Die Protestbewegung gegen Nachrüstung und für Frieden der frühen 1980er-Jahre hat seit rund zwei Jahrzehnten verstärkt das Interesse der Zeitgeschichtsforschung auf sich gezogen. Inzwischen gibt es Studien, die sich mit dem Verhältnis der Friedensproteste zur bundesrepublikanischen Außenpolitik und zum Prozess der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) befassen oder ihre Anbindung an das parteipolitische Spektrum untersuchen. Weitere Arbeiten widmen sich dem Engagement gesellschaftlicher Gruppierungen wie der Kirchen oder der Ärzteschaft oder nehmen eine spezifische Perspektive ein – der Geschlechtergeschichte oder der räumlichen Verortung der Friedensbewegung. Die Weitung des Blickwinkels hat inzwischen dazu geführt, dass der Protest der frühen 1980er-Jahre nicht mehr als eine bloße Aufkündigung des außen- und sicherheitspolitischen Konsenses Westdeutschlands verstanden wird. Vielmehr wird erkennbar, dass er dazu beitrug, das Selbstverständnis der Bundesrepublik neu zu verhandeln.1 Die Friedensproteste können folglich als Teil jenes Prozesses gelesen werden, der als „Abschied vom Provisorium“ (Andreas Wirsching) beschrieben worden ist.
Angesichts der Vielzahl an Publikationen über die Friedensbewegungen der frühen 1980er-Jahre stellt sich bisweilen die Frage, ob mit weiteren Studien zum Thema noch neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Philipp Baur gibt sich davon überzeugt und fragt in seiner Studie nach der Funktion von Musik und Vergnügen in den westdeutschen Debatten und Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss. Er ist weniger an den Liedern der Protestbewegung und ihren Inhalten interessiert, als vielmehr daran, in welchen Kontexten diese entstanden und aufgeführt worden sind. Es geht ihm um einen „Blick auf die Netzwerke, Infrastrukturen, Ökonomien, Akteur/innen, Praktiken, Formate und Ästhetiken der musikalischen Protestkultur“ (S. 14). Baur fragt danach, wie Musik in all ihren Formen – vom selbstgeschriebenen Lied bis zum Popmusikhit – dazu beigetragen hat, für die Friedensproteste zu mobilisieren, und welchen Beitrag Musik zur positiven Vergemeinschaftung ihrer Akteure geleistet hat. Er zielt darauf ab, durch eine Untersuchung der „Populärkultur als Medium der politischen Kommunikation“ (S. 14) die Erkenntnisse der interdisziplinären Protest Culture-Forschung auf die Friedensproteste in der Bundesrepublik zu Beginn der 1980er-Jahre zu übertragen.
Baur nähert sich dem Gegenstand seiner Arbeit in fünf thematischen Kapiteln. Im ersten befasst er sich unter der Überschrift „Volksfeste für den Frieden“ am Beispiel von ausgewählten Großdemonstrationen – darunter den bekannten Versammlungen in Bonn – mit der Eventisierung des Friedensprotests. Der Autor zeichnet hierzu die zentrale Bedeutung nach, die der Musik bei den Veranstaltungen zukam. Er arbeitet heraus, wie die kulturellen (Begleit-)Programme und der Auftritt von bekannten, internationalen Künstlerinnen und Künstlern den Besuch der Großdemonstrationen für viele Menschen attraktiv machte. Baur argumentiert, dass gerade die Musik und die damit verbundene, bisweilen „rauschhafte Vergemeinschaftung“ (S. 71) zur erfolgreichen Mobilisierung des Friedensprotests der frühen 1980er-Jahre beigetragen hat.
Im Anschluss an diese Beobachtung befasst sich der Autor mit dem „Soundtrack der Proteste“, das heißt er untersucht, welche Lieder bei welcher Gelegenheit gesungen bzw. gespielt wurden. Baurs Anliegen ist es, einerseits das Textkorpus zu rekonstruieren und andererseits nach der tatsächlichen Praxis des musikalischen Protests zu fragen. Er beschreibt eindrücklich, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Lieder je nach Protestanlass bewusst ausgewählt und instrumentalisiert haben. In Anlehnung an die zeitgenössische Praxis des „Selbermachens“ (Reinhild Kreis) kann er in diesem Zusammenhang aufzeigen, wie das eigene Komponieren und Umschreiben von Liedern sinn- und gemeinschaftsstiftend für die Protestbewegung wirkten. Der Musik, so Baur, kam daher eine wichtige Scharnierfunktion zu: Sie erhöhte einerseits, wie oben angesprochen, die Attraktivität der Friedensbewegung und ermöglichte andererseits die Identifikation mit den Anliegen des Protests.
