Praktiken des Sozialwesens wie Fremdplatzierung, Heimeinweisung oder die Psychiatrisierung haben die historische Forschung der Schweiz in den letzten Jahren beschäftigt.1 Der Struktur des Sozialwesens folgend, thematisierten Forschende diese Praktiken, indem sie regionale und thematische Fokussierungen anlegten oder spezifische Institutionen in den Blick nahmen und allenfalls auch vergleichend gegenüberstellten. Zentrale Erkenntnisziele waren stets die getroffenen Massnahmen und deren Folgen für Betroffene. Dabei stellen all diese Arbeiten die hohe Heterogenität, ausbleibende Koordination, die Verschiedenartigkeit von Akteuren und deren Bemühungen fest, die Unabhängigkeit in der eigenen Domäne zu verteidigen. Sie erkannten darin auch wesentliche Hindernisse für eine Etablierung von Standards und Qualitätskontrollen im Sozialwesen. Bei diesem Befund setzen Gisela Hauss, Kevin Heiniger und Markus Bossert in ihrem gemeinsamen Buch „Praxis der Sozialstaatlichkeit“ an und stellen die Schweizerische Landeskonferenz für soziale Arbeit (LAKO) ins Zentrum, die ab 1932 als Dachverband von „private(n) Sozialwerke(n), Spitzen- und Dachverbänden sowie eidgenössische(r) Ämter und Zusammenschlüsse kantonaler Amtsstellen“ im Feld der Sozialen Fürsorge agierte (S. 10). Es werden zentrale Akteure, die Rahmenbedingungen ihres Wirkens und die Zusammenhänge ihrer Auflösung 1999 beleuchtet (S. 9).
Das Buch entstand aus einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt, in dem sich das interdisziplinäre Team aus sozial- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven mit der LAKO beschäftigte.2 Dieser Dachverband war die frühe Reaktion fürsorgerischer Kreise auf die Situation in einem Feld, das geprägt war von Unübersichtlichkeit, zivilgesellschaftlichen Akteursgruppen unterschiedlicher Grösse, Bedeutung, Konstellation und Professionalität, Unterfinanzierung und Abhängigkeit von privater Wohltätigkeit sowie ungeklärter und sich wandelnder Bezüge zu kantonalen und bundesstaatlichen Institutionen. Die Gründung der LAKO zeigt, dass in der Fürsorge selbst das Bedürfnis nach strukturierten Verhältnissen bestand. Die schwierigen Verhandlungen in ihrem Rahmen decken gleichzeitig aber auch auf, dass der Wunsch nach mehr Absprache und Steuerung kollidierte; zum einen mit Eigeninteressen einzelner Vereine und Stiftungen und der Konkurrenz untereinander, zum andern mit der Verteidigung kommunaler und kantonaler Hoheiten. Auf die Schwierigkeiten, die sich aus der Heterogenität der Akteure und Interessen sowie unterschiedlicher Professionalitätsansprüche ergaben, reagierte der Dachverband mit „Relationierungen“, wie das Autorenteam dies begrifflich fasst: Die LAKO strebte vereinheitlichende, standardisierende und professionalisierende Verständigungen der Mitglieder an, versuchte, zivilgesellschaftliche mit staatlichen Akteuren zu verbinden und die Pflege der transnationalen Beziehungen als Ressource für schweizerische Sozialstaatlichkeit zu nutzen.
Die Publikation basiert auf der Auswertung der im Schweizerischen Sozialarchiv aufbewahrten Quellen der LAKO, gedrucktem Material sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und verwendet wissenssoziologische beziehungsweise hermeneutische Methoden der Diskurstheorie (S. 15). Einleitend wird denn auch die Unschärfe zentraler Begriffe in ihrer Zeit thematisiert, die die Heterogenität und weitgehend fehlende Verbindlichkeiten illustriert. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die jeweils unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Dazwischen werden in Einschüben spezifische Themen aufgegriffen bzw. wichtige Protagonistinnen und Protagonisten porträtiert, die zum einen wichtige Akteure waren und zum andern für die Heterogenität der Ansichten und institutionellen Verankerungen stehen können. Damit, und weil auch Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in diesen Einschüben zu Wort kommen, werden nochmals neue Perspektiven auf das Geschehen in der LAKO geworfen und die beschriebenen Kontroversen konkret veranschaulicht.
