„The fact is that most libraries throughout history have dispersed or been destroyed one way or another, but generally it is only those whose demise was violent that has been regretted and lamented by posterity.“ (S. 2) Sind bibliophile Verluste durch allmählichen Verfall, wie bei der Bibliothek von Alexandria, tragischer als das gewaltsame Ende einer Sammlung durch Bücherraub oder bei der Auflösung eines Klosters im Zuge der Reformation? Gehört ein Manuskript wie die einzigartige „Riesenbibel“, der spätmittelalterliche Codex Gigas, nach Prag, wo er entstanden und von wo er im Jahre 1648 von schwedischen Truppen geraubt wurde, oder ist er nunmehr nicht verhandelbares Eigentum der Königlichen Bibliothek Stockholm, in der er nun schon seit mehr als dreihundertfünfzig Jahren aufbewahrt wird? Hätte er beispielsweise den Zweiten Weltkrieg in Prag überlebt? Was wäre aus Nikolaus Kopernikus’ (1473–1543) Büchersammlung in Frombork (Frauenburg) oder der Bibliothek des Jesuitenkollegs in Riga geworden, wenn sie nicht als Kriegsbeute im Dreißigjährigen Krieg nach Schweden gelangt wären? Wären sie am ursprünglichen Ort geblieben, gäbe es sie heute noch? Muss man heute solchen gewaltsamen historischen Ereignissen vielleicht sogar auf eine Art dankbar sein, dass nicht wenige Bücher und Handschriften auf diese Weise überlebt haben?
Darüber ließe sich lange spekulieren, ebenso darüber, warum manche Bücher schlichtweg verschwunden sind, während andere nach vielen Irrwegen in einem anderen Winkel Europas wieder aufgetaucht sind. Viel interessanter sind jedoch Fragen danach, wie bestimmte historische Narrative von Buchbesitz und -besitzern entstehen und einzelnen Büchern oder ganzen Buchsammlungen nicht nur eine passive Rolle als Kriegsbeute zuteilwurde, sondern sie auch selbst als durchaus mächtige Akteure in politischen und/oder konfessionellen Konflikten auftreten konnten. In dieser umfangreichen und sorgfältig zusammengestellten Studie zu ehemaligen, verschwundenen, dislozierten und neuformierten Bibliotheken im Ostseeraum im Zeitalter der Konfessionalisierung geht es den Herausgebern und Beiträger:innen um einen differenzierten Blick auf die vielfältigen kulturellen, geographischen, religiösen und historischen Umwälzungen und Diskurse, die diese europäische Epoche ausmachen und die bis in unsere Gegenwart nachwirken (welche nicht zuletzt auch politische und juristische Implikationen für Kulturgüter jeglicher Art mit sich bringen, Stichworte „repatriation“ und „cultural heritage“).
„We believe that books and library collections are never static, but have long life cycles in which all aspects of the past belong to their historical narrative.“ (S. 9) konstatieren die Herausgeber, die gleich eingangs die bereits im 19. Jahrhundert begonnene transnationale Zusammenarbeit von Bibliotheken und Buch- sowie Kunsthistoriker:innen würdigen, die um die Erschließung und Dokumentation historischer Buchbestände besorgt sind, was nicht zuletzt dank der fortschreitenden Digitalisierung zunehmend einfacher wird. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sind für Skandinavien vor allem die Bibliothekare und Historiker Otto Walde (1879–1963), Isak Collijn (1875–1949) oder Lauritz Nielsen (1881–1947) zu nennen, auf deren grundlegende Arbeiten sich zahlreiche der hier versammelten vierzehn Beiträge auf den Gebieten Buchgeschichte, Musik- und Kulturgeschichte stützen, von denen einige im Folgenden exemplarisch diskutiert werden. Der vorliegende Band ist in der renommierten Reihe „Library of the Written Word“, die von Andrew Pettegree und Arthur der Weduwen herausgegeben wird, erschienen und ein must have für alle, die sich für die Buchgeschichte, Bibliotheks- und Kulturgeschichte (nicht nur, aber vor allem) Nord- und Nordosteuropas interessieren. Er schließt zudem an bereits früher in derselben Reihe erschienene Bände zum skandinavischen Buchmarkt an.1 Pettegree und der Weduwen haben darüber hinaus in ihrem sehr lesenswerten Buch „The Library. A Fragile History“2 zahlreiche Fragen diskutiert, die auch im hier vorliegenden Sammelband „The Baltic Battle of Books“ erörtert werden, sowohl in einzelnen Case Studies oder Mikrostudien wie zum Beispiel in den Beiträgen von Fryderyk Rozen zur Bibliothek des Johannes Poliander (1487–1541) in Königsberg oder von Elin Andersson zu Entstehung und Aufbau der Bibliothek der Domschule im schwedischen Strängnäs, als auch in grundsätzlichen Überlegungen.
