Wie nahmen deutsche Lehrer:innen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren an einen Fulbright-Austausch teilnahmen, die USA wahr? Wie reflektierten sie ihr eigenes Bildungssystem? Welches Wissen brachten sie in die westdeutschen Debatten über die Bildungsreform der 1960er-Jahre ein? Diesen Fragen geht die Studie „Kulturtransfer und Wissenszirkulation in den langen 1960er-Jahren. Das deutsch-amerikanische Fulbright-Programm für Lehrer:innen“ der Bildungshistorikerin Sarah Wedde nach. Die Monographie, die auf einer 2022 an der Universität Kassel verteidigten Dissertation beruht, analysiert in einer Mikrostudie 215 Fragebögen von Lehrer:innen nach dem Ende ihres Austauschs in den USA und stellt sie in den Kontext der transatlantischen Bildungsgeschichte der langen 1960er-Jahre.1 Dabei möchte die Autorin nicht nur einen Betrag zur transatlantischen historischen Bildungsforschung leisten. Sie ordnet ihre Arbeit auch in das Feld der Wissensgeschichte ein, indem sie die Stipendiat:innen als Akteur:innen der transatlantischen Wissenzirkulation über Bildungsreform und Demokratisierung begreift.
Die zeitliche Eingrenzung der Analyse von 1957 bis 1972 ergibt sich aus den verfügbaren Quellenbeständen. Daraus resultiert auch eine kulturgeschichtliche Einbettung in den Kontext der „langen 1960er-Jahre“. Der Aufbau der Arbeit entspricht den Logiken einer klassischen Qualifikationsschrift. Nach einer kurzen Einführung in das Thema folgt ein ausgedehnter Abschnitt zur Quellenkritik, Theorie und Methodik, bevor ein zweites Großkapitel den historischen Kontext vorstellt; im letzten Drittel des Buches erfolgt die eigentliche Quellenanalyse.
Überzeugend ist der breitgefächerte Theorie- und Methodikteil, wenn die Autorin sich mit der Wissenszirkulation in der transatlantischen Bildungsgeschichte auseinandersetzt. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Wissensgeschichte, indem sie Teilnehmer:innen eines Austauschprogramms als Akteur:innen der Wissenszirkulation ernst nimmt und an Hand von Egodokumenten nachweisen kann, welches Wissen sie über das amerikanische Schulsystem und die amerikanische Kultur im Allgemeinen in die Bundesrepublik mit zurückbrachten.
In Kapitel 4 und 5 folgt eine quellenbasierte Einführung in die Wiederherstellung der Kulturdiplomatie zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese hebt besonders den Übergang von einer punitiven Re-Education zu einem demokratiefördernden Projekt der Re-Orientation um das Jahr 1947 hervor. Der amerikanische Begriff „Education“, basierend auf dem Konzept des US-amerikanischen Bildungsforschers John Dewey, umfasste hier sowohl die schulische Bildung als auch die staatsbürgerliche, demokratische Erziehung. Der Fulbright-Kulturaustausch stellte eine wichtige Säule der amerikanischen Maßnahmen zur Demokratisierung des Nachkriegsdeutschlands dar. Die Austauschprogramme, zunächst gedacht für einen elitären Kreis an Studierenden, Berufstätigen und Universitätsdozierenden, sollten eine zukünftige demokratisch-orientierte Führungsschicht ausbilden, die auch im Kontext des aufkeimenden Kalten Krieges ein positives Bild der USA entwickeln und als Multiplikatoren in die Bundesrepublik hineintragen sollte.
Das Austauschprogramm für deutsche Lehrer:innen war eingebettet in die gesellschaftlichen Aufbrüche der 1950er- und 1960er-Jahre, welche sich besonders durch die Verbreitung der Konsumgesellschaft, des Kinos und des Rock’n’Rolls auszeichneten. Besonders der Spielfilm „Blackboard Jungle“ (1955) prägte die westdeutschen Vorstellungen von amerikanischen High Schools als Orte des Drogenkonsums, der Jugendkriminalität und der Disziplinlosigkeit gegenüber Lehrkräften. Neben den kulturellen Veränderungen waren auch der sogenannte Sputnik-Schock und daraus auf beiden Seiten des Atlantiks resultierenden Forderungen nach Bildungsreform prägend für die Rahmung des Lehrer:innenaustauschs der langen 1960er-Jahre.
Die Teilnehmer:innen des Interchange Teacher Program, so Kapitel 6, wurden in einem komplexen Prozess ausgewählt, sie waren ausschließlich an deutschen Gymnasien und Oberschulen angestellt und wurden an High Schools und Colleges vor allem an der Ostküsten und im Nordwesten der USA eingesetzt. Etwa 44 Prozent der teilnehmenden Lehrer:innen waren weiblich, die große Mehrheit war unverheiratet. Während ihres Austauschjahrs wurden die meisten Lehrer:innen im Fremdsprachenunterricht eingesetzt und es wurde erwartet, dass die Austauschteilnehmer:innen neben ihrem Unterricht und dem Nachmittagsangebot der Schule auch Vorträge in der breitgefächerten amerikanischen Klublandschaft hielten. Die Stipendiat:innen bekamen einen guten Einblick in die gelebte Demokratie auf lokaler Ebene. Sie wurden zu Akteur:innen der transatlantischen Wissenszirkulation in zwei Dimensionen, zum einen brachten sie Wissen über die deutsche Kultur in das US-amerikanische Vereinsleben, zum anderen holten sie Wissen über die amerikanische Zivilgesellschaft mit nach Deutschland.
