H. Morgenstern: Jüdisches biographisches Lexikon

Titel
Jüdisches biographisches Lexikon. Eine Sammlung von bedeutenden Persönlichkeiten jüdischer Herkunft ab 1800


Autor(en)
Morgenstern, Hans
Erschienen
Wien 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
IV, 946 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Ristau, DFG-Graduiertenkolleg "Generationengeschichte", Georg-August-Universität Göttingen

Nachschlagewerke und Lexika, die biographische Zugänge zu jüdischen Persönlichkeiten bieten, sind seit dem 19. Jahrhundert weit verbreitet. Zunächst in der Regel von jüdischer Seite herausgegeben, dienten sie vor allem der Hervorhebung von kulturellen Leistungen der Juden nach innen wie außen und sollten dadurch zugleich helfen, Vorurteile abzubauen.1 Nach der Shoah hat sich die Zahl der allgemeinen und speziellen biographischen Lexika massiv erweitert, waren doch vielfach die Bände selbst zu Formen des mahnenden Erinnerns geworden. Auch in den letzten beiden Dekaden sind immer wieder neue Nachschlagewerke zu jüdischen Persönlichkeiten erschienen2, in deren Folge sich jetzt auch das vorliegende Werk von Hans Morgenstern einreiht.3

Ziel des Verfassers, der seit vielen Jahren auch am Österreichischen Biographischen Lexikon (Sparte Dermatologie) mitarbeitet und sich bereits an anderer Stelle mit jüdischen Sportlern in Österreich befasst hat4, ist es, „den Beitrag von Juden und Jüdinnen sowohl zur allgemeinen Kultur in den verschiedenen europäischen Ländern und den USA als auch zur spezifisch jüdischen Kultur“ (S. i) zu zeigen. Dem „bösen Vorurteil“ des Antisemitismus entgegen zu wirken, dem er sich als agnostischer Jude selber ausgesetzt sah, sei deshalb „sicherlich ein wesentliches Motiv für dieses Werk“ (S. i). Für den 1937 in St. Pölten geborenen, 1947 mit seiner Familie aus dem Exil in Palästina zurückgekehrten und inzwischen pensionierten Hautarzt ist der Band also auch Produkt der Auseinandersetzung mit der eigenen biographischen Erfahrung.5

Das Lexikon versammelt eine „repräsentative Auswahl“ (S. i) von mehr als 6.000 biographischen Kurzeinträgen, die das 19. und 20. Jahrhundert einschließlich heute noch lebender Personen abdecken. Persönlichkeiten österreichischer Herkunft werden besonders berücksichtigt. Der Kategorie „jüdisch“ ordnet der Verfasser zu, wer „mindestens einen jüdischen Elternteil“ (S. i) gehabt und der durch die Zeitumstände bedingten „Schicksalsgemeinschaft“ (S. i) angehört habe. Die Artikel geben zu Beginn jeweils Namen, Beruf, Lebensdaten – hier allerdings leider nur die Jahreszahlen – sowie Geburts- und Sterbeort an. Konnte Morgenstern die Namen der Eltern (und zum Teil auch noch der Großeltern), der Ehefrau und die Zahl der Kinder in Erfahrung bringen, sind diese ebenfalls angeführt. Es folgen jeweils kurze, in den meisten Fällen stichpunktartige biographisch-berufliche Werdegänge, Angaben zu den Leistungen und Publikationen der aufgeführten Personen sowie in der Regel die Angabe der verwendeten Literatur. Gehörten nicht beide Elternteile zur jüdischen Konfession, so ist der Verfasser bemüht, dies kenntlich zu machen. Angaben zur Konfession der einzelnen Personen selbst sucht man – von spezifischen Einzelfällen (unter anderen Edith Stein, S. 776) abgesehen – hingegen vergeblich.

Den Abschluss des Bandes bilden 16 Namenslisten zu einzelnen Berufsgruppen, die zum Teil recht umfangreich (etwa „Mediziner“, „Geisteswissenschaftler“) ausfallen, zum Teil überraschend kurz (etwa „Bildende Künstler“) sind und in zwei Fällen gar etwas skurril anmuten („Luftfahrtpionier, Segelflieger, Alpinisten“ und „Schachgroßmeister“). Bis auf die Gruppen „Nobelpreisträger“ und „Sportler“, die mit zusätzlichen Angaben versehen sind, beschränken sich die Listen allerdings auf bloße Nennung des Namens. Gerade bei den „Theologen“ wäre es aber hilfreich gewesen, zu wissen, ob die Genannten jüdisch, katholisch oder evangelisch waren. Zumindest bieten die Listen aber eine Zugangsoption für jene Nutzer des Lexikons, die nicht gezielt Namen nachschlagen. Dennoch wäre es aus der Perspektive des Nutzers wünschenswert gewesen, den Band mit einer ausführlicheren methodischen Einführung zu versehen, in der die Kriterien der Personenwahl, die Quellengrundlagen als auch der Aufbau der Artikel benannt worden wären. Die beiden knappen „Einführungsplädoyers“ von Morgenstern und dem Politikwissenschaftler Anton Pelinka befriedigen jedenfalls nicht (S. i f.).

