Die deutschsprachige adelshistorische Forschung hat bereits lange erkannt, dass die Familie ein überaus geeignetes Forschungsobjekt für die Untersuchung der Sozialformation „Adel“ darstellt. Dabei ist auch allgemein akzeptiert, dass die adlige Familie weniger in modernen bürgerlichen Vorstellungen einer Kernfamilie als vielmehr in ausgedehnten Verwandtschaftsnetzwerken zu verstehen ist. Unter dem seit den 1990er-Jahren jedoch immer noch vorherrschenden Forschungsparadigma des sogenannten „Obenbleibens“ hat man sich jedoch ein ums andere Mal vor allem den individuellen Schicksalen einzelner Geschlechter und Häuser gewidmet; oftmals waren die männlichen Familienoberhäupter der Gradmesser hierfür.
Denise von Weymarn-Goldschmidt möchte mit der vorliegenden Dissertation einen anderen Weg gehen: Ihr erklärtes Ziel ist es, die adlige Familienforschung „um eine in Bezug auf den Stammbaum horizontale Perspektive zu erweitern und damit eine vertikal-hierarchisch orientierte Wahrnehmungstradition der westlichen Familienforschung zu durchbrechen“ (S. 12). Mit ihrer Studie knüpft sie vor allem an familiengeschichtliche Forschungen an. So sind beispielsweise die richtungsweisenden Studien von David Warren Sabean zu Kinship in Europa von größerer Bedeutung für ihr Buch als die eingehende adelshistorische Forschungsliteratur. Dies rührt von dem Umstand her, dass für den Adel Geschwisterbeziehungen bisher nur in der Studie von Sophie Ruppel anhand von Korrespondenz hochadliger Akteure im 17. Jahrhundert erforscht worden sind.1 Denise von Weymarn-Goldschmidt dagegen untersucht autobiografische Schriften des deutschbaltischen Adels und möchte damit eine neue Quellengattung für diesen Forschungszweig fruchtbar machen. Ihr Interesse gilt unter anderem Fragen danach, „wie Adelsfamilien jenseits der ökonomischen und machtpolitischen Ebenen funktionieren“ (S. 34f.).
Zu diesem Zweck gliedert von Weymarn-Goldschmidt ihre Dissertation in zehn Kapitel – inklusive Einleitung und Zusammenfassung – bei einem Gesamtumfang von knappen 219 Seiten. Im einleitenden Kapitel geht sie angemessen auf das Baltikum als Adelslandschaft, den breit angelegten Untersuchungszeitraum sowie den mehrere Familien umfassenden Personenkreis ein. Letzteres begründet sie damit, dass es ihrer Studie eben nicht um genealogische Forschung gehe, sondern um eine Darstellung der „Vielfalt möglicher Geschwisterbeziehungen in einer definierten Gesellschaftsschicht“ (S. 48). Ihr Verständnis von Familie ist akteurszentriert, das heißt, sie orientiert sich an dem als Familie und Verwandtschaft begriffenen Umfeld, wie es aus den von ihr untersuchten Selbstzeugnissen herauszulesen ist. Auf diese Weise gelingt es ihr durchaus, möglichst wenige Personen aus dem Betrachtungsfeld herausfallen zu lassen. Es ist daher lobend hervorzuheben, dass sie ein dynamisches Familienverständnis für ihre Studie etabliert, das auch jenseits der adligen Stammbäume funktioniert.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem verwendeten Quellenkorpus, welcher in Überlieferung, Umfang, zeitlichem Kontext, Auswahlkriterien sowie den Eigenheiten der Quellengattung Autobiografie anschaulich eingeordnet wird. Ein Unterkapitel zu fehlenden Vorbildern für die Darstellung von realen Geschwisterbeziehungen geht zunächst auf Beschreibungen von Geschwisterbeziehungen in Bibel, antiker Mythologie und Grimm‘schen Märchen ein, um dann jedoch festzustellen, dass sich Bezüge auf diese in keinem der analysierten autobiografischen Texte finden lassen. Für den Befund, es seien keinerlei erkennbare Vorbilder für die vielseitigen Darstellungen von Geschwisterbeziehungen auszumachen, hätte es wohl keines eigenen Abschnitts bedurft.
Im ersten inhaltlichen Kapitel drei nähert sich Denise von Weymarn-Goldschmidt der Frage nach den Geschwisterbeziehungen zunächst grundsätzlich, indem sie danach fragt, wer eigentlich zum Kreis der Geschwister gezählt wurde. Zu Beginn stellt sie knapp den Geschwisterbegriff vor und nimmt Bezug auf kulturelle Unterschiede in der Kategorisierung von Geschwistern. Auf dieser Grundlage legt sie das Geschwisterverständnis im deutschbaltischen Adel dar, welches „sowohl alle Kinder, die dieselben Eltern als auch die, die nur einen gemeinsamen Elternteil hatten“ (S. 71) sowie aus vorheriger Ehe mitgebrachte Kinder umfasse. Illegitimen Kindern sei die sprachliche Gleichstellung explizit verwehrt worden.