Im folgenden Kapitel dreht der Autor die Perspektive quasi herum und befasst sich mit dem Verhältnis von (kommerziellem) Musikmarkt und Friedensbewegung. Er plädiert dafür, die Herstellungskontexte von Liedern stärker in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, welche Rolle Agenten und Produzentinnen sowie die Eigenlogiken eines in den 1980er-Jahren in die Krise geratenen Musikmarkts gespielt haben. Eindrücklich lässt sich das Zusammenspiel am Beispiel des Liedes „Ein bisschen Frieden“ darstellen, mit dem die Schlagersängerin Nicole 1982 den Grand Prix Eurovision gewann. Baur verweist darauf, dass die Wirkung des Liedes keinesfalls auf den Text zu reduzieren ist. Vielmehr ist der von den Produzenten Robert Jung und Ralph Siegel wohl inszenierte Auftritt der Sängerin als weißer „Friedensengel“ mit in den Blick zu nehmen. Trotz dieses Umstands kann, so der Autor, von einer umfassenden Kommerzialisierung des Friedensthemas keine Rede sein. Denn einerseits lehnten viele Mitglieder der Protestbewegung Lieder wie „Ein bisschen Frieden“ als „eskapistische Verharmlosung“ (S. 12) ab, andererseits lassen sich neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Musikbranche und Friedensgruppen ausmachen.
Im vierten und fünften Kapitel richtet der Autor seinen Blick auf verschiedene nationale und internationale Künstlernetzwerke, die im Umfeld der Friedensproteste entstanden. Zunächst widmet er sich der Geschichte von Initiativen wie „Künstler für den Frieden“, die Anfang der 1980er-Jahre gegründet wurden, um die Auftritte von Künstlerinnen und Künstlern bei den Protestveranstaltungen zu unterstützen, und die selbst Konzerte für den Frieden organisierten. Im Anschluss daran untersucht Baur in einem sehr knappen Kapitel die internationale Vereinigung „Performers and Artists for Nuclear Disarmament“ (PAND), in der sich zahlreiche nationale Initiativen aus Ost und West zusammenschlossen. Das Ziel war es, dass sich Künstlerinnen und Künstler über die Blockgrenzen hinweg begegnen und austauschen konnten, was – trotz einzelner Kooperationen – letztlich nicht gelang.
Baur gelingt es in seiner Studie eindrücklich, die eingangs formulierte These zu belegen, nach der die „Verschränkung von Protest und Vergnügen [...] eines der zentralen Merkmale der Protestkultur der Friedensbewegung“ (S. 11) und zugleich Ausdruck eines allgemeinen Kulturwandels war. Besonders lesenswert sind vor allem die ersten drei Kapitel, in denen er sich mit der Eventisierung der Friedensproteste, der musikalischen Protestpraxis und dem ambivalenten Verhältnis von Protestbewegung und Musikbranche beschäftigt. Hier gelingt es ihm, oft wiederholte Dichotomien zwischen alternativen Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten und ihrem „authentischen“ Lebensstil einerseits und einer kommerzialisierten Alltags- und Musikwelt andererseits aufzulösen. Stattdessen arbeitet Baur heraus, wie die Akteure in Semantik, Ästhetik und Praxis wechselseitig aufeinander Bezug genommen haben und sich auf vielschichtige – und bisweilen widersprüchliche – Art miteinander vernetzten. Demgegenüber fallen die letzten beiden Kapitel, die auf eine klassische Organisations- und Netzwerkanalyse zwischen Künstlerinnen und Künstlern fokussieren, die sich für den Frieden engagierten, in analytischer Hinsicht etwas ab.
Die geäußerte Kritik schmälert in keiner Weise die herausragende Arbeit des Autors. Er belegt durch seine Studie eindrucksvoll, dass es weiterhin möglich ist, durch innovative Zugriffe und Fragestellungen unser Wissen über die Friedensproteste der frühen 1980er-Jahre zu erweitern. Zugleich regt die Untersuchung zu weiteren Fragen an, zum Beispiel danach, wie sich die Eventisierung der Friedensbewegung auf das Engagement der Akteure und die zeitliche Dauer der Proteste ausgewirkt hat. Jedenfalls sind der Arbeit, die online im Selbstverlag2 – und sehr zum Bedauern des Rezensenten nicht in der dafür bestens geeigneten Reihe „Frieden und Krieg“3 – erschienen ist, viele Leserinnen und Leser und eine weitreichende Rezeption zu wünschen.
Anmerkungen:
1 Philipp Gassert, Viel Lärm um Nichts? Der NATO-Doppelbeschluss als Katalysator gesellschaftlicher Selbstverständigung in der Bundesrepublik, in: ders. / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher Perspektive, München 2011, S. 175–202.
2https://madoc.bib.uni-mannheim.de/64551/ (27.11.2023).
3https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/reihen.html?tx_campus_series%5Bseries%5D=188&cHash=76e8020cb56d365d410a55c9c75024472447 (27.11.2023).