Emotionen sind schon lange nicht mehr aus den Altertumswissenschaften wegzudenken. Dies zeigt einmal mehr Chaniotis mit seinem neu vorgelegten Werk „Emotionen und Fiktionen“. Auf 224 Seiten zeigt er die gesamte Bandbreite von Emotionen in der griechischen Antike und gibt damit einen weiteren Einblick1, wie viel Potential in der Erforschung von Emotionen steckt. Ziel seiner Darstellung ist es, einen Zusammenhang „zwischen Erregung kollektiver Gefühle und der Festigung von Überzeugungen oder der Konstruktion von Fiktionen“ herzustellen (S. 196). Die „theatralische Zurschaustellung von Emotionen“, so Chaniotis’ These, sei ein Mantel gewesen, der die Diskrepanz zwischen Fiktion und Realität überdeckt habe (S. 19), und dies in verschiedenen Bereichen der griechischen Antike, wie der Titel erkennen lässt, wobei auf den Aspekt der Politik kaum eingegangen wird.
Chaniotis interessiert sich für das teils noch unberührte Inschriftenmaterial sowie Papyri und literarische Texte. Er gibt den dort eingeschriebenen Figuren eine Geschichte, er lässt sie lebendig werden. Aufgrund dieser modifizierten Sichtweise und seinem tiefen Verständnis der Epoche liefert Chaniotis beeindruckende Einsichten in die Welt des Hellenismus. Er folgt dabei dem Postulat Rob Boddices2, demzufolge man Emotionsgeschichte nur schreiben könne, wenn man tief genug in der Materie, die man untersucht, stecke. Eine der Schlüsselideen von Chaniotis lautet:3 Man solle nicht Texte untersuchen, um Emotionen zu verstehen, sondern Emotionen untersuchen, um Texte zu verstehen (S. 34). Emotionen seien für alle Historiker:innen fundamental.4 Jedes Schriftstück oder Objekt – Chaniotis führt hier sogar eine Zahnbürste an – sei mit Emotionen verbunden (S. 12). Emotionen existieren Chaniotis zufolge immer als Subtext (ebd.).
Dies zeigt Chaniotis überzeugend mit einer breiten Quellengrundlage nach einer einleitenden verdichteten Auseinandersetzung mit methodischen Zugängen zu Emotionen. Sein Werk gliedert sich in 7 Kapitel zu verschiedenen Gefühlen. Unklar dabei bleibt die Auswahl und Zusammenstellung der von Chaniotis diskutierten Gefühle. Furcht und Hoffnung (Kap. 1) hätten als Motivation für korrektes Verhalten gedient (S. 59–63). Chaniotis verortet diese beiden Emotionen im Bereich der Religion. Der Umgang mit Liebe (Kap. 2), worunter Chaniotis Harmonie und Zuneigung versteht (S. 71), verdeutliche die Balance im Auftreten des Königs zwischen „Zugänglichkeit und Distanziertheit“ (S. 84). Ausgehend vom Phänomen der Heiratspolitik, diskutiert Chaniotis die nach außen repräsentierte Harmonie zwischen den hellenistischen Königspaaren, wie etwa zwischen Antiochos III. und Laodike III. (S. 71f.). Besonders prominent erscheint die Liebesgeschichte zwischen Antiochos I. und seiner Stiefmutter Stratonike I. (S. 73–77), die Chaniotis vor dem Hintergrund weiterer derartiger Geschichten als literarische Fiktion der Zeit auffasst, welche die angebliche Harmonie des Königshauses abbilden. Hoffnung (Kap. 3), wohl anders als in Kapitel 1 als politisch beziehungsweise gesellschaftlich motivierte Hoffnung verstanden, fungiere als Überzeugungsstrategie der Schwachen (S. 97). Besonders deutlich wird in diesem Kapitel die im Titel angekündigte Fiktion: die Fiktion der Stadt „als fürsorgliche Familie“, die sich in Formulierungen wie pater poleos ausdrückt (S. 90f.). Zorn (Kap. 4) fasst Chaniotis als Ausdruck von Machtanspruch und -demonstration auf, um Autorität zu erzeugen (S. 120). So solle etwa die Zurschaustellung von Empörung „die Fiktion eines provozierten, gerechten Krieges stützen“ (S. 105). Auch sei im Rahmen der Emotion der Fürsorge die Beziehung zu Sklaven als Fiktion des fürsorglichen Herrn anzusehen (Kap. 5). Die Trauer (Kap. 6) steht bei Chaniotis im Zeichen des Todes und zeugt vom Umgang mit dem Verlust eines Verstorbenen (S. 166). Meist werde die Trauer aus der Perspektive des Toten ausgedrückt, um Mitleid beim Lesenden hervorzurufen. Abschließend diskutiert Chaniotis Praktiken im Zusammenhang mit Ekel und (Un-)Reinheit (Kap. 7), beides typische antike Diffamierungsstrategien (S. 178).
