Zur Geschichte der Hungerstreiks sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien erschienen. Während die radikalen Protestformen der Suffragetten und der irischen Nationalisten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ursprünge dieser politischen Protest- und Widerstandsform dargestellt werden, liegt der Fokus dabei doch zumeist auf einer Zeitgeschichte, bei der vor allem die Hungerstreikaktionen der (Provisional) Irish Republican Army und der Roten Armee Fraktion in den 1970er- und 1980er-Jahre hervorgehoben werden.1
Die Verweigerung der Nahrungsaufnahme ist auch deshalb ein so ergiebiges Forschungsthema, weil sich hier Politik-, Sozial-, Körper- und Geschlechtergeschichte verbinden lassen. Insbesondere der Historiker Marcel Streng hat genau herausgearbeitet, dass der Akt des Hungerns auch als eine Form der (körperpolitischen) Subjektivierung verstanden werden muss.2 Der Münchener Historiker Maximilian Buschmann hat diese Debatte bereits mit mehreren Artikeln zu Hungerstreiks und Psychiatrie, Hungerstreiks in der Weimarer Republik, Hungerstreiks als Protestform der anarchistischen Bewegung in den USA, Hungerstreiks und Zwangsernährung sowie vor allem zur transnationalen Geschichte der Hungerstreiks bereichert. Nun hat er mit seiner Promotionsschrift eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Genese des Hungerstreiks von 1880 bis 1950 vorgelegt, die sich vor allem an den Schauplätzen Russland (seit 1917 Sowjetrussland, dann Sowjetunion), USA und Großbritannien abspielt. Diese verfolgt Buschmann in zwölf Kapiteln, die auch als Relaisstationen bezeichnet werden können. Im transnationalen Austausch entstand so erst jenes immer ambivalente Repertoire der Praktiken und Diskurse des Hungerstreiks, wie es sich dann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als eine selbstverständliche politische Aktionsform etablierte: Hungerstreiks sind seitdem sowohl ein verzweifelter letzter Akt der Machtlosen in den Gefängnissen, bei dem das eigene Leben aufs Spiel gesetzt wird, als auch ein oft geplantes und medial verbreitetes Ereignis. Hungerstreiks sollen nicht nur die Reihen der politischen Akteure selbst schließen, sondern auch Empathie bei jenen hervorrufen, die das eigentliche politische Anliegen, das überhaupt erst zur Inhaftierung geführt hat, nicht unbedingt teilen (im 20. Jahrhundert waren dies Anarchismus, Frauenwahlrecht, Pazifismus, nationale Unabhängigkeit oder die Anerkennung als politische Gefangene). Hungerstreiks sind vor allem ein körperlicher Akt, ein physiologischer Prozess, der zum Zusammenbruch von Körperfunktionen führen kann, fungieren aber ebenso auch als ein Willensakt, als Beweis der Willensstärke und Selbstdisziplin. Der Hungerstreik selbst scheint den Inhaftierten überhaupt erst wieder Selbstbestimmung gegenüber einem rigiden Haftsystem zu geben. Paradoxerweise geschieht dies, indem das Selbst der Todesgefahr ausgesetzt und dem höheren Ziel untergeordnet wird. Buschmann fasst die semantischen Konnotationen des Begriffs Hungerstreik dann auch so zusammen, dass „Hunger“ und „Streiken“ Opferbereitschaft und Widerstand sowie Elend und Aufruhr kombiniere. So besäßen sie auch das Potential für „strategische Medienarbeit“ (S. 112).
Die Nahrungsverweigerung als Protest- und Widerstandsform ist älter als der Begriff „Hungerstreik“. Buschmann zeigt dies eindringlich anhand der Selbstzeugnisse von Versklavten aus dem 18. Jahrhundert. Vorsichtig begriffsgeschichtlich argumentierend kann Busch die Verwendung des Kompositums „Hungerstreik“ in den 1880er-Jahre festmachen. Gebräuchlich war „Hungerstreik“ im zaristischen Russland, populär wurde es durch die Reportagen des Ethnologen George Kennan, der in seinen Forschungs- und Reiseberichten aus Sibirien ein US-amerikanisches Publikum über die fürchterlichen Bedingungen in der Verbannung aufklärte und die Hungerstreikenden – darunter sehr viele Frauen – als heldenhafte Figuren stilisierte. Ihre Bereitschaft zur Selbstopferung fungierte als Beweis der Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit des Anliegens. Es waren aber auch, wenn man so will, transnationale Personen, die zwischen den 1890er- und 1930er-Jahren den politischen Diskurs des Hungerstreiks prägten. Dabei handelte es sich vor allem um die anarchistischen Rebellinnen Rebecca Edelsohn und Emma Goldman sowie ihren Mitstreiter Alexander Berkman, die alle aus dem Baltischen stammten, häufig inhaftiert wurden und gezwungenermaßen ein Leben zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und Europa verbringen mussten.
