Als erster Band der Schriftenreihe „Bürgertum. Neue Folge“ erschien 2004 Simone Lässigs Monografie „Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert“. In dieser inzwischen zu einem Standardwerk gewordenen Untersuchung kulturell-religiöser Verbürgerlichung deutscher Juden nehmen die Dresdner Familie Bondi und die mit ihr verwandtschaftlich, geschäftlich und gesellig vernetzten jüdischen Prominenten einen bedeutenden Platz ein. Es ist zu begrüßen, dass knapp zwei Jahrzehnte später dem Verwandtschaftsnetz dieser einflussreichen Familie eine ausführliche Studie gewidmet wird.
Die Monografie ist eine „stark gekürzte Fassung“ (S. 11) der von Rebekka Habermas und Simone Lässig betreuten und 2019 an der Georg-August-Universität Göttingen verteidigten Doktorarbeit. Für Daniel Ristau stellt sie einen Abschluss der rund zwei Jahrzehnte dauernden intensiven Beschäftigung mit den deutschen, insbesondere den Dresdner Juden dar, denen der Autor bereits seine Magisterarbeit widmete. Die Expertise ist bei der Lektüre des Buchs nicht zu übersehen. Das Quellenkorpus umfasst über 900 Briefe, zahlreiche Nachlässe sowie in vier Dutzend Archiven ausgewertete Akten der jüdischen Gemeinden, Bildungseinrichtungen, städtischen und staatlichen Behörden. Es werden rund 150 Titel der zeitgenössischen Presse zitiert wie auch zahlreiche autobiographische Schriften und Publikationen der Mitglieder des Verwandtschaftssystems, deren Auflistung samt der sonstigen gedruckten Quellen und Forschungsliteratur knapp 100 Seiten in Anspruch nimmt.
Ausgehend vom Dresdner Zweig der Familie Bondi stellt der Untersuchungsgegenstand der Studie das kulturell und emotional verstandene Verwandtschaftsnetz dar, das nicht nur biologische Abstammung, sondern auch durch Heirat entstandene Verbindungen sowie Pflegekinder umfasst. Die Studie ist dabei nicht als eine Kollektivbiografie konzipiert. Sie setzt sich vielmehr zum Ziel, die Relevanz des „Jüdischen“ als kulturelles, sinnliches, emotionales und prozesshaftes Konstrukt bei Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie alternative Wahrnehmungen zu beleuchten. Bei den untersuchten Netzwerken und Zuschreibungen werden nicht nur reale Praktiken wie Eheschließungen oder Vereinsmitgliedschaften berücksichtigt, sondern auch „imaginierte oder gefühlte Bezüge und Einschreibungen, etwa zu habituellen, kulturellen oder wissenschaftlichen Wertegemeinschaften“ (S. 29). Methodisch kommen vor allem kulturwissenschaftliche Ansätze der Geschlechter- und Emotionsgeschichte, die sozialorientierten Bürgertums- und Netzwerkforschungen sowie die Biografik zusammen.
Die Monografie ist in sieben Kapitel unterteilt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Familienlebens, insbesondere den Vernetzungen und deren Pflege, befassen. Im Zentrum stehen die Abschnitte „Praktiken“, „Ressourcen“ und „Knotenpunkte: Räume und Orte“. Der erste beleuchtet etwa Heiratspraktiken, das Korrespondieren und das Publizieren als Vernetzungsmechanismen. Der Abschnitt „Ressourcen“ beschäftigt sich mit den Wahrnehmungen des Körpers, der Seele und der Zeit sowie mit den dem Vermögen und der Bildung zugeschriebenen Werten. Auch wenn die Anknüpfung an die durch das oben erwähnte Standardwerk von Simon Lässig popularisierten Kapitalbegrifflichkeiten nach Pierre Bourdieu ausdrücklich abgelehnt wird (S. 169f.), kommt das Kapitel diesem Ansatz thematisch sehr nah. Im letzten Hauptabschnitt stellt Ristau Räume vor, in denen die Vernetzungen stattfanden, darunter: Wohnhäuser, Geschäftsräume, Bethäuser, Vereinslokale und Kurorte. Neben diesen drei zentralen Kapiteln werden in den weiteren Abschnitten die Teile der Familiengeschichte der Bondis dargestellt, die außerhalb des zeitlichen Schwerpunktes der Monografie in den Jahren 1790–1870 liegen. Dem Text folgen zahlreiche Anlagen, wovon über 30 genealogische Tabellen besonders hilfreich sind. Samt den Personen- und Ortsregistern ermöglichen sie es, stets einen guten Überblick über die gerade diskutierten Vertreter des Verwandtschaftsnetzes zu behalten.
Der Untersuchungskern der Studie sind Kinder, Enkel und Urenkel des kursächsischen Hoffaktors Simon Isaac Bondi und seiner Frau Gnendel, die Mitte des 18. Jahrhunderts aus Prag nach Dresden kamen. Nach 1790 stellten die Familienzweige in Dresden, Mainz und Altona bzw. Hamburg die Hauptachsen des Verwandtschaftsnetzes dar und somit stehen sie im Mittelpunkt von Ristaus Erzählung, die insgesamt rund 200 Familienmitglieder umfasst. Der Schlusspunkt der Untersuchung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist zum einen eine Folge der Schwächung der alten Netzwerke und Entstehung neuer Familienzweige in Wien, Berlin, New York oder Frankfurt am Main, zum anderen ist er mit der geringeren Bedeutung des „Jüdischen“ in den Vernetzungspraktiken begründet (S. 381).