„Dispersal and collections are to a certain extent two faces of the same coin. The dispersal of book collections often benefit other book collectors, in a manner that can be described with the old proverb ‚unus colligit, alius collecta dispergit‘, (one collects, and the other one scatters what has been collected).“ (S. 238), hält Anders Toftgaard in seinem Beitrag über einige dänische Privatbibliotheken der frühen Neuzeit und ihren abenteuerlichen Schicksalen fest. Umfangreiche, kostbare Privatbibliotheken wie etwa diejenige von Heinrich Rantzau (1526–1598) wurden im 17. Jahrhundert aufgelöst und gelangten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges teilweise bis nach Prag, wo zahlreiche von Rantzaus Büchern wiederum von schwedischen Truppen als Kriegsbeute entführt wurden, teils in deutsche Bibliotheken kamen, auf Auktionen verkauft wurden oder schlichtweg verschollen sind. Jørgen Seefelds (1594–1662) Büchersammlung, eine der am reichsten ausgestatteten Privatbibliotheken im dänisch-norwegischen Königreich des 17. Jahrhunderts, gelangte zunächst an Corfitz Ulfeldt (1606–1664) und wurde Opfer der diversen politischen Verstrickungen und kriegerischen Ereignisse zwischen Dänemark und Schweden im 17. und frühen 18. Jahrhundert; Teile der nicht mehr existenten gesamten Sammlung sind heute auf verschiedene Bibliotheken und Archive in Skandinavien verstreut.
Wie Janis Kreslins in seinem den Sammelband abschließenden Resümee bemerkt, ist man heute in der Regel der Ansicht, dass Bibliotheken sehr sichere Orte der Aufbewahrung von Büchern und Handschriften sind. Dass dies jedoch durchaus die längste Zeit der Geschichte seit der Erfindung des Buchdrucks nicht der Fall war, wird bei der Lektüre des Bandes auf jeden Fall deutlich. Bibliotheken sind fragile Orte (siehe die bereits erwähnte Publikation von Pettegree und der Weduwen) und wurden leider, wie auch andere Artefakte, im Laufe der Geschichte immer wieder Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen. Bücher waren in der frühen Neuzeit Wertobjekte, die produziert, gekauft, verschenkt, gestohlen oder geraubt, zerstört, versteckt, transportiert und bewahrt werden konnten. Sie konnten ebenso als Prestigeobjekt und Zeugnis der Belesenheit, Gelehrsamkeit und Welterfahrung ihrer Besitzer in einer Bibliothek stehen und bewundert, wie auch als Gabe für getreue Dienste an Lehnsherren einfach verschenkt werden. Sie konnten fleißig gelesen oder auch nur als „Coffeetable books“ ausgestellt werden. Dass gerade im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation gewisse Bücher von Vertretern der jeweils anderen Konfession als „gefährlich“ eingestuft wurden, ist bekannt, weniger vielleicht jedoch, dass etwa Handschriften und Bücher, die aus katholischen Institutionen und Klöstern nicht nur in Skandinavien selbst stammten, sondern vor allem aus eroberten Gebieten im Königreich Polen-Litauen, Böhmen und Mähren oder den heutigen baltischen Ländern, durchaus in Bibliotheken des streng lutherischen Königreichs Schweden ihren Platz fanden, wie die Beiträge von Peter Sjökvist oder Lenka Veselá zeigen.
Die Bibliotheken skandinavischer Universitäten und Domschulen profitierten von diesen Eroberungen. Eine Art Herzstück des Sammelbandes oder auch exemplarischer Fall stellt dabei die Bibliothek des ehemaligen Jesuitenkollegs in Riga da, indem diese selbst früheren Buchbesitz (nämlich aus dem Zisterzienserinnenkloster in Riga, das Ende des 16. Jahrhunderts im Zuge der Reformation aufgelöst wurde) inkorporierte, bevor sie 1621 bei der Eroberung Rigas von schwedischen Truppen nach Uppsala gebracht wurde.
Eine differenzierte Sicht auf historische Abläufe sowie ein Verzicht auf Dichotomien von beispielsweise „Verlust“ versus „Bewahren“ ist grundsätzlich allen Beiträgen des Sammelbandes gemeinsam, die sich in vielerlei Punkten immer wieder kreuzen und gegenseitig ergänzen. Abgeschlossene Erschließungs- und Digitalisierungsprojekte und noch laufende internationale Forschungsprojekte3 vernetzen nicht nur Forschende und Bibliotheken und vermitteln dank der Digitalisierung Wissen über europäische Kulturgüter, sie machen auch deutlich, dass die Geschichte europäischer Bibliotheken und Büchersammlungen niemals eine nationale Angelegenheit war und ist, sondern grenzüberschreitend wie die Bücher selbst.
Anmerkungen:
1 Beispielsweise Wolfgang Undorf (der auch im vorliegenden Band mit einem Beitrag vertreten ist), From Gutenberg to Luther. Transnational Print Cultures in Scandinavia 1450–1525, Leiden 2014.
2 Andrew Pettegree / Arthur der Weduwen, The Library. A Fragile History, London 2022.
3 Siehe etwa das European Jesuit Libraries Provenance Project (EJLPP) auf https://www.jesuit-libraries.com (02.01.2024).