasst werden kann, einige Stichwortgeber aus der Philosophie (Kant, Bentham, Nietzsche, Nussbaum, Kutz) und Soziologie (Marx, Durkheim, Weber) heranzieht, findet der für die Argumentation zentrale Begriff der (wahlweise „moralischen“, „geistigen“, „nationalen“, „materiellen“) „Erneuerung“ keine nähere Erläuterung, ebenso wenig übrigens der titelgebende Gedanke des „Aufbruchs“. Mit Verweis auf die Vielseitigkeit und Wandelbarkeit der Moralvorstellungen in einer Gesellschaft legt Trentmann den Fokus seiner Analyse auf drei Aspekte: Ihn interessieren sprachliche und praktische Artikulationen von „Gewissen“, „Mitgefühl“ und „Mittäterschaft“ (oder auch „Mitverantwortung“ – diese etwas diffuse Begrifflichkeit ist wohl auch der nicht durchweg überzeugenden Übersetzung aus dem Englischen [complicity] anzulasten). Er tut dies nicht im Sinne einer Diskurs- oder Begriffsgeschichte, und auch die Emotionsgeschichte, die theoretisch und methodisch vielerlei Anknüpfungspunkte bietet („emotional regimes“), bleibt weitgehend außer Acht. Vielmehr entwirft Trentmann ein Panorama individueller und gesellschaftlicher Thematisierungen dessen, was in Bezug auf verschiedenste Bereiche der sozialen Wirklichkeit Deutschlands seit 1942 (u.a. Krieg, Holocaust, Demokratie, Wiederbewaffnung, Familie, Minderheitenfragen, Geschlechterbeziehungen, Gleichberechtigung, Konsum, soziale Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Migration, Energie und Umweltschutz) als „gut“, „richtig“ oder auch „anständig“ erachtet wurde bzw. wird. Es soll in diesem Buch also um die „deutsche Gefühlswelt“ (S. 136) gehen, im Großen wie im Kleinen, im Krieg wie im Nachkrieg, in der Demokratie wie in der Diktatur, im geteilten wie im vereinten Deutschland.
Für die Auswahl und Auswertung der Quellen, die Trentmann für dieses kolossale Vorhaben konsultiert hat – entweder direkt oder vermittelt über jeweils einschlägige Spezialforschungen – ist dabei zentral, wie er vor allem Gewissen und Mitgefühl definiert. Er unterscheidet zwischen dem Gewissen einerseits, das „nach innen“ lausche und der mentale Ort sei, an dem Individuen Fragen von Schuld und Scham verhandeln, und andererseits dem Mitgefühl, das „nach außen“ gerichtet sei und den Grad von Interesse für und Hilfsbereitschaft gegenüber (leidenden) Mitmenschen bestimme. Eine „wiederkehrende Frage dieses Buches“ sei, wo „die Deutschen in diesem Prozess zu verschiedenen Zeitpunkten standen“ (S. 28). Entsprechend umfangreich und divers sind die Quellenbestände, die in den 14 Hauptkapiteln und dutzenden Unterkapiteln für die Beantwortung der Leitfrage herangezogen werden. Das Spektrum reicht von Egodokumenten aller Art über Bestände aus rund 30 staatlichen und nichtstaatlichen Archiven, einschließlich Flugblättern, Gerichts- und Geheimdienstakten, Eingaben, ferner Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, politischen Reden und zeitgenössischen Umfragen bis hin zu Belletristik, Theaterstücken und Filmen.
„Aufbruch des Gewissens“ gliedert sich in vier unterschiedlich große Hauptteile, und die Darstellung ist teils chronologisch, teils systematisch strukturiert. Ergänzt ist das Ganze um ein detailliertes Register mit 40 Seiten, die Anmerkungen nehmen weitere circa 70 Seiten ein; leider fehlt aber ein Literaturverzeichnis, was den wissenschaftlichen Gebrauch des Buches erschwert. Etwa zwei Drittel des gut 900 Seiten umfassenden Textes verteilen sich nahezu gleich auf Teil I „Der Krieg der Deutschen und die Folgen“ (1942 bis in die 1960er-Jahre) sowie Teil II „Ein Volk, zwei Staaten“, der den vier Jahrzehnten der deutschen Teilung gewidmet ist. Der mit 100 Seiten knappste Teil III „Nach der Mauer“ thematisiert die wichtigsten innen- und außenpolitischen Entwicklungen zwischen 1989 und 2022. Teil IV wirft den Blick nochmals zurück und rekonstruiert weit ausgreifend „Das Bestreben, gut zu sein“ von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart entlang der Themen Sparen, Sozialstaat und Umwelt. Ein Nachwort bündelt die vielschichtigen Befunde in der These, Deutschland habe in den 80 dargestellten Jahren „eine bemerkenswerte moralische und materielle Erneuerung durchlaufen“ und dabei „viele hohe Ideale entwickelt: Demokratie und Solidarität, Fleiß und Selbstvertrauen“ (S. 897) – wobei erstere, die moralische Erneuerung, lange vor allem „introspektiv“, mithin geradezu „provinziell“ auf das eigene Schicksal beschränkt geblieben sei und letztere, der materielle Aufstieg, im Laufe der Jahrzehnte eine immer engere Verflechtung mit der weiteren Welt bewirkt habe.
