Die Erforschung sozialistischer Gesundheitssysteme hat Konjunktur: In den letzten Jahren sind einige Publikationen zum Gesundheitssystem der DDR erschienen, zudem laufen aktuell mehrere Forschungsprojekte, die das sozialistische Gesundheitswesen im europäischen oder globalen Kontext untersuchen.1 Dieses Interesse an historischen Alternativen zur gegenwärtigen Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik und vergleichbaren europäischen Staaten ist wenig verwunderlich, wenn Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen aus den öffentlichen Strukturen herausgelöst werden, verstärkt in privater Trägerschaft funktionieren und somit marktwirtschaftlichen Logiken entsprechen müssen. Hinzu kommt der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch kontinuierlich bestehende Personalmangel vor allem in der Pflege. Die Frage, ob die sozialistischen Staaten mit ihrem Anspruch auf ein zentral gesteuertes staatliches Gesundheitssystem besser gefahren sind, steht im Raum.
Melanie Foiks 2023 erschienene Dissertation „Menschen in weißen Kitteln“ liefert ein historisches Grundlagenwerk, das die ideologisch-politischen Ziele bei der Neuausrichtung des polnischen Gesundheitswesens nach dem Zweiten Weltkrieg nachzeichnet und darlegt, wie diese bis zum Ende der 1960er-Jahre umgesetzt beziehungsweise pragmatisch abgewandelt wurden. Ihr Augenmerk liegt dabei auf dem Agieren der Führungsebene im Gesundheitsministerium und den beiden wichtigsten Berufsgruppen – den Ärzt:innen und den Krankenschwestern (bei letzteren wird ausschließlich die weibliche Form verwendet, weil es im Untersuchungszeitraum schlicht keine männlichen Krankenpfleger gab).
Im Kern geht Foik der spannenden Frage nach, wie eine bislang in hohem Maße von der Kirche betriebene Versorgungslandschaft in ein staatliches Versorgungssystem überführt wird. In der ersten Säkularisierungswelle ab 1948 wurden konfessionelle Anstalten in einer Nacht- und Nebel-Aktion enteignet und Ordensschwestern, die in der Krankenpflege tätig waren, aus vorgeschobenen Gründen entlassen. Weil die Schwestern oft in Gebäudeteilen wohnten, die direkt an die Krankenhäuser angeschlossen waren, verloren sie nicht selten zugleich ihre Wohnräume. Ein entsprechendes Gesetz wurde erst nachträglich veröffentlicht. Auf eine kurze Entspannungsphase folgte in den 1960er-Jahren eine zweite Säkularisierungswelle, in deren Zuge unter anderem jedwede Zeichen der Kirche in den nun staatlichen Versorgungsgebäuden entfernt wurden – eine symbolische Bereinigung, die vom Abhängen von Kreuzen über den Abriss von meterhohen Steinfiguren bis zur Umwidmung von Krankenhauskapellen reichte.
Die Entlassung von etwa 4.000 Ordensschwestern in der Pflege hinterließ eine schmerzhafte Lücke, die nicht nur zahlenmäßig kompensiert, sondern auch inhaltlich neu bestimmt werden musste. Krankenschwestern oder Helferinnen wurden massenhaft, aber oft nur oberflächlich ausgebildet. Die neue sozialistische Krankenschwester sollte vom religiösen Berufsethos der selbstlosen, sich aufopfernden Schwester vollständig befreit sein, ihre Arbeit als Beruf verstehen und auf hohem fachlichem Niveau ausführen. Um dieses Bild zu popularisieren, druckte die Zeitschrift Pielęgniarka Polska 1958 folgendes Zitat einer Krankenschwester ab: „Oftmals sagen die Leute zu mir: ‚Du bist einfach ein Engel! Du arbeitest so schwer, verbringst so viele Stunden im Krankenhaus, siehst und erlebst so viele schreckliche Dinge, und das alles für eine so geringe Vergütung!‘ – Nein, ich bin kein Engel. Ich bin eine gewöhnliche Person, die eine notwendige Arbeit verrichtet, zu der ich gründlich ausgebildet wurde und die bestimmte Qualifikationen und Kompetenzen verlangt.“ (S. 111) Ironischerweise stammt dieses Zitat allerdings nicht von einer polnischen Krankenschwester, sondern von der britischen Krankenpflegeaktivistin Claire Rayner, die sich zu dieser Zeit für bessere Arbeitsbedingungen und Gehälter in der Krankenpflege im Vereinigten Königreich einsetzte. Wie Foik herausstellt, fungierten Großbritannien und die USA für die polnischen Krankenschwestern als Vorbilder in fachlichen und berufspolitischen Fragen, so dass die Verfechter:innen einer Verberuflichung der polnischen Krankenpflege kaum eine geeignetere Fürsprecherin hätten finden können. Wie das Beispiel zeigt, lässt sich der Pragmatismus, der für viele Bereiche des real existierenden Sozialismus bereits beschrieben wurde, auch im Gesundheitswesen konstatieren: Zwar galt offiziell die sowjetische Krankenschwester als ideologisches Vorbild, hinsichtlich der Professionalisierung des Pflegeberufs griff man jedoch auf die Aussagen einer Krankenschwester aus einem nicht-sozialistischen Land zurück.
