S. Bernstein: Return to the Motherland

Cover
Titel
Return to the Motherland. Displaced Soviets in WWII and the Cold War


Autor(en)
Bernstein, Seth
Reihe
Battlegrounds: Cornell Studies in Military History
Erschienen
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Landau, Gedenkstätte Buchenwald

Die Geschichte der Repatriierung sowjetischer Bürger:innen nach dem Zweiten Weltkrieg war lange von wirkmächtigen Deutungen des Kalten Krieges bestimmt. Besonders prägend war die Einschätzung des amerikanischen Historikers Nikolai Tolstoy, dass die Rückkehrer:innen gewaltsam an die Sowjetunion ausgeliefert worden seien und die Westalliierten an dieser Rückführung Schuld trügen. Die Mehrheit der Rückkehrer:innen sei in der Sowjetunion in die Lager des Gulag geschickt worden.1 Seth Bernstein wirft in seinem Buch einen neuen, differenzierten Blick auf die Repatriierung sowjetischer Staatsbürger:innen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das lesenswert geschriebene Buch schafft es, ein von Deutungen überformtes Thema zu den Lebensrealitäten der Menschen zurückzuholen. Es folgt deren sich wandelnden Anpassungsstrategien an die Herausforderungen von Krieg, Deportation, deren Überleben im Lager, ihren während der NS-Zwangsarbeit und in den DP-Camps entstandenen Bindungen, und schließlich ihrer geheimpolizeilich gesteuerten und überwachten Rückkehr in ein vom Krieg zerstörtes Land. Der Autor schließt damit an die Weiterentwicklung des Forschungsstandes an, seit Pavel Polian mit seiner Studie über die „Opfer zweier Diktaturen“ auf die erneute Verfolgung und Repression der Rückkehrer:innen in der Sowjetunion hingewiesen hatte.2 Noch vor dem umfassenden Angriff Russlands auf die Ukraine konnte Bernstein umfangreiche Akten aus ukrainischen Geheimdienstarchiven auswerten.

Allein die hohe Anzahl der Repatriant:innen lässt bereits darauf schließen, dass häufig pragmatische Entscheidungen die Umsetzung der Repatriierungspolitik bestimmten: Mehr als 5,4 Millionen sowjetische Bürger:innen, davon 3,6 Millionen Zivilisten und 1,8 Millionen Kriegsgefangene kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion zurück. Die Anzahl der Nichtrückkehrer:innen, hauptsächlich aus den 1939 von der Sowjetunion annektierten Gebieten, gibt der Autor mit 300.000 Menschen an, in Widerspruch zu den offiziell genannten 450.000. Die Ursache für diese Differenz scheint auch in dem Widerspruch zwischen sowjetischer staatlicher Aneignung der Repatriant:innen als Sowjetbürger:innen und ihrer eigenen Selbstzuschreibung zu liegen.

Der Autor beschreibt das Thema in zehn Kapiteln, die sich in zwei Teile aufteilen lassen: Während er im ersten Teil aus einer sozialgeschichtlichen, häufig biografischen Perspektive dem Alltag der Zwangsarbeiter:innen während des Zweiten Weltkriegs und bei ihrer Rückkehr folgt, untersucht er im zweiten Teil die sowjetische Politik der Rückführung und Neuansiedlung der Repatriant:innen, ihre Überwachung und Untersuchung mit geheimdienstlichen Methoden, ihre Selbstzuschreibungen und Handlungsmöglichkeiten.

Auf der Basis des umfangreichen Interview-Archivs, entstanden im Zuge der Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen, werden zunächst deren Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten dargestellt. Ihre Lebensbedingungen variierten, je nach Arbeitsort, Geschlecht und Alter, aber auch nach ihrer nationalen Zuschreibung in der rassistischen NS-Gesellschaftsideologie.

Angesichts der exzessiven Gewalt, insbesondere gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen, plädiert der Autor für eine differenzierte Sichtweise auf die Beurteilung ihres Handelns unter Kriegsbedingungen. Etwa fünf Prozent der fast sechs Millionen gefangenen Sowjetsoldaten hätten mit den Deutschen kooperiert, viele von ihnen kamen aus den nichtrussischen Sowjetstaaten. Als Beispiel dient ein Lager des Ostministeriums in Wustrau, in dem Kriegsgefangene statt Häftlingskleidung Anzüge trugen, zu Propagandisten ausgebildet und schließlich wieder in die Ukraine geschickt wurden. Einige wechselten später die Seiten, wie an der biographischen Skizze des georgischen Arztes Dzadzamia deutlich wird, der sich in einem Leipziger Zwangsarbeiterlager einer Widerstandsorganisation anschloss. Die Beurteilung der Reichweite von Widerstandsaktivitäten bleibt schwierig, auch angesichts der Quellenlage: Einerseits verfolgte die Polizei des NS-Staates Hunderttausende, andererseits berichteten die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen bei ihrer Rückkehr vielfach in Fragebögen oder Erinnerungen über Sabotageakte als Widerstand, um dem Verdacht auf Kollaboration entgegenzuwirken. Häufig schloss die Widerstandstätigkeit jedoch auch Kompromisse ein: So konnte Kollaboration eine Vorbedingung sein, um überhaupt Widerstand leisten zu können.

