C. Rothauge: Zeiten in Deutschland 1879–1919

Cover
Titel
Zeiten in Deutschland 1879–1919. Konzepte, Kodizes, Konflikte


Autor(en)
Rothauge, Caroline
Reihe
Geschichte der technischen Kultur
Erschienen
Paderborn 2023: Brill / Schöningh
Anzahl Seiten
XII, 577 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Justus Grebe, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Gießen

Das Thema Zeit erfreut sich in der Geschichtswissenschaft schon seit einigen Jahren gestiegener Aufmerksamkeit. Dies ist kaum verwunderlich angesichts von Diskussionen um die Beibehaltung oder Abschaffung der Sommerzeit, um die Reduktion von Arbeitszeiten hin zur Vier-Tage-Woche und nicht zuletzt um eine „Zeitenwende“. Für die Geschichtswissenschaft ist dabei hin und wieder sogar ein „temporal turn“ diagnostiziert worden.1 Mit der auf ihrer Habilitationsschrift beruhenden Studie „Zeiten in Deutschland 1879–1919“ hat Caroline Rothauge nun einen wichtigen Beitrag zur historischen Erforschung der Zeiten geleistet.

Anliegen der Studie ist, wie Rothauge in der Einleitung erklärt, gängige Narrative über eine zunehmende Standardisierung von Zeit in der (Hoch-)Moderne quellenbasiert zu überprüfen. Dazu arbeitet Rothauge zuerst die historische Zeiten-Forschung auf und präsentiert eine ausgesprochen kenntnisreiche Darstellung der wichtigsten Forschungsrichtungen, theoretischen Zugänge und Begriffe. Für ihre eigene Studie zentral ist dabei das Verb „zeiten“ des Soziologen Norbert Elias, das ausdrücken soll, dass Zeiten durch Handlungen erst geschaffen werden.2 Hinzu treten Achim Landwehrs Begriffe „Pluritemporalität“ für die Vielfalt unterschiedlicher Zeiten und „Zeitwissen“ für das Wissen über Zeit.3 Der Dreiklang „Konzepte, Kodizes, Konflikte“, der immerhin den Untertitel der Studie bildet, findet im Buch hingegen keine analytische Anwendung. Zur inhaltlichen Beschreibung der historischen Prozesse, die Rothauge in fünf umfassend recherchierten Kapiteln auf breiter Quellenbasis darlegt, ist er jedoch gut geeignet. Dabei analysiert sie zeitgenössische Presseberichte und Denkschriften ebenso wie Regierungs- und Betriebsakten, Parlamentsreden und Postkarten.

Dies wird besonders im ersten analytischen Kapitel der Arbeit deutlich. Darin thematisiert Rothauge konkurrierende Konzepte standardisierter Zeit. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galten im Kaiserreich unterschiedliche Ortszeiten, die sich jeweils am Sonnenstand orientierten. Ein wichtiger Akteur in den Konflikten um die Zeitstandardisierung war das Reichs-Eisenbahn-Amt (REA), denn für Bahnreisende wie für die Eisenbahnbeamten selbst war die zeitgenössische Vielfalt voneinander abweichender Ortszeiten verwirrend. Das REA befürwortete deshalb die Einführung einer national einheitlichen „Normalzeit“. Demgegenüber plädierte beispielsweise der bekannte – und in der Studie immer wieder auftretende – Astronom Wilhelm Foerster für die Einführung einer auf dem gesamten Globus einheitlichen Weltzeit unter Beibehaltung der lokalen Ortszeiten, die sich an der Sonne orientierten. Durchsetzen konnte sich schließlich die nationale Normalzeit in Form der „Mitteleuropäischen Zeit“ – zumindest auf gesetzlicher Ebene im deutschen Zeitgesetz von 1893.

Von diesen staatlichen Regulierungsprozessen in Zeitfragen handelt das zweite analytische Kapitel. Dabei betrachtet Rothauge zum einen die Verabschiedung des deutschen Zeitgesetzes und zum anderen die Erlasse zur Einführung der Sommerzeit im Ersten Weltkrieg. Beide staatlichen Zeitstandards trafen dabei auf lokale Traditionen: „[A]ltbewährte Praktiken des Zeitens wurden beibehalten und zum Teil mit neuen temporalen Vorgaben kombiniert“ (S. 211). So führten die Standardisierungsbestrebungen zu einem Anwachsen der bereits bestehenden Pluralität des Zeitens, wenn beispielsweise lokale Sommerzeiten zur reichsweiten Regelung hinzuaddiert wurden. Rothauge stellt in diesem Kontext ein verbreitetes Unwissen über und Unvermögen im Umgang mit abstrakten, vom Gang der Sonne gelösten Konzepten von Zeit fest.