Der oben angeführten These, dass jedes Objekt mit Emotionen verbunden ist, ist vollends zuzustimmen. Doch stellt sich nach eingehender Lektüre nach wie vor an manchen Stellen die Frage, inwiefern Chaniotis hier seine eigene Vorstellung von Gefühlen beziehungsweise Emotionen als Folie auf sein Quellenmaterial projiziert und entsprechende Emotionen interpretiert. Denn auch wenn er sein Thema überzeugend vermittelt, ergeben sich bei genauerer Hinsicht folgende Kritikpunkte.
Hier wäre zunächst die Definition des Untersuchungsgegenstandes, des Gefühls, transparent zu machen und von dem der Emotion zu unterscheiden. Gefühle, innere Zustände, können wir nicht untersuchen5; Emotionen, verstanden als Handlungen und Praktiken wie etwa das Weinen, hingegen schon.6 Chaniotis scheint jedoch beide Begriffe synonym zu verwenden, wie der Titel bereits ankündigt. Doch kann er letztlich nichts anderes analysieren als Handlungen beziehungsweise sprachliche Äußerungen der Autoren, die zwar selbstverständlich mit (kollektiven) Gefühlen einhergehen, diese aber nicht näher bestimmt werden können7, wofür er selbst plädiert, wenn er behauptet, dass wir „in solchen Fällen […] nur die Emotionen beobachten [können], […] nicht aber, was [jemand] tatsächlich fühlte“ (S. 128).
Das ist ihm teils sehr gut gelungen an den Stellen, an denen Emotionsbegriffe erwähnt werden, wie etwa bei Neros Rede bei den Isthmischen Spielen im Jahr 67 n. Chr., in der der Kaiser die Begriffe Erwartung und Hoffnung explizit nennt (S. 95), zum Zorn in Kapitel 4 oder bei den Trauerinschriften, in denen von bestimmten Gefühlsausdrücken gesprochen wird (etwa S. 151; 154; 155; anders S. 147, 148; 162). Doch stellenweise interpretiert Chaniotis Gefühle in die Aussagen hinein, etwa beim angeblichen Mitleid für den Gladiator Philokynegos (S. 152) oder bei Thukydides’ Bericht über den Bürgerkrieg in Korkyra im Jahr 427 v. Chr. (S. 14–16; weitere Beispiele S. 28; 38). Thukydides beschreibt zwar eine Welt komplexer Gefühle. Doch es ist keineswegs aus dem Text zu fassen, dass die Trauer, die Thukydides gar nicht erwähnt, das Ergebnis dieses Bürgerkrieges sei, mit dem Argument, dass Trauer das Ergebnis eines jeden Bürgerkrieges sei (S. 14f.). Interessant ist hier doch vielmehr, dass Thukydides die für uns heute als natürlich erscheinende Trauer im Zusammenhang mit Krieg unerwähnt lässt.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass Chaniotis’ Ausführungen methodisch nicht stringent sind. Zwar stecken in jeglichen Objekten Gefühle, aber wir können nicht aufschlüsseln, um welche Gefühle es sich handelt. Sobald wir dies versuchen zu tun, stellen wir lediglich Interpretationen nach modernen Vorstellungen zum Umgang mit Gefühlen an. Das bedeutet, wir sollten das Material nicht überinterpretieren. Chaniotis stimmt sogar selbst zu, dass sich Emotionen – wohl verstanden als Gefühl – nicht immer leicht ermitteln lassen: „Der emotionale Kontext von einigen Texten und Objekten ist leicht zu ermitteln; in vielen Fällen bleibt er uns allerdings verborgen.“ (S. 12) Hier spricht er genau das Problem an, dass mit der historischen Emotionsforschung einhergeht: Wir kommen nicht an die Gefühle vergangener Menschen. Doch gerade das, so klingt es, will er in seinem Werk herausarbeiten. Doch fehlt hier in vielen Fällen eine sichere Beweisgrundlage, wie die oben angeführten Beispiele zeigen. Wir können lediglich, wie Chaniotis selbst zu zahlreichen Beispielen, wie etwa den Grabinschriften oder Neros Rede, unterstreicht, die mediale Seite fassen und prüfen, wie Emotionen dort eingesetzt wurden und mit ihnen überzeugt wurde. Ferner fordert Chaniotis eine Rekonstruktion emotionaler Kontexte (S. 69); sollte es sich nach den bisherigen Ausführungen nicht eher um eine Dekonstruktion emotionaler Kontexte handeln? Denn wenn wir etwas, wie oben ausgeführt, nicht fassen können, können wir es auch nicht rekonstruieren, allerdings können wir die Texte hinsichtlich ihrer eingeschriebenen Emotionalität zerlegen und diskursanalytisch untersuchen, indem wir danach fragen, welche Emotionen – und hier auch Gefühle, unabhängig von ihrer Authentizität – zu einer bestimmten Zeit sagbar waren.
Das Werk lebt von seiner Dichte mit den zahlreichen anschaulichen Beispielen sowie der flüssigen Schreibweise. Das alles macht das Lesen sehr angenehm, wenngleich es sich, wie die Kritik zeigt, um ein sehr komplexes Thema handelt. Insgesamt liefert das Werk einen enormen Beitrag zur antiken Emotionsgeschichte und gibt Anregungen zu weiteren spannenden