Mit der Befreiung kamen Millionen von Sowjetbürger:innen unter alliierte Kontrolle. Die Repatriierungslager waren überfüllt. Ehemalige Häftlinge übernahmen Funktionen, dokumentierten Widerstandsaktivitäten und leiteten Verfahren gegenüber ehemaligen Peinigern ein. Fälle von Selbstjustiz sind dokumentiert, wie auch Gewalt gegen Frauen, denen Beziehungen zu Deutschen oder auch zu nicht-sowjetischen Männern vorgeworfen wurden. Viele Rückkehrer:innen kamen ohne die eigentlich obligatorische detaillierte Befragung (Filtration) zurück. Der ukrainische Geheimdienst stellte im Januar 1946 fest: Von 700.000 Rückkehrern waren über die Hälfte ohne Filtration in die Heimat zurückgekehrt. Nur eine Minderheit der Rückkehrenden wurde genauer, auch mit Hilfe von Spitzeln, überprüft, um Sowjetbürger aus deutschen Armeeeinheiten ausfindig zu machen.

Den Rückkehrenden wurde im Heimatland keine Unterstützung zuteil. Sie erwartete Misstrauen und eine Zuweisung zum Arbeitseinsatz in der Schwerindustrie und Diskriminierungen, insbesondere als Frauen. In der ökonomischen Notlage der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Repatriant:innen aus staatlicher Sicht aufgrund ihrer zweifelhaften Biographie eine ideale Manövriermasse für den Arbeitskräftebedarf in den Großbaustellen. Insbesondere Kriegsgefangene verbrachten Monate, zum Teil Jahre in Überprüfungslagern und Arbeitsbataillonen, bevor ihre Fälle untersucht und Entscheidungen über ihren weiteren Verbleib getroffen wurden. Gleichzeitig macht Bernstein auch die Handlungsmöglichkeiten der Repatriant:innen deutlich, wenn sie trotz permanenter Überprüfung und Gängelung mit Petitionen, Einsprüchen, geographischer Mobilität und sozialen Netzwerken ihren Platz in der sowjetischen Gesellschaft beanspruchten und verteidigten.

Bernstein errechnet für die Ukraine, dass acht Prozent der Rückkehrenden während der Filtration und nach ihrer Rückkehr verurteilt wurden. Dabei unterstreicht er den Unterschied zwischen den Verhaftungen in der Sowjetunion der 1930er-Jahre und jenen nach dem Zweiten Weltkrieg: Nach dem Krieg mussten meist keine antisowjetischen Verbrechen fabriziert werden. Es gab unzählige Fälle von kleineren Arrangements mit dem Feind bis hin zur Beteiligung am Massenmord, wie etwa der Einsatz als Wachpersonal. Die in den geheimen Militärtribunalen vorgebrachten Anklagen entbehrten daher meist nicht einer realen Basis. Die hier dokumentierten Fälle zeigen: Die sowjetischen Militärjuristen gingen rigoros gegen diejenigen vor, deren Ermittlung sie aufgenommen hatten. Nach Churchills Rede vom Eisernen Vorhang im März 1946 nahm die Untersuchungstätigkeit auch gegen potentielle Spione zu, allerdings wurden nicht alle, die der Spionage verdächtigt worden waren, auch verurteilt.

Insbesondere DPs aus der Ukraine oder dem Baltikum konnten oder wollten nicht an ihren ursprünglichen Wohnort zurückkehren. Insgesamt kehrten 1946–51 etwa 21.000 Personen aus Deutschland und Österreich in die Sowjetunion zurück, vermutlich ein Drittel von ihnen zwangsweise. Die UN reagierte auf den Widerstand gegen die Repatriierung und stellte die zwangsweise Rückführung ein, nahm jedoch Kriegsverbrecher und Kollaborateure davon aus. Gleichzeitig sah der amerikanische Geheimdienst in den Nichtrückkehrern potentielle Kandidaten für eine antikommunistische Militärformation.

Wenig bekannt ist der aufwändige Versuch der Sowjetunion, noch in den späten 1950er-Jahren ehemalige Emigrant:innen zu einer Rückkehr zu bewegen: eine Kampagne, die sich auch gegen die antisowjetischen Geheimdienstaktivitäten richten sollte. 1955–58 kehrten etwa 8.000 Menschen in die Sowjetunion zurück. Vielfach scheiterte der Versuch, die Rückkehrer:innen mit materiellen Anreizen und Privilegierungen für die Sowjetunion einzunehmen.

Das äußerst facettenreiche Buch bietet keine abschließende Bewertung und Beurteilung der sowjetischen Repatriierungspolitik. Noch genauer zu gewichten wäre das Verhältnis zwischen Repatriierung, Verfolgung und Ahndung von tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverbrechen und der Verfolgung von Spionage-Aktivitäten. Mit dem Blick auf die Zwischenräume zwischen Kollaboration, Anpassung, Widerstand und Loyalität hinterfragt Bernstein jedoch die populären Repräsentationen sowjetischer Repatriant:innen, die nicht allgemein als Verräter:innen, Opfer oder Märtyrer zu beschreiben sind, sondern als Menschen zwischen zwei Diktaturen erscheinen, die ihre Strategien des Überlebens und der Selbstbehauptung immer wieder neu ausrichten mussten.

Anmerkungen:
1 Mark Elliot, Pawns of Yalta. Soviet Refugees and Americas role in their Repatriation, Champaign 1982; Nikolay Tolstoy, Victims of Yalta. The Soviet Betrayal of the Allies: 1944–1947, New York 1977.
2 Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung, München 2001 [Žertvy dvuch diktatur: ostarbajtery i voennoplennye v Tret'em Rejche i ich repatriacija, Moskau 1996]; O.V. Lavinskaja u.a. (Hrsg.), Repatriacija sovetskich grazhdan s okkupirovannoj territorii Germanii, 1944, 1952. Sbornik Dokumentov, Moskva 2019.