Mit Kennans Reportagen und den anarchistischen Selbstdarstellungen etablierte sich ein politischer Aktivismus, der Hungerstreiks zu einer bedeutsamen Praxis machte, dessen mediale Darstellung einem, mit Thomas W. Laqueur, „humanitären Narrativ“ folgte. Was Hungerstreiks dabei insbesondere auszeichnete, Buschmann exemplifiziert dies an den Aktionen der Suffragetten, war deren Organisiertheit, Planung und mediale Verbreitung. Die Nahrungsverweigerung erschien dabei als ein Akt der individuellen Stärke, als Aneignung, wenn nicht sogar Rückeroberung des eigenen Körpers und verband sich durchaus auch mit Narrativen und der Ikonografie einer märtyrerhaften und religiös konnotierten Leidensfigur. Da Formen des Hungerstreikens erst noch erlernt werden mussten, entstanden in diesem Zeitraum auch Wissensformen des Hungerns, aber ebenso auch der Zwangsernährung, die als staatliche Antwort vor allem an den Suffragetten exemplifiziert wurden. Etabliert worden waren diese avant la lettre im 19. Jahrhundert in den psychiatrischen Anstalten, insbesondere in Form der Magensonde. In diesem Zusammenhang wurde es dann auch immer schwieriger, zwischen passivem oder aktivem Widerstand zu unterscheiden. Die Zwangsernährung war ein brutaler Akt, mit dem die jeweiligen Ordnungen wieder durchgesetzt werden sollten, und über dessen Legitimität im 20. Jahrhundert mindestens bis zur Erklärung der World Medical Association 1975 in Tokio gestritten wurde.
Die Frühgeschichte des Hungerstreiks verweist darauf, dass diese Protest-, Widerstands- und Mobilisierungspraxis auf spezifische Weise geschlechtlich konnotiert wurde. Kriterien wie Aktivität und Passivität, Stärke und Schwäche wurden dann auch bei den vor allem von Männern der pazifistischen Bewegung während des Ersten Weltkriegs durchgeführten Hungerstreiks verhandelt. Dabei kam gleichermaßen der Überwindung des Selbst – der Stärke, die im Verzicht besteht, der aktiven Selbstbeherrschung im Namen einer großen Sache, einer Pflichtethik – eine zentrale Bedeutung zu. Wie Emma Goldman es umschrieb, fungierte die verzweifelte Radikalität des Hungerstreiks als letztes Mittel wehrloser Menschen zugleich auch als paradoxe Selbstverteidigung der Verzweiflung (S. 243).
Hungerstreiks schafften ebenso Gemeinschaft und Identität. Dies galt insbesondere für den irischen Nationalismus. Die Nahrungsverweigerung in den britischen Gefängnissen half dabei, eine Kollektivität oder imaginierte Gemeinschaft herzustellen. Buschmann zitiert dazu an zwei wichtigen Stellen seiner Schrift ausdrücklich Benedict Andersons „Imagined Communities“ (S. 234, S. 324). Zu einer zentralen politische Kampfform der radikalen politischen Linken wurde der Hungerstreik 1919 auf Ellis Island, an dem sich auch wieder Emma Goldman und Alexander Berkman beteiligten, die nach Sowjetrussland abgeschoben werden sollten. Buschmann spricht auch von Figurationen politischer Subjektivität, dem Entstehen einer Militanz, ausgedrückt nicht nur in der Radikalität der Selbstkontrolle, sondern auch im Anspruch, als politische Gefangene angesehen zu werden (S. 160). So muss auch Mohandas Gandhis Fasten weniger als Hungerstreik denn als Haltung und Praxis der Entschlossenheit verstanden werden.
Maximilian Buschmann erzählt diese Genealogie des Hungerstreiks, die dort endet, wo die meisten anderen Darstellungen zum Thema erst beginnen, anhand ausführlichen Quellenmaterials, vor allem auch zeitgenössischer Presseberichte. Diejenigen, die sich mit dem Thema nur wenig auskennen, mögen bei der Lektüre der dichten Darstellung ab und an den Überblick verlieren, werden dafür aber mit einer Überfülle an höchst spannenden Einzeldarstellungen entschädigt, die so noch nicht in einer Monografie in (transnationale) Beziehung gesetzt worden sind. Mit diesem Fokus auf die Transnationalität der frühen Hungerstreiks hat Buschmann en passant auch auf ungewöhnliche Weise eine Migrationsgeschichte der politischen Linken geschrieben, bei der die zentrale Bedeutung feministischer und anarchistischer Positionen in Erinnerung gebracht wird, die in den Vereinigten Staaten und (Sowjet-)Russland gleichermaßen bekämpft worden sind.
Anmerkungen:
1 Als kleine Auswahl an Monografien zum Thema seien hier aufgelistet: James Vernon, Hunger. A Modern History, Cambridge, Mass. 2007; Sabine Hunziker, Protestrecht des Körpers. Einführung zum Hungerstreik in Haft, Münster 2016; Ian Miller, A History of Force Feeding. Hunger Strikes, Prisons and Medical Ethics, 1909–1974, Charn 2016; Jan-Hendrik Schulz, Unbeugsam hinter Gittern. Die Hungerstreiks der RAF nach dem deutschen Herbst, Frankfurt am Main 2019; Heiko Stoff, Die Komamethode. Willensfreiheit, Selbstverantwortung und der Anfang vom Ende der Roten Armee Fraktion im Winter 1984/85, Berlin 2020; Nayan Shah, Refusal to Eat. A Century of Prison Hunger Strikes, Oakland 2022.
2 Marcel Streng, „Hungerstreik“. Eine politische Subjektivierungspraxis zwischen „Freitod“ und „Überlebenskunst“ (Westdeutschland, 1970–1990), in: Jens Elberfeld / Marcus Otto (Hrsg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009, S. 333–365.