Bei der besprochenen Studie handelt es sich um eine 2021 an der Universität Bonn angenommene germanistische Dissertation. Sie verfolgt Zeitkonzepte vom 18. Jahrhundert bis an die Schwelle unserer Gegenwart. „Ordnung der Zukunft“ setzt dem von Reinhart Koselleck und Lucian Hölscher für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts diagnostizierten Zeitbegriff der offenen Zukunft1 das Konzept einer neuerlichen „Schließung“ entgegen: „Die These dieses Buches lautet, dass das Aufbrechen geschlossener Weltbilder unmittelbar mit der Ausbildung neuer Schließungsbewegungen einherging. Statt also strukturell die semantische Öffnung zu unterstreichen, entwickelten die Zukunftsentwürfe formale Kompensationsverfahren und nutzten mit ihnen die Gelegenheiten der politischen Besetzung dieser neu entstandenen projektiven Leere.“ (S. 5)
Mit der Revision des offenen Erwartungshorizonts des Koselleck-Hölscherschen Begriffs der „neuen Zeit“ flankiert Stubenrauch von literaturwissenschaftlicher Seite die von Achim Landwehr und Daniel Fulda aufgestellte These einer um 1700 anbrechenden „Frühen Neuen Zeit“ samt Phänomenen der „Schließung“ offener Zeithorizonte. „Schließung“ bleibt hier eine Annahme, denn Fulda bezieht dafür sogar die von Andreas Urs Sommer für den Zeitraum von 1700 bis 1780 analysierten Sinnstiftungen (= Schließungen) spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophien mit ein.2 Stubenrauchs Ansatz, für die vermeintlich „offene Zukunft“ Schließungen nachzuweisen, verlässt die inhaltliche Ebene der Textanalyse und postuliert eine, um mit Stefan Jordan zu sprechen, den „Schwellenzeittexten“ (1999) inhärente Divergenz von Semantik und Struktur (S. 5). Stubenrauch zufolge laufen bei den von ihr untersuchten Texten von 1776 bis 1824 einer semantisch nachvollziehbaren offenen Zukunft Schließungen auf der Ebene der Textorganisation beziehungsweise des Textverfahrens entgegen. Modellbildend werden von ihr fünf Textverfahren als Schließungsfunktionen identifiziert: Das Exemplarische (S. 85ff.), der Vergleich (S. 129ff.), das Kalkül (S. 171ff.), die Genealogie (S. 212ff.) und das Panorama (S. 258ff.). Diese Textverfahren informieren jenseits von Gattung und semantischer Referenz die Textsorten von Roman, Kunstmärchen, geschichtsphilosophischem Traktat, Drama und Lyrik als modellbildende Metakategorien. Modell und Verfahren dienen Stubenrauch als Kategorien der Strukturanalyse. Stubenrauchs Einsatz ist daher ein doppelter: Modelltheorie und die Analyse von Textverfahren verabschieden „literaturwissenschaftliche Großkategorien“ wie Autor, Werk und Gattung (S. 19, Anm. 61) – an deren Stelle tritt die Analyse von intertextuellen Gemeinsamkeiten und „der für diesen Zeitabschnitt aktuellen und relevanten Formen, das Formbedürfnis der historischen Situation“ (S. 79). Zugleich will Stubenrauch das Sattelzeitparadigma der offenen, an variablen Erwartungshorizonten ausgerichteten Zukunft widerlegen.
So klar sich Stubenrauch von begriffsgeschichtlichen und texthermeneutischen Methoden abgrenzt, so wenig kommt sie in der Detailanalyse und in der begrifflichen Herleitung ihrer fünf Verfahrenskategorien davon los. Die von ihr herangezogenen Quellen werden Inhaltsanalysen unterzogen, die formalistisch verstandenen Kategorien (Exemplum, Vergleich, Kalkül, Genealogie, Panorama) werden jeweils zu Beginn begriffsgeschichtlich hergeleitet und mit zeitgenössischen Korrespondenz- und Gegenbegriffen auf Konnotate wie Denotate hin befragt. Es handelt sich um begriffsgeschichtliche Miniaturen im besten Sinne. Stubenrauch hätte mit Kosellecks begriffsgeschichtlicher Methode eine seiner zentralen Sattelzeitthesen mithilfe ihres breit ausgelegten Quellenkorpus widerlegen können. Denn, und dies ist eine Stärke dieser Studie, die Quellenbasis ist weit gesteckt. So werden für Stubenrauchs Verfahrensbegriff der Genealogie die zentralen Quellenbegriffe der „Entwicklung“ und des „Bildungstriebs“ am Beispiel von Goethes „Wilhelm Meister“, Friedrich Schlegels „Meister“-Rezension und Johann Friedrich Blumenbachs Schriften schlüssig aufeinander bezogen. Mit Blumenbach bezieht Stubenrauch die sich um 1800 als Wissenschaft formierende Biologie in den Kunstdiskurs ein. Für das Kalkül wird die Emanzipation des „Wahrscheinlichen“ aus dem Diskurs der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie herausgearbeitet, die zentralen Stationen Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann Jacob Breitinger, Georg Friedrich Meier, Johann Georg Sulzer, aber auch der Romantheoretiker Friedrich von Blankenburg und der Geschichtstheoretiker Johann Christoph Gatterer werden für einen neuen Begriff des Wahrscheinlichen und Evidenten analysiert. So gesehen ist „Die Ordnung der Geschichte“ eine Fundgrube zu begriffshistorischen Sachverhalten der Sattelzeit.