Der erste Teil zeichnet die Geschichte der Dachorganisation LAKO nach. Die Gliederung verdeutlicht die drei Phasen des Wirkens der LAKO und ihrer historischen Rahmenbedingungen: Bis in die 1970er-Jahre sind ihre Tätigkeiten wesentlich bestimmt vom sich vollziehenden Ausbau des Sozialstaates und dem damit verbundenen Willen zur Koordination, Absprache und Strukturierung. In einem zweiten Kapitel wird der Umschlag vom „Boom“ in eine Phase spärlicher Mittel und der Blockade weiteren sozialstaatlichen Ausbaus thematisiert. Ihm folgt im dritten Kapitel die Diskussion der Einführung neuer, neoliberaler Steuerungsmodelle in den 1980er- und 1990er-Jahren und deren Konsequenzen für die Zusammenarbeit und Professionalisierung. Die Charakterisierung der Phasen fügt sich mit Deutlichkeit in Befunde der Forschung zur schweizerischen Geschichte im 20. Jahrhundert ein.3
Der zweite Teil analysiert das Engagement der LAKO in internationalen Organisationen. Dabei wird hervorgehoben, dass diese Vernetzung eine Stärkung der Position der LAKO gegenüber ihren Mitgliedsorganisationen bewirkte: Einmal wurde mit dem dadurch erreichten Status als nationale Organisation eine engere Verbindung zum Bund erreicht, der sich lange gegen ein direktes (finanzielles) Engagement in der Sozialfürsorge gesträubt hatte. Dann avancierte die LAKO vor allem auch zum Scharnier in der Zirkulation von Wissen zwischen der „International Conference on Social Work“ und insbesondere deren regionalen europäischen Mitgliedern sowie den LAKO-Mitgliedsorganisationen, was deren Modernisierung und Professionalisierung förderte. Galt dies vor allem für die erste Phase, zeigten sich mit der finanziell bedingten Reduktion dieser Aktivitäten ab der zweiten Phase direkte Auswirkungen: einerseits als isolationistische Tendenzen der LAKO selbst, aber auch der einzelnen Mitgliedsorganisationen, andererseits infolge der neoliberalen Reorganisation der Mittelvergabe als steigende Konkurrenzsituation für die Institutionen der Sozialen Fürsorge.
Der dritte Teil ist der Professionalisierung in der Sozialfürsorge am Beispiel des Heim- und Anstaltswesens gewidmet. Es wird dargestellt, dass trotz früher Alarmzeichen („Heimskandal von 1944“, S. 108) die Professionalisierung im Heim- und Anstaltswesen nur zögerliche Fortschritte verzeichnete. Ursachen sehen die Autorin und die beiden Autoren in der hohen Zersplitterung dieses Bereichs, der starken Vertretung konfessionell geprägten Personals ohne standardisierte Ausbildung, der chronischen Unterfinanzierung der Institutionen sowie auch der mangelnden Bereitschaft der Institutionen, Trägergemeinden und -kantone, die Anstalten und Heime zu modernisieren und deren Führung und Betrieb zu professionalisieren. Dennoch gelang es bis in die 1970er-Jahre, allmählich das Berufsbild „Heimerzieher / Heimerzieherin“ zu implantieren, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern sowohl bezüglich des Berufsbildes als auch der konkreten Arbeitssituation zu verringern, Arbeitsbedingungen insgesamt zu verbessern und einer Vereinheitlichung näher zu bringen.
Im vierten Teil diskutiert das Projektteam die Tatsache, dass während der Wirkungszeit der LAKO die Berufsprofile der Heimarbeiterinnen und der Sozialarbeiter, Ausbildungen und Standardisierungen hürdenreich in unterschiedlichem Tempo und mit unterschiedlicher Konsequenz formuliert wurden. Umso erstaunlicher sei die Geschwindigkeit, mit der schliesslich gegen Ende des 20. Jahrhunderts diese Ausbildungen unter dem Dach der Hochschulen für Soziale Arbeit zusammengeführt wurden.
In den Schlussbemerkungen gelingt es der Autorin und den Autoren, mit dem Stichwort der Relationierung, mit dem sie das Wirken der LAKO kennzeichnen, nochmals in knapper Präzision ihre Befunde und Einschätzungen zusammenzufassen. Es wäre allerdings möglich gewesen, die Relationierung als Begriff ausführlicher zu diskutieren und dann die Inhalte der einzelnen Abschnitte noch konsequenter beziehungsweise expliziter darauf zu beziehen. Dennoch wird auf diesen acht Seiten eine Interpretation nicht nur des Handelns der LAKO, sondern auch der institutionellen wie inhaltlichen Entwicklung der Sozialstaatlichkeit vorgelegt, auf die zukünftige Arbeiten mit Gewinn bezogen und eingeordnet werden sollten. Die „Überlegungen zum Schluss“ (S. 185f.) stellen schliesslich thesenartig den Bezug her zwischen dem im Buch herausgearbeiteten schwierigen, auch gegen den Widerstand gegenläufiger Interessen und Tendenzen verfolgten Weg zur Standardisierung und Professionalisierung und der institutionellen Gewalt, die das Leben in unterschiedlichen sozialfürsorgerischen Institutionen mitgeprägt hat.
Anmerkungen:
1 Neben zahlreichen Einzelforschungen sind vor allem zu nennen: Die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgung, deren Website den Stand 2019 bei Abschluss der Arbeiten dokumentiert, https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/forschung/ (14.04.2024) und das Nationale Forschungsprogramm 76 „Fürsorge und Zwang“, https://www.nfp76.ch/de (14.04.2024).
2 Gisela Hauss, Werkstätten der Professionalisierung? Verbände und die Koordination des Sozialwesens in der Schweiz. Laufzeit 2019–2022. Projekt im Rahmen des SFP 76 „Fürsorge und Zwang“, https://data.snf.ch/grants/grant/185631 (14.04.2024).
3 Die Autorin und die Autoren beziehen sich überzeugend auf die Darstellung von Jakob Tanner, Die Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015.