Die Fragebögen, die Stipendiat:innen am Ende ihres Aufenthaltes ausfüllten, zeigen ihre Wahrnehmungen über die amerikanische Kultur im Allgemeinen und über das amerikanische Schulsystem im Speziellen. Allgemein positiv bewerteten die Stipendiat:innen die Gastfreundschaft, die sie teilweise nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA erfuhren. Die Stipendiat:innen gaben an, dass sie den „American Way of Life“ vor Beginn des Austauschs vor allem in materieller Hinsicht verstanden hatten, aber überrascht waren, wie lange die durchschnittliche Familie für diesen Wohlstand arbeiten musste. Geschlechternormen nahmen sie als moderner und emanzipierter war. Der größte Kritikpunkt war der Umgang mit Race Relations in den USA, wobei die Mehrheit der Stipendiat:innen in komplett weiße Schulen platziert wurde und im Alltag wenig Kontakt zu People of Color oder den Bürgerrechtsprotesten hatte.
Auch in Bezug auf das Schulsystem mussten die Austauschlehrer:innen, so zeigt Kapitel 7.2, ihre Vorannahme revidieren. Vor Beginn des Austauschs glaubten viele Lehrer:innen, amerikanische Schüler:innen wären weniger diszipliniert als in der Bundesrepublik. Auch hier mussten sie feststellen, dass die Schüler:innen härter arbeiteten als angenommen, und dass ein informellerer Umgang nicht gleich einen Verlust von Disziplin bedeutete. Zu den wichtigsten Elementen des amerikanischen Schulsystems, die die deutschen Lehrer:innen lobten, zählten die Ganztagsschule, der Einsatz von Sprachlaboren im Fremdsprachenunterricht sowie das Einüben demokratischer Praktiken im Schulalltag. Was die Austauschlehrer:innen am vehementesten ablehnten, war das Gesamtschulsystem beziehungsweise das zeitgleiche Unterrichten von Schüler:innen verschiedener Niveaustufen. Diese Erkenntnis überrascht, steht sie doch im Widerspruch zu der Ankündigung in Kapitel 6, dass Teilnehmer:innen der ersten Kohorte des Austauschprogramms die erste Gesamtschule in Deutschland gründeten, das Schuldorf Bergstraße bei Darmstadt.
Das Fazit der Studie hebt hervor, dass neben der neuen Didaktik des Fremdsprachenunterrichts und den Sprachlaboren die Austauschlehrer:innen besonders Konzepte „einer partizipatorischen Schule, die für Chancengleichheit und Mitbestimmung steht“ (S. 195), in die Bundesrepublik mitbrachten. Damit leisteten sie einen Beitrag, ein „Klima der Reformbereitschaft in der westdeutschen Gesellschaft zu etablieren“ (S. 199), und nutzten die US-amerikanische Bildungskultur als Ressource und nicht als Blaupause für die westdeutsche Bildungsreform. Jedoch bestärkte die Erfahrung in der amerikanischen High School die Mehrheit der Lehrer:innen, an dem dreigliedrigen Schulsystem festzuhalten.
Gegenüber dieser Lesart Weddes ist jedoch kritisch anzumerken, dass das amerikanische Bildungssystem längst nicht so partizipatorisch war, wie es die Austauschlehrer:innen darstellten. Es gab in dem Untersuchungszeitraum in den USA vehemente Protestbewegungen für und gegen die Desegregation von Schulen, worauf die Studie nur kurz eingeht. Besonders in Bezug auf den Faktor Race hätte man sich gewünscht, dass die Studie stärker das Weißsein der Stipendiat:innen reflektiert hätte, bewegten sie sich doch in einem weißen homosozialen Umfeld und wurden selten Zeug:innen der Konflikte um Bildungszugänge in mehrheitlich schwarzen Gemeinden. Allgemein hätte man der Autorin auch mehr Mut gewünscht, Ihre Ergebnisse nicht nur in den Kontext der transatlantischen Bildungsgeschichte, sondern die Geschichte des kulturellen Wandels in der Bundesrepublik allgemein einzuordnen.
Das größte Manko der vorliegenden Monographie ist jedoch der Aufbau mit einer sehr langen Einführung und einer sehr kleinteiligen Gliederung. Hier wäre die Autorin besser beraten gewesen, das Manuskript noch mehr von einer klassischen Qualifikationsschrift in eine Monographie umzuarbeiten. Dennoch stellt die hier vorliegende Studie einen lobenswerten Beitrag zur Umsetzung der Methodiken der Wissensgeschichte dar, die sich reflektiert mit der Frage der Wissenszirkulation auseinandersetzt und die Annahmen der bisherigen Forschung zur Bedeutung der transatlantischen Wissenszirkulation anhand ihrer Fallstudie empirisch unterfüttert. So zeigt die vorliegende Arbeit mit anschaulichen Beispielen, welche Quellen und Akteursgruppen zur Untersuchung wissensgeschichtlicher Fragestellungen besonders geeignet sind. Die vorliegende Studie stellt somit einen wertvollen Beitrag im Forschungsfeld der transnationalen Wissensgeschichte dar.
Anmerkung:
1 Siehe zum Beispiel Johannes Großmann / Hélène Miard-Delacrois (Hrsg.), Deutschland, Frankreich und die USA in den ‚langen‘ 1960er Jahren. Ein transatlantisches Dreiecksverhältnis, Stuttgart 2018; Thomas Koinzer, Auf der Suche nach der demokratischen Schule. Amerikafahrer, Kulturtransfer und Schulreform in der Bildungsreformära der Bundesrepublik Deutschland, Bad Heilbrunn 2011.