Insgesamt ist es Daniel Ristau auf überzeugende Weise gelungen, zu zeigen, in welchem Ausmaß das „Jüdische“ in unterschiedlichen Momenten des Familien- und Berufslebens neben anderen Wahrnehmungen und Praktiken eine Rolle spielte. Während es beim neoorthodoxen Familienzweig in Mainz zahlreiche Aspekte des Lebens prägte, vermischte es sich bei den anderen Mitgliedern des Verwandtschaftsnetzes etwa mit den bürgerlichen Kulturen und Lebensweisen. Die aus dem „Jüdischen“ hervorgehenden Bekanntschaften, die Vorstellungen über die Kindererziehung, Familientraditionen oder gesellschaftliche und kulturelle Normen waren etwa für die Auswahl des Heiratspartners entscheidend. Dennoch wurde dabei auch das finanzielle Moment mitberücksichtigt. Das Heiraten mit engen Verwandten, wie es von zwei Dritteln der Untersuchten praktiziert wurde, sicherte nicht zuletzt das Vermögen in den innerfamiliären Kreisen. Zudem verliefen die Hochzeiten selbst im Sinne bürgerlicher Hochkultur, eher privat und nicht als eine Feier für die ganze jüdische Gemeinde (Kehilah) (S. 97–102).
Während in vielen Situationen eine Trennlinie zwischen dem „Jüdischen“ und dem „Bürgerlichen“ klar zu zeichnen ist, verwischen die beiden Kulturen und Praktiken in anderen Momenten. So etwa speiste sich die von Juden praktizierte Wohltätigkeit aus der Tradition der religiös gebotenen Zedaka, sie war aber gleichzeitig gesellschaftlich gesehen eine Betätigungsform, „[u]m den symbolischen Wert des eigenen Vermögens und Ansehens weiter zu steigern“ (S. 194, siehe auch S. 326–336). Die Stiftungspraxis ließ Netzwerke und den Ruf des Verstorbenen sogar nach seinem Tod wirken, indem jährlich an seinem Todestag Spenden an Arme, Kinder, oft sowohl christliche wie jüdische, oder für Bildungszwecke ausgezahlt wurden. In Dresden war im 19. Jahrhundert rund ein Viertel aller Stiftungen in der Kehilah mit den Bondis assoziiert (S. 378–380). Bei dieser wie auch anderen Praktiken ist zu beobachten, dass „das Jüdische mehr oder weniger vollständig hinter andere Bezugskategorien wie bürgerlich-standesgemäßen Habitus oder Bildungsideal“ zurücktrat (S. 433). Das „Jüdische“ war „situativ“ und wurde als solches stets umgedeutet und verhandelt.
Daniel Ristau exemplifiziert, wie sich die Mehrheit des Verwandtschaftsnetzes trotz aller Öffnung gegenüber der Außenwelt an das Judentum hielt, etwa in Verleihung von Synagogennamen, Beschneidung, Einhalten vom Schabbat oder Verwendung des jüdischen Kalenders (S. 81f., 185, 231f.). Bis zur Errichtung der ersten öffentlichen Synagoge in Dresden im Jahr 1840 unterhielt die Familie Bondi etwa zwei Privatbetstuben, die ein Drittel der dortigen Juden besuchte (S. 310–317). Von diesem Bondi-„Mainstream“ stand auf einer Seite der neoorthodoxe Familienzweig in Mainz, der an der Spaltung der dortigen Kehilah aktiv mitwirkte (S. 320–323). Auf der anderen Seite gab es zahlreiche säkulare Familienmitglieder, die zwar der Konfession nach dem Judentum angehörten, aber nicht die Schabbatruhe oder weitere Religionsgesetze beachteten. Diejenigen von ihnen, die sich zusätzlich taufen ließen, blieben dennoch nach wie vor ein fester Teil des Verwandtschaftsnetzes (S. 234, 262–270). Die vielfältigen Praktiken und Lebensweisen erlauben es nicht, von eindeutigen Kollektivdeutungen zu sprechen. Bildungswege, Berufsalltag oder Generationenzugehörigkeiten gehörten zu den Faktoren, die die unterschiedlichen Ausprägungen der Familienzweige mitbestimmten.
Eine Abwechslung in dieser kulturwissenschaftlich geprägten Studie bieten etliche Stellen, an denen Daniel Ristau die untersuchte Materie auch quantitativ auswertet. Man erfährt etwa, dass die Lebenserwartung bei den Bondis, die 1760–1840 geboren waren und das Erwachsenalter erreichten, 64 Jahre betrug (S. 363) oder dass die Geburt des ersten Kindes im Durchschnitt mit 23 Jahren und die des letzten mit 31 Jahren erfolgte (S. 75). Solche Ausführungen tragen zwar zu den Haupterkenntnissen der Studie nicht viel bei, sie ermöglichen aber einen Anschluss an sozialhistorisch orientierte Forschung.
Mit seiner Monografie liefert Daniel Ristau einen wertvollen Beitrag nicht nur zu einer außerordentlichen Familiengeschichte, sondern darüber hinaus insbesondere zur Bürgertumsforschung und Akkulturation der jüdischen Bevölkerung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In gewinnbringender Weise vertieft die Studie die Erkenntnisse des eingangs erwähnten Werks von Simone Lässig und stellt somit ein Paradebeispiel für die Untersuchung der kulturell-religiösen Verbürgerlichung einer deutsch-jüdischen Familie dar.