Die Vielzahl erhellender Begriffsanalysen, Werkdeutungen, die Fülle an Quellen und die Zitation einschlägiger Sekundärliteratur füllt nicht die entscheidende Leerstelle des Werks. Der theoretische Rahmen und die daraus abgeleitete Methodik überzeugen nicht zur Gänze. Die Modelltheorie als strukturanalytischer Ansatz wird von Stubenrauch nicht in voller Tragweite angewandt. Die von Sandra Kerschbaumer vorgestellte viergliedrige Matrix der Modelltheorie hätte gleichermaßen einen formalistischen wie kohärenten Analyseweg ermöglicht. Die aufeinander bezogenen Analyse-Kategorien von „Matrix: Original, Quelle, Ursprungssystem“ – „Modell als wesentlich aufgefasste Eigenschaften“ – „Modellobjekt: Verkörperung des Modells“ und „Applikat: Anwendung“ wendet Kerschbaumer auf Gattungen und Medien der Romantik an.3 Stubenrauch führt diesen modelltheoretischen Ansatz als zentralen theoretischen Rahmen ihrer Studie ein (S. 23–81), bleibt in der Anwendung der Modelltheorie aber, wie ihre Analyse von Julius von Voß‘ Zukunftsroman „Ini“ (1810) zeigt, einer inhaltlichen Motivanalyse verpflichtet und überdehnt das korrespondierende Motiv der bei Voß als Utopie gefassten „Gesichtsoptimierung“ (S. 47) als gesellschaftlichen wie politischen Ordnungsentwurf und damit als Modell der Schließung einer eigentlich offenen Zukunft. Argumentativ springt Stubenrauch von der Referierung des Romans samt einer Kollationierung mit zeitgenössischen physiognomischen Theorien eines Johann Caspar Lavater hin zu theoretischen Texten der Bildtheorie (Gottfried Boehm, Rüdiger Campe), der politischen Literaturtheorie (Jacques Rancière) und des Strukturalismus (Gilles Deleuze / Felix Guattari und Michel Foucault). In der Vielzahl der bemühten Theoriehorizonte verblasst das Argument, die dem New Historicism entlehnte Konfrontation zeitgenössischer Textsorten verliert ihre Spannung, und das Ergebnis wird leider diffus.
Für Schlussfolgerungen wie diesen verwendet Stubenrauch einen – bei aller Brillanz ihrer Begriffsanalysen – schwer verständlichen literaturwissenschaftlichen Jargon. Die Aussagekraft ihrer Termini bleibt an einigen Stellen unklar, so bei „Zusammenhangskomplexität“ (S. 5), „Suggestibilisierung“ (S. 89, 104), „Kippfigur“ (S. 90, 231, 292), „oxymorale Haltung“ (S. 111) und „applikativer Vektor realistischer Kunst“ (S. 394). Wenn Stubenrauch konstatiert: „Das Exemplarische wirkte um 1800 demnach als Verfahren, das den zukünftigen Fortschritt mit all seinen Handlungsmöglichkeiten darstellbar machte und gleichermaßen dazu eingesetzt wurde, die Fülle an Möglichkeiten synthetisch einzuhegen“ (S. 104), dann stellt sich die Frage, ob statt „synthetisch“ vielmehr „synthetisierend“ gemeint ist. Angesichts der von Stubenrauch zentral formulierten Annahme einer „Transformation von Substanz in Synthese“ (S. 6) bleibt zudem zu fragen, welche „Synthesen“ konkret gemeint sind. Stubenrauchs Metasprache ist derart hoch aggregiert, dass manches Argument mehr plausibilisiert, denn schlüssig belegt wird. Dass unvermittelt von quellensprachlichen Belegen in Theoreme gewechselt wird, macht die Lage nicht einfacher – so am Beispiel eines Romans von A. K. Ruh „Guirlanden um Die Urnen der Zukunft“ (1800) der Sprung zu Erich Auerbachs Konzept der Figuraldeutung (S. 121ff.) und anlässlich von David Christoph Seybolds Briefroman „Reizenstein“ (1778/79) der Wechsel in eine Analyse mit Gérard Genettes Konzept der Paratexte (S. 200ff.). So hilfreich die jeweiligen Theoreme für den in Rede stehenden Text sein mögen, es drängt sich der Eindruck eines Patchworks an Analysekonzepten auf. Kein Analyseinstrument wird durchgängig angewandt. Nicht allein die Auswahl der berücksichtigten Quellentexte ist wenig eingegrenzt, auch die zur Analyse herangezogenen Theoreme können additiv ad infinitum fortgeschrieben werden.