Natürlich muss angesichts der großen Zahl allein der wissenschaftlichen Recherchemöglichkeiten im Internet6 die Frage gestellt werden, welcher Wert dem Lexikon zukommt. Dabei fällt zunächst ins Auge, dass sich die Artikel im Grunde ausschließlich aus anderen biographischen Lexika schöpfen, die der Verfasser am Anfang des Bandes zudem nur in einer Auswahl aufführt (S. iii) und deren (nicht immer aktuellen) Wissensstand er letztlich reproduziert. Neuere (auto-)biographische Arbeiten, die eine wertvolle Verweisung für vertiefende Lektüren zu den einzelnen Personen hätten sein können, sind jedoch nicht aufgenommen. Leider sind auch die für die Literaturangaben verwendeten Siglen nicht aufgelöst, und keineswegs einheitlich bzw. eindeutig gebraucht.7

Der Rezensent kann natürlich nicht alle Einzelbeiträge auf ihre inhaltliche Stimmigkeit prüfen. Dennoch fällt bei Stichproben der unterschiedlich langen Beiträge bereits auf den ersten Seiten auf, dass offene biographische Daten, etwa zu Studienzeiten und Werdegang oder auch nur die Lebensdaten in vielen Fällen ohne Aufwand hätten ergänzt werden können8 – zumal der Verfasser in einzelnen Fällen sogar selbst auf „Wikipedia“ als Quelle zurückgreift (unter anderem S. 416, 418). Die Angaben zum Beruf sind – nicht immer – mit Nationalitätenangaben versehen, die gerade im Fall großer Mobilität keineswegs immer schlüssig scheinen – etwa, wenn der Psychiater David Abrahamsen als „Norwegischer Psychiater“ (S. 3) bezeichnet wird, obwohl er ohne Zweifel auch als U.S.-amerikanischer gelten kann. Dass zudem gleich der erste Beitrag zu dem amerikanischen Mediziner Charles Dettie Aaron das Todesjahr falsch angibt (Aaron starb nicht 1933, sondern erst 1951) (S. 1), ist natürlich ärgerlich. Allerdings stimmt auch das Sterbedatum bei dem auf derselben Seite aufgeführten französischen Offizier Bernard Abraham (eigentlich Moise) nicht, der erst 1902 und nicht 1900 verstarb (S. 1). Der französische Physiker Henri Abraham starb nicht in Paris, sondern kam 1943 in Auschwitz um (S. 1). Dergleichen kleine Ungenauigkeiten und Fehler finden sich leider auch an anderer Stelle und reduzieren den wissenschaftlichen Wert des Bandes erheblich.

Morgensterns Ziel, die kulturelle Leistung von Juden hervorzuheben, erfüllt das Lexikon. Die mühevolle Fleiß- und Recherchearbeit, die den Autor nach eigenen Angaben über 40 Jahre lang beschäftigt habe9, ist unbestritten, zumal einzelne Kurzbiographien nur hier versammelt sind. Interessieren jedoch ausführlichere biographischen Daten, so wird man in vielen Fällen in den im Internet verfügbaren Datenbanken mehr und genauere Informationen finden.

Anmerkungen:
1 U. a. Franz Gräffer / Simon Deutsch (Hrsg.), Jüdischer Plutarch oder biographisches Lexicon der markantesten Männer und Frauen jüdischer Abkunft (aller Stände, Zeiten und Länder), mit besonderer Rücksicht auf das österreichische Kaiserthum, 2 Bde., Wien 1848.
2 U. a. Jutta Dick (Hrsg.), Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk, Reinbek bei Hamburg 1993; Sorrel Kerbel (Hrsg.), Jewish Writers of the Twentieth Century, New York 2003; Michael Berenbaum / Fred Skolnik (Hrsg.), Encyclopaedia Judaica, 22 Bde., 2. Aufl., Detroit 2007.
3 Zum Zeitpunkt der Einreichung der Rezension ist inzwischen eine 2. Aufl. des Lexikons (2011) erschienen, die hier jedoch nicht mehr berücksichtigt werden konnte.
4 Hans Morgenstern, Über den Anteil der Juden im Sport in Österreich, in: Klaus Lohrmann (Hrsg.), 1000 Jahre österreichisches Judentum. Ausstellungskatalog, Eisenstadt 1982, S. 193–199.
5 Siehe o. A., Von der Müllhalde zum Forschungsprojekt, <http://www.dsp.at/presse/archiv/2007/archivinfo.php?link=17012007204225> (22.04.2011).
6 So insbesondere über die Datenbank „World Biographical Information System“, welche die Mikrofiche-Editionen der Biographischen Archive des K. G. Saur Verlags – darunter auch des Jüdischen Biographischen Archivs – digitalisiert zur Verfügung stellt und über viele Bibliotheken zugänglich ist (s. die Homepage des Verlags de Gruyter, <http://www.degruyter.com/cont/glob/neutralMbwEn.cfm?rc=35520> (22.04.2011)).
7 So z. B. die Verweise auf die französischsprachigen Larousse-Enzyklopädien, die u. a. als „La Rousse“ (S. 404), „Larousse Enc.“ ( S. 410) und „Grande Larousse“ (S. 428) auftauchen und keineswegs eindeutig sind.
8 Exemplarisch hierfür etwa der Eintrag zu dem Gynäkologen Karl Abel (S. 1), der aus dem vom Verfasser angegebenen Biographischen Lexikon hervorragender Ärzte des 19. Jahrhunderts von Julius Leopold Pagel (1901) hinsichtlich Werdegang und Publikationen umfassend hätte ergänzt werden können.
9 o. A., Jüdisches Lexikon für Stadtarchiv, in: St. Pölten Konkret 47 (2009), 12, S. 28.

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