Gegen eine andere Vielheit von Zeiten, verursacht durch falsch gehende Uhren, wollten einige Unternehmen aktiv werden. Zwei dieser Unternehmen, die Normal-Zeit-Gesellschaft und ihre Vorgängerin, die Urania-Uhren- und Säulen-Commandit-Gesellschaft (UUSCG), untersucht Rothauge in ihrem dritten Kapitel. Dabei zeigt sie anschaulich, dass die zeitgenössischen Bestrebungen zu einheitlichen Zeitangaben sowohl an störanfälliger Technik und Finanzierungsschwierigkeiten als auch schlicht am Faktor Mensch scheiterten. In der Konsequenz führte auch hier das Einheitsstreben zu einer Vielheit der (Uhr-)Zeiten. „[Ü]bereinstimmende Zeitangaben umfassend zu verteilen“ (S. 259) gelang jedenfalls keiner der beteiligten Firmen.

Im vierten Kapitel widmet sich Rothauge Ordnungen von Arbeitszeiten und stellt auch hier erneut eine große Pluritemporalität fest. Dies zeigte sich beispielsweise an den vielfältigen zeitlichen Vorgaben der Arbeitsordnungen in den Fabriken der Firma Siemens & Halske. Hier galten nicht allein verschieden lange Arbeitszeiten, sondern auch umfangreiche Überstundenregelungen, sodass die Länge der Arbeitstage realiter die in der Arbeitsordnung vorgeschriebene Arbeitszeit häufig stark überschritten. Ebenso vielfältig zeigten sich die Arbeitszeiten in der Frankfurter Stadtverwaltung. Hier galt in einigen Abteilungen die hergebrachte „geteilte Arbeitszeit“ mit einer langen Mittagspause von mehreren Stunden, in anderen hingegen wurde „englische“ oder „ungeteilte Arbeitszeit“ mit kurzen Pausen und früherem Dienstschluss praktiziert. Auch der Ladenschluss, Rothauges letztes Beispiel, war von Pluritemporalität gekennzeichnet, die sogar in der eigentlich standardisierenden Gewerbeordnung angelegt war. Diese ließ nämlich einen weiten Spielraum für Ausnahmeregelungen. An all diesen Beispielen zeigt sich auch deutlich, wie sehr unterschiedliche Zeiten – beispielsweise die Mittagessenszeit und der Schulschluss der Kinder – aufeinander bezogen waren.

In ihrem letzten analytischen Kapitel widmet sich Rothauge schließlich der Frage, welche zeitgenössischen Wertvorstellungen sich mit Zeit verbanden und wie diese in der alltäglichen Praxis angenommen wurden. Dies ist – zumindest aus Perspektive des Rezensenten – das spannendste Kapitel des Bandes, zeigt es doch anschaulich die vielen Möglichkeiten des Unterlaufens von Zeitordnungen und Zeitwerten. So sehr einige temporale Ideen und Ideale auch propagiert wurden, so weit sich Uhren auch verbreiteten, so wenig konnte man sicher sein, dass sich diese in den Leben der Menschen tatsächlich so niederschlugen wie erwartet. Bloß weil Uhren immer leichter verfügbar waren, bedeutete dies nicht unbedingt, dass Pünktlichkeit im Alltagsleben einen höheren Stellenwert erlangte. Und bloß, weil Arbeitsordnungen auf Pünktlichkeit und Effizienz pochten, bedeutete dies nicht, dass die Arbeiter:innen diese Ordnungen nicht durch eigensinniges Verhalten unterliefen. In diesem aufschlussreichen Kapitel liegt gleichzeitig jedoch auch die größte Schwäche von Rothauges Buch: seine Anlage. Indem die Autorin viele der in den vorigen Kapiteln genannten Beispiele erneut aufgreift – wie die UUSCG oder die Firma Carl Zeiss –, um sie erst hier der tatsächlichen Praxis gegenüberzustellen, entstehen einige Redundanzen. Hier wäre die direkte Konfrontation von Denken, Handlung und Wirkung im selben Kapitel gewinnbringend gewesen.

In ihrem konzisen Resümee bekräftigt Rothauge erneut ihre zentrale These, dass zeitgenössische Versuche temporaler Standardisierung nicht zu einer Ablösung hergebrachter Formen des Zeitens, sondern stattdessen zu einer Pluralisierung der Zeiten geführt hätten. Gerade diese paradoxe Pluralisierung der Zeiten durch Standardisierungsbestrebungen, das Überlappen alter und neuer Zeiten, sei kennzeichnend für die Moderne. Angesichts von Rothauges minutiöser Auswertung vielfältigen Quellenmaterials ist diese These ausgesprochen plausibel. Dass die Lesbarkeit des Buches etwas unter der detaillierten Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse zum Thema Zeit leidet und durch den Aufbau Redundanzen entstehen, tut der wissenschaftlichen Leistung keinen Abbruch. Caroline Rothauge gelingt es, die bunte Vielfalt von Zeitkonflikten, Zeitwissen und Modi des Zeitens im Deutschen Kaiserreich anschaulich darzustellen und dabei viele gängige Narrative zur Geschichte der Zeit in der Moderne anhand reichhaltigen Quellenmaterials zu hinterfragen. Eine wichtige Studie, die Lust macht auf mehr Zeiten-Geschichte.

Anmerkungen:
1 So auch von der Autorin: Caroline Rothauge, Es ist (an der) Zeit. Zum „temporal turn“ in der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 729–746.
2 Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt am Main 1984, S. 8.
3 Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020, S. 43–47.

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