Dies führt zum Kernpunkt meiner Kritik: Die von Stubenrauch dezidiert vollzogene Abkehr von den Konzepten „Autor“ und „Gattung“ führt für ihr Thema zu Problemen. Gattungen oder besser Textsorten sind nach wie vor nach einer sozialen, rechtlichen oder ästhetischen Verbindlichkeit ihres Aussagegehalts zu unterscheiden: Ein Lexikonartikel wie von Zedler oder Sulzer unterscheidet sich hinsichtlich seiner Normativität und des intendierten repräsentativen Aussagegehalts grundsätzlich von einem Roman, einem Drama oder einem geschichtstheoretischen Text. Hier liegen Unterschiede in der Semantik vor, die es zu analysieren und darzustellen gilt. Die Metaebene des modelltheoretischen Zugriffs über die Kategorien Exemplum, Vergleich, Kalkül, Genealogie und Panorama vermag die semantische Anfechtbarkeit der Studie nicht in Struktur aufzulösen. So gesehen bleibt es bei einer Diskrepanz von Semantik und Struktur (S. 5, 150).
Inwieweit die „Ordnung der Zukunft“ für den Untersuchungszeitraum von 1776 bis 1824 als die eines geschlossenen Erwartungshorizonts angesehen werden muss, bleibt also zu hinterfragen. Es lassen sich ohne weiteres Autoren als Gegenbeispiele anführen: Statt Karl von Eckartshausen könnte sein Zeitgenosse Rupert Kornkamm herangezogen werden, anstelle von Joseph Görres ohne weiteres Friedrich Buchholz. Auf der semantischen Ebene würden hier Belege für die offene Zukunft gefunden. Inwieweit die über die oben genannten fünf Textverfahren modellierte Schließung auch bei Kornkamm, Buchholz oder anderen Autoren funktioniert, bliebe dann zu klären. Bereits Hayden Whites formale Methode, prominente Werke der Historiographie auf die Modelle Romanze, Tragödie, Komödie und Satire zurückzuführen, scheiterte an einem logischen Zirkelschluss. Zu überlegen ist auch, ob nicht alternative Modelle Textverfahren der Sattelzeit adäquat erschließen können – so das Pittoreske beziehungsweise Malerische, das Musikalische beziehungsweise die Sonate oder das Individuelle beziehungsweise die Individualisierung. Dies sind lediglich Vermutungen, doch es zeigt, dass die Sattelzeit als Umbruchzeit in Sprachhaushalt, Epistemen und Modellen noch längst nicht ausgedeutet ist.
Stubenrauchs Verdienst bleibt es, für die Umbruchzeit von 1740 bis 1850 eine neue Sicht auf das Projekt „Zukunft“ in die Diskussion gebracht zu haben und über die Annahme von „Wiederholungsstrukturen“ dieses Projekt auch für die nachfolgenden Schwellenzeiten um 1900 und 2000 zu hinterfragen: „Mit der Emphase für unbegrenzte zukünftige Entwicklungen kaufen wir uns stets die Formen ihrer Begrenzung ein.“ (S. 410)
Anmerkungen:
1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main 1999.
2 Achim Landwehr (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012; Daniel Fulda, Um 1700 begann die ‚offene Zukunft‘. Zum Ausgang der Aufklärung von einer allgemeinen Unsicherheitserfahrung, in: ders. / Jörn Steigerwald (Hrsg.), Um 1700. Die Formierung der europäischen Aufklärung. Zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 52), Berlin 2016, S. 23–45; Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Genese der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie zwischen Pierre Bayle und Immanuel Kant (Schwabe Philosophica 8), Basel 2006.
3 Sandra Kerschbaumer, Immer wieder Romantik. Modelltheoretische Beschreibungen ihrer Wirkungsgeschichte, Heidelberg 2018.