„Menschen in weißen Kitteln“ konzentriert sich jedoch nicht nur auf die Krankenpflege, sondern auch auf den Arztberuf – ein Zusammendenken, das in der deutschsprachigen Medizin- beziehungsweise Pflegegeschichtsschreibung bisher eher selten vorkommt. Mit ihrer gründlichen, jedoch keinesfalls trocken wirkenden Analyse von Akten, Daten und Statistiken aus veröffentlichten Quellen, Zeitungen, Zeitschriften und Archivmaterialien aus verschiedenen Städten, der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der polnischen Krankenpflege verdeutlicht Foik, dass es den Ärzt:innen im Sozialismus finanziell zwar nicht gut, aber immer noch wesentlich besser ging als den Krankenschwestern. So konnten Ärzt:innen Schmiergelder für bestimmte Eingriffe verlangen oder unter der Hand Privatpatient:innen empfangen und so zu einem beachtlichen Nebenverdienst kommen. Zudem sei das Ansehen von und die Angewiesenheit auf Mediziner:innen so hoch gewesen, dass diese im Alltag leichteren Zugang zu Mangelwaren oder Dienstleistungen hatten. Im Gegensatz dazu verdienten Krankenschwestern so wenig, dass sie nur die Miete für eine bescheidene Unterkunft und die notwendigsten Lebensmittel bezahlen konnten. Für die Finanzierung darüber hinaus gehender Bedürfnisse mussten sie entweder heiraten oder Zweit- und Drittjobs sowie Bestechungsgelder für private Leistungen, darunter Nachtwachen, annehmen. Erschreckend häufig waren laut Foik Fälle, in denen sich ledige Krankenschwestern in den 1950er-Jahren aus materieller Not prostituierten. Anhand der Analyse von Stellenanzeigen zeigt die Verfasserin überzeugend auf, wer im hierarchischen Gesundheitsdienst der Volksrepublik demnach mehr „Wert“ hatte: Während Ärzt:innen und ihren Familien selbstverständlich eine Wohnung angeboten worden sei, hätten Krankenschwestern bestenfalls ein Bett in einer Gemeinschaftsunterkunft erhalten.
Melanie Foiks Dissertation ist ein großer Gewinn gleich für mehrere Gruppen von Leser:innen: Außer Medizin- und Pflegehistoriker:innen werden darin auch diejenigen fündig, die sich für die Geschichte Polens und für die Funktionsweise (osteuropäischer) Staatssozialismen interessieren. „Menschen in weißen Kitteln“ bietet eine fundierte sozialhistorische Analyse zweier bislang wenig in den Blick genommener gesellschaftlicher Gruppen und trägt zur Geschichte der Sozialstaatlichkeit bei, die für die DDR auch unter dem Begriff der „Fürsorgediktatur“2 diskutiert wird. Zudem werden die Leser:innen durch eine schlüssige Struktur und nüchterne Überschriften durch das Buch geführt. Leider übernimmt Foik manche Begriffe, so auch Schlüsselbegriffe wie „der Gesundheitsdienst“ (poln. „Służba Zdrowia“) oder „die sozialistische Deontologie“ aus den Quellen, ohne ausreichend zu erklären, woher sie stammen und was genau sie bezeichnen. Einzelne polnische Wörter wie „babki“ (S. 18 und 83) werden nur kursiv gesetzt, nicht aber ins Deutsche übersetzt. Hilfreiche Begriffsklärungen erfolgen teilweise erst sehr spät (z.B. „Feldscher“ erst auf S. 142). Zudem berücksichtigt Foik nur teilweise die deutschsprachige Fachliteratur der letzten Jahre, die es ermöglichen würde, den polnischen Fall besser in seiner Spezifik zu verstehen.3 Auch auf der inhaltlichen Ebene bleiben einzelne Fragen offen. So ist durchgängig die Rede von katholischen Krankenschwestern; evangelische Diakonissen und eine jüdische Krankenpflegerin werden zwar kurz erwähnt, ihre weitgehende Abwesenheit im polnischen Gesundheitsdienst aber nicht weiter reflektiert. Hinsichtlich der Diakonissen wird im Buch zwar erwähnt, dass gegen sie eine antideutsche Propaganda geführt wurde, mehr über ihr Schicksal erfahren wir jedoch nicht.
