Als der Deutsche Fußball-Bund (DFB) kurz vor der Europameisterschaft bekannt gab, dass die deutsche Nationalmannschaft nach siebzig Jahren nicht länger von der fränkischen Adidas AG, sondern von dem aus dem fernen Oregon stammenden Sportartikelkonzern Nike Inc. ausgestattet werde, da rief dies umhegend einen politischen Entrüstungssturm hervor. Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) sprach von einer Fehlentscheidung, „wo Kommerz eine Tradition und ein Stück Heimat vernichtet“, und der bayerische Ministerpräsident Söder (CSU), der einmal der erste Heimatminister in Deutschland gewesen war, sekundierte: „Deutscher Fußball ist Heimat pur – und kein Spielball internationaler Konzernkämpfe.“ Die neudeutsche Heimatbewegung, die sich rund um den Ausrüsterwechsel aufbaute, um die Seele der populärsten nationalen Sportart gegen fremde Einflüsse zu schützen, stieß zwar umhegend auf den Widerspruch der Verbandsfunktionäre, doch der hob allein auf den kommerziellen Aspekt des neuen Vertrages ab und übersah die emotionale Dimension historischer Traditionen.
Anna Strommenger hat sich in ihrer an der Universität Duisburg-Essen eingereichten Dissertation, die aus dem DFG-Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ hervorging, eingehend mit Heimatkonzeptionen in der deutschen Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik beschäftigt. Doch anders als man vielleicht erwarten könnte, thematisiert sie diese nicht als Krisenreaktionen auf anonyme Internationalisierungsprozesse. Dabei hätte dies natürlich nahegelegen, denn die Arbeiterbewegung polemisierte nicht nur gegen den die Welt beherrschenden Imperialismus der kapitalistischen Hauptstaaten, sie erfuhr auch den Zusammenbruch der europäischen Friedensordnung, den Ausbruch eines Weltkrieges und die vermeintlich ausweglose Machtlosigkeit der ersten deutschen Republik gegenüber den Siegermächten, die Friedrich Ebert in seiner Eröffnungsrede vor der Nationalversammlung ausgiebig anprangerte.1 Viel wichtiger war hingegen – folgt man hierin Strommenger –, dass den Arbeitern das Recht auf Heimat verweigert wurde und sich die „heimatlosen Gesellen“ so gezwungen sahen, sich eine eigene Heimat zu erobern. An den Anfang ihrer fein ziselierten Untersuchung stellt sie die Überschrift eines Artikels, der 1931 im Organ „Der Wanderer“ des sozialistischen Touristenvereins „Die Naturfreunde“ erschien: „Haben wir eine Heimat?“ Allein der Titel suggerierte, dass die Arbeiterbewegung mit der Etablierung eines „Volksstaates“ noch nicht sehr weit gekommen schien, und doch kam der Autor zu dem eher überraschenden Ergebnis, dass auch den einst „Verdammten dieser Erde“ mit der Weimarer Republik eine Heimat gegeben sei – eine Heimat ohne Grenzen und Barrieren, die nicht gegründet sei auf Besitz – aber wenn nicht das, auf was dann?
Genau dieser Frage geht die Studie eingehend nach. Sie beeindruckt zunächst durch die Fülle und vor allem die methodisch kluge Auswahl des Quellenmaterials, das von zeitgenössischen Zeitschriften über Kalender, Liederbücher, Postkarten, Arbeiterliteratur bis hin zu Ego-Dokumenten reicht. Der Untersuchungsgang ist stringent und schlüssig. Was den Lesefluss stört, sind die häufigen und detaillierten Hinweise zum weiteren Vorgehen, welche die Ergebnisse dieses Vorgehens bisweilen vorwegnehmen, und das mangelnde Vertrauen in die Aufnahmefähigkeit einer Leserschaft, der die aussagekräftigen Zitate nicht noch einmal erklärt werden müssen.
Im ersten Teil der Arbeit werden die „Räume der Heimat“ vermessen, was anhand eines einleuchtenden Vergleichs zweier Fallstudien geschieht, die sich auf die Pfalz sowie Sachsen und hier wiederum auf die einst bayerische Stadt Ludwigshafen sowie die 1921 gegründete sozialistische Musterstadt Freital beziehen. Bei allen Unterschieden, die der sorgfältig ausgearbeitete Vergleich mit sich bringt, entwickelte sich unter den Sozialdemokraten doch ein gemeinsames, nämlich dynamisches, politisch-historisches Raumverständnis, das die arbeitende Bevölkerung in den Mittelpunkt stellte. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen konnte man zudem im Westen wie in der Mitte Deutschlands sehen, wie sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung allmählich in die jeweilige Regionalkultur einschrieb, sie veränderte und gestaltete, weil sie sich nicht der (klein)bürgerlichen Heimatbewegung anpasste, sondern diese mit der Herausbildung und Pflege eigenständiger Traditionen herausforderte. Besonders plastisch wird dies von Strommenger am Beispiel der Raumeroberung durch die „Naturfreunde“ nachgezeichnet – eine Eroberung, die sich nicht nur diskursiv ausdrückte, sondern sehr handfest in der Errichtung von Wanderunterkünften und Ferienhäusern, in sozialgeschichtlichen Kartierungen, politisch-pädagogischen Ausstellungen und vor allem im gemeinschaftlichen Wandererlebnis niederschlug.