Das Fazit lässt Trentmann nicht etwa in die Einordnung seiner Befunde in den bisherigen historiografischen Wissens- und Debattenstand münden, sondern in die allein auf Gegenwart und Zukunft gerichtete Frage: „Wohin steuert Deutschland?“ (S. 897) Das Land habe seit 1945 neben einer Menge Wohlstand auch „ein beachtliches moralisches Kapital angesammelt“; seine Zukunft als Konsumgesellschaft mit Gewissen hänge nun davon ab, ob es sich angesichts multipler Krisen, der Rückkehr des Krieges nach Europa und vor allem angesichts der dramatischen Folgen des Klimawandels „als stark genug erweist, um das wirtschaftliche Kapital des Landes neu auszurichten“ (S. 908). Denn letztlich stellten heute nicht mehr deutsche Soldaten die „größte Gefahr für die Welt“ dar, sondern deutsches Wirtschaften und deutsches Konsumieren (Autos, Komfort, Bratwurst, S. 24) – und wohl nicht zuletzt auch die mitunter skandalöse Kluft zwischen normativem Selbstbild und profanem Tun.
Aus fachwissenschaftlicher Sicht sind dieser Würdigung eine Reihe kritischer Anmerkungen beizufügen. Das konzeptionelle Fundament einer Geschichte des „moralischen Selbstverständnisses“ (S. 24) der deutschen Gesellschaft – irritierend häufig ist von „den Deutschen“ die Rede – überzeugt nicht wirklich, weil die eingangs vorgestellten zentralen Untersuchungsachsen Gewissen, Mitgefühl und complicity (von Holocaust bis Klimawandel, S. 29) in der Analyse nicht stringent genug verfolgt werden, was auch die thesenhafte Zuspitzung der Darstellung erschwert. Zudem bleiben die Relevanz politischer Entscheidungen, rechtlicher Normierungen und religiöser Traditionen, deren Wechselwirkung mit Moralvorstellungen sowie überhaupt deren gesellschaftliche Bedingtheit viel zu blass. Eine dezidiertere Auseinandersetzung mit vorhandenen Konzeptionen zur (deutschen) Gewalt- als Moral- oder Gefühlsgeschichte und anderen Großdeutungen der Nachkriegszeit, vor allem im Hinblick auf Nationsverständnis bzw. Nationalismus und die Frage der Demokratisierung(en), wäre nicht nur wünschenswert, sondern auch weiterführend gewesen. Die Quellenauswahl hätte präziser begründet werden müssen; nicht selten fehlt es – gerade, wenn ganze Argumentationen anhand einzelner Quellen entfaltet werden – an einer hinreichend fundierten Kontextualisierung und Ausdeutung isolierter Quellenzitate (z.B. Tagebuch von Renate Bock, S. 66, S. 129, S. 144; Studie „Was ist heute Deutsch?“ von Helge Pross aus dem Jahr 1982 im Unterkapitel „Werte im Wandel“, S. 331–333). Manchmal (ver-)stören ein salopper Sprachstil (z.B. „Sie [zwei gewalttätige Männer, NSDAP/SS] statteten dem jüdischen Schneider F. einen Besuch ab [...]“, S. 95; F. starb an den Folgen des Angriffs) und die Vereinnahmung der Leserschaft über zwar vielleicht gut lesbare, aber problematische „wir“- bzw. „uns“-Argumentationen (z.B. „Rückblickend erscheinen uns Gewinner wichtiger als Verlierer“, S. 31).
Die deutsch-deutsche Herausforderung meistert Trentmann grundsätzlich beeindruckend, teils durch vergleichende Analysen, etwa zum Thema NS-Strafverfolgung, teils durch gänzlich separate Herangehensweisen, etwa in Bezug auf Staatsgründung und politische Herrschaftslegitimation (Demokratie als „Rohbau“, S. 293, vs. Diktatur als „Unikat“, S. 366). Dennoch sind nicht wenige Passagen zur ostdeutschen Geschichte viel schematisierender und kursorischer gehalten als jene zur westdeutschen Entwicklung (z.B. habe „die DDR keine nationale Seele und kein historisches Gedächtnis“ gehabt, S. 371, oder „Ostdeutschland kannte nur den Dauerfrost“, S. 372). Dass es in beiden deutschen Staaten einen teils fortgesetzten, teils neu formierten Rassismus und vielerlei Exklusionen gab, wird zwar deutlich; in der konkreten Analyse werden dann aber rassistische Semantiken und Praktiken in der DDR viel gründlicher in den Blick genommen als solche in der „bittere[n] Heimat“ Bundesrepublik (S. 605; Zitat aus einem Lied eines nicht näher eingeführten türkischen Migranten).
Doch einem Buch in einer Rezension gerecht zu werden bedeutet, dessen Prämissen und Ansprüche nicht außer Acht zu lassen. Trentmann hat dieses Werk auf Englisch verfasst, und zwar unter dem deutlich anders, weil rein erfolgsgeschichtlich akzentuierten Titel „Out of the Darkness. The Germans, 1942–2022“. Er richtet seine Analyse an ein überwiegend nichtdeutsches Publikum in Staaten und Gesellschaften, „die Deutschland oft nicht einschätzen können und manchmal Angst vor diesem Land haben“ und vor allem wenig über „die Deutschen nach Hitler“ wissen (S. 12). Mit seinem Buch möchte er dazu anregen, „Stereotypen in Frage zu stellen“, „sich eingehender mit der Materie zu befassen“ und einen kritischeren, „differenzierter[en]“ Blick auf das Land und seine jüngere Geschichte zu werfen (ebd.). Dieses Versprechen löst das Buch allemal ein. Der „besondere Blickwinkel“, unter dem Frank Trentmann mit seiner Studie für eine weniger „bequem[e]“ Erfolgsgeschichtsschreibung plädiert (ebd.), ist zudem auch für ein deutsches Publikum durchaus erhellend – selbst wenn der Erkenntnisgewinn für die Fachwissenschaft eher begrenzt bleibt.