Mit einer klaren Vorstellung des Personenkreises, der zu den Geschwistern gezählt wurde, kommt von Weymarn-Goldschmidt im vierten Kapitel auf die im Buchtitel vorangestellten Geschwisterbeziehungen zu sprechen. Neben der Anzahl der Geschwister geht sie hier vor allem auf verschiedene Beziehungskonstellationen ein – namentlich Vollgeschwister, Halbgeschwister und illegitime Geschwister. Diese werden in ihren Besonderheiten, in der gelebten Familienpraxis, aber auch in Bezug auf Hierarchien und Verantwortlichkeiten einzeln besprochen und mit Beispielen belegt. Hierbei macht sie auch auf einige Gemeinsamkeiten, vor allem aber auf Unterschiede zwischen verschiedenen Familien und Zweigen aufmerksam. Am Beispiel dreier Akteurinnen – Ernestine Schoultz von Ascheraden (1810–1902), Jenny von Vegesack (1849–1932) und Alice von Sivers (1877–1971) – gelingt es von Weymarn-Goldschmidt, die Geschwisterbeziehungen einer Großfamilie über drei Generationen in mehreren Facetten und in ihrer Entwicklung zu skizzieren. Hierbei wird erneut der Vorteil ihres Familienverständnisses deutlich – tragen die drei autobiografischen Autorinnen doch alle einen anderen Namen und gehören dennoch zur selben Großfamilie.
Die beiden folgenden Kapitel können auch gemeinsam betrachtet und verstanden werden, beleuchten sie doch Geschwisterbeziehungen im Lichte des Lebenszyklus. Während Kapitel fünf sich mit Geschwistern in der Kindheit beschäftigt, widmet sich Kapitel sechs dem Erwachsenenalter. Gelungen ist auch eine Verbindung der beiden Abschnitte durch die Unterkapitel 5.1 „Getrennt aufwachsen“ und 6.1 „Zusammen leben“. Dies ist insofern bemerkenswert, als das heutige (westliche) Familienbild vor allem das gemeinsame Aufwachsen und das getrennte Leben als Erwachsene kennt. Gewissermaßen der Kern des Buches, verdeutlichen die beiden Kapitel die Vielfalt und den Wandel der Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern im Laufe eines adligen Lebens.
Das siebte Kapitel knüpft an die in der Familiengeschichtsschreibung viel rezipierte Debatte der Inzestdiskurse und Verwandtenehen an. Die Relevanz dieser Thematik zeigt nicht zuletzt die jüngst erschienene Studie des bereits erwähnten David W. Sabean, die für die vorliegende Studie nicht mehr berücksichtigt werden konnte, der mit älteren Beiträgen jedoch wiederum Erwähnung findet.2 Das kurze Kapitel liefert wenig quellennahe Erkenntnisse und von Weymarn-Goldschmidt stellt auch selbst fest, dass „die autobiografischen Schriften nicht der Ort“ gewesen seien, um „sich Gedanken über einen Zusammenhang von Verwandtenehen und allfälligem Inzest zu machen“ (S. 165). Hinzu treten Gedanken über mögliche sexuelle Übergriffe, die als spekulativ bezeichnet werden müssen und für die es wiederum keinerlei Hinweise oder Belege gibt (S. 159).
Auch Kapitel acht und neun können in einen Zusammenhang gesetzt und als größerer Abschnitt zu Rollenverständnissen gelesen werden. Während Kapitel acht vor allem Genderrollen aufzeigt und auf ihre Gültigkeit hin untersucht, beschäftigt sich Kapitel neun mit Tanten und Onkeln und ihren Aufgaben im Familienverbund. Hervorgehoben werden kann die gut herausgearbeitete Position von ledigen adligen Frauen, deren Aufgaben und Rollen sowohl im Hinblick auf Gender als auch auf die ledigen Tanten betont werden.
Denise von Weymarn-Goldschmidt präsentiert in ihrer Dissertation insgesamt gut strukturiert und nachvollziehbar die facettenreichen Geschwisterbeziehungen des deutschbaltischen Adels, wie sie von den Autoren und Autorinnen der untersuchten autobiografischen Schriften festgehalten wurden. Es ist eine gelungene Heranführung an Geschwisterschaft, die häufig „eine der längsten Beziehungen“ im Leben eines oder einer Adeligen war (S. 188). Zugleich ist die Autorin jedoch auch stark den Limitierungen dieser Quellengattung unterworfen und so wundert es nicht, dass sie selbst an einigen Stellen feststellt, die Angaben der Zeitzeugen und -zeuginnen seien oft „zu wenig dicht, um verlässliche strukturelle Aussagen zu machen“ (S. 127). Dies erklärt auch den verhältnismäßig geringen Umfang der Studie. Von Weymarn-Goldschmidt zeigt auf, dass autobiografische Schriften ein überaus lohnenswerter Betrachtungsgegenstand für die Erforschung von Familie und Geschwisterbeziehungen sind. Für eine erschöpfende Analyse werden jedoch unmittelbarere Quellen wie geschwisterliche Korrespondenz benötigt und das Buch kratzt in Teilen eher an der Oberfläche des gewählten Themas. Dies schmälert die Leistung der vorliegenden Dissertation nicht unbedingt, sondern macht sie zu einem durchaus geeigneten Anknüpfungspunkt für weitere Forschung zu adeligen Geschwisterbeziehungen in Verbindung mit der bereits erwähnten Grundlagenstudie von Sophie Ruppel.
Anmerkungen:
1 Sophie Ruppel, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln 2006. Vgl. auch die Rezension von Simona Slanicka, in: H-Soz-Kult, 09.11.2009, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9249 (16.02.2024).
2 David W. Sabean, A Delicate Choreography. Kinship Practices and Incest Discourses in the West since the Renaissance, Berlin 2023. Vgl. auch die Rezension von Jon Mathieu, in: H-Soz-Kult, 16.01.2024, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-139617 (16.02.2024).