Bei der Diskussion der Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes, die im Vergleich zur DDR und der Bundesrepublik bereits sehr früh, nämlich im Jahr 1956, erfolgte, erstaunt die einseitige Perspektive der Autorin. Sie führt aus, dass das Gesetz erstmalig eine soziale Indikation bei Schwangerschaftsabbrüchen zuließ, jedoch nicht definierte, was als „schwierige soziale Lage der Schwangeren“ (S. 83) galt. Dieser Mangel habe den ärztlichen Entscheidungskommissionen die Ablehnung des Antrags auf Abtreibung erschwert und Missbrauch durch die Frauen ermöglicht. So schildert Foik den Fall einer zweifachen Mutter, die der Kommission mit Suizid drohte, sollte ihr Antrag negativ beschieden werden. Auch der beiläufige Satz, dass die nun legalisierte Abtreibung von vielen Frauen als „Verhütung on demand“ genutzt wurde, erweckt den Eindruck einer moralischen Verurteilung der abtreibenden Frauen. Immerhin zeigt die Autorin anhand von Statistiken auf, wie gefährlich Schwangerschaftsabbrüche vor ihrer Legalisierung für Frauen waren: Von jährlich etwa 300.000 illegal abtreibenden Frauen wurden 80.000 zumeist im kritischen Zustand ins Krankenhaus eingeliefert; laut einer kleinen statistischen Beobachtung von Klinikärzten überlebte nur die Hälfte der Frauen, die versuchten, mit Seifenlösung abzutreiben. Für eine ausgewogenere Interpretation fehlen hier einerseits Selbstzeugnisse von betroffenen Frauen, andererseits Angaben zum Zugang zu Verhütungsmitteln zu dieser Zeit in Polen. Dennoch ist das Buch als einschlägiger Beitrag zur Öffnung der allzu lange auf eine westeuropäische Perspektive beschränkten Pflege- und Medizingeschichte sehr zu empfehlen.
Anmerkungen:
1 Bereits erschienen sind: Jutta Braun, Politische Medizin. Das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 1950 bis 1970, Göttingen 2023, rezensiert von Daniel Trabalski, in: H-Soz-Kult, 20.02.2024, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-136173 (10.06.2024), sowie Florian Bruns, Kranksein im Sozialismus. Das DDR-Gesundheitswesen aus Patientensicht 1971–1989, Berlin 2022. Unter den laufenden Projekten sind z.B. „Taming the European Leviathan“ an der Berliner Charité (https://leviathan-europe.eu) oder „Socialist Medicine“ (https://socialistmedicine.com) an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Stefan Offermanns Dissertationsprojekt zur Geschichte des Risikofaktorenmodells im geteilten Deutschland an der Universität Leipzig.
2 Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20 (1998), S. 33–46, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/538507/realer-sozialismus-als-fuersorgediktatur-zur-begrifflichen-einordnung-der-ddr/ (10.06.2024).
3 So sucht man vergeblich nach Publikationen von ausgewiesenen Medizin- und Pflegehistoriker:innen wie Karen Nolte oder Pierre Pfütsch, etwa: Karen Nolte, Einführung: Pflegegeschichte – Fragestellungen und Perspektiven, in: Medizinhistorisches Journal 47 (2012), 2-3, S. 116–128, und Pierre Pfütsch (Hrsg.), Marketplace, Power, Prestige, The Healthcare Professions' Struggle for Recognition (19th–20th Century), Stuttgart 2019.