Wie jede Heimat ihren Ort hat (so scheint es jedenfalls), hat sie auch ihre eigene Zeit. Um „Zeiten der Heimat“ geht es im zweiten Großkapitel. Hier zeigt die Verfasserin, dass die frühe Arbeiterbewegung infolge ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Expatriierung die transzendente Tendenz des vormodernen Heimatbegriffs wieder aufgriff, diesen dann aber mit ihrer schrittweisen Integration in die bürgerliche Gesellschaft sukzessive aufgab und dabei auch die Formensprache der kleinbürgerlichen Heimatbewegung übernahm. Die dritte Dimension, die Strommenger akribisch untersucht, betrifft die Zugehörigkeit zur Heimat. Hier geht es der Autorin vor allem um Grenzgänger, die zwischen sozialdemokratischer und bürgerlicher Heimatbewegung vermittelten und nicht selten Mitglieder des kulturreformerischen Dürerbundes waren, die aber aus den eigenen Reihen, wenn sie nicht ignoriert, dann kritisiert wurden. Strommenger reflektiert auch über dieses Nischendasein der von ihr porträtierten Wanderer zwischen den Welten.
Insgesamt folgte der Heimatdiskurs in der politischen Arbeiterbewegung deren allgemeinen Konjunkturen von Aufstieg, Spaltung und Krise. Im Kaiserreich bot die sich in zahlreichen Facetten entfaltende Bewegung Millionen von „heimatlosen Gesellen und Gesellinnen“ eine Ersatzheimat, ohne dass damit der praktische Kampf um ein Recht auf Heimat aufgegeben wurde. Am 10. Dezember 1918 empfing der Volksbeauftragte Friedrich Ebert die an ihm vorbei defilierenden Soldaten in ihrer neuen Heimat. Doch schon hier traten die Risse in der Arbeiterbewegung bereits offen zutage. Denn die USPD scheute sich, von einer neuen Heimat zu sprechen; zu wenig erschien ihr dafür bislang erreicht. Der radikale Flügel der Arbeiterbewegung sollte die erste deutsche Demokratie niemals als angestammte Heimat betrachten und richtete ihr Augenmerk auf das „Vaterland der Werktätigen“ – die Sowjetunion. Dass die Unzufriedenheit in der Arbeiterbewegung über das Erreichte rasch wieder zunahm, lag nicht zuletzt an der Verschärfung des Klassenkampfes von oben, der spätestens mit dem Ruhreisenstreit von 1928 einsetzte. Die Verdrängung der SPD von der Regierungsmacht 1930 tat ihr Übriges.
Auch Strommenger gelangt zu dem Ergebnis, dass es in Weimar nicht gelang, ein republikanisches Heimatverständnis zu verankern. Dafür war der Begriff einerseits zu unscharf, anderseits zu sehr umstritten. Der Autorin gebührt der Verdienst, auf unterschiedliche sozialistische Heimat-Konzepte aufmerksam gemacht zu haben. Denn so wie die historische Arbeiterbewegung den Begriff in ihrer Programmatik und Rhetorik mied, so mied ihn die Arbeiterbewegungshistoriografie als analytische Kategorie und schrieb und stritt lieber über sozialpolitische Erfolge, Fortschrittskonzepte und Sozialismusvorstellungen. Eigentümlicherweise lehnt sich Strommenger in ihrer Untersuchung aber weder an Forschungen zum Vaterlandsbegriff der Arbeiterbewegung oder zum Verhältnis von nationaler Frage und Sozialdemokratie an, noch setzt sie deren Forschungsergebnisse in Beziehung zu ihren Befunden. Auch werden „Klassiker des sozialistischen Heimatbewusstseins“ wie Karl Renner oder Otto Bauer nicht herangezogen, obschon die Wiege der „Naturfreunde“ ja in Wien stand. Am erstaunlichsten ist es aber, dass die Erfahrung des Krieges so gut wie keine Rolle in der Studie spielt. Dabei zeigt allein der sächsische Konflikt um die Haltung zur Stiftung „Heimatdank“, wie auszehrend der Streit um die Aufgabe der Heimat war.
Anmerkung:
1 Verhandlungen des Reichstages, Bd. 326. 1919/10, https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00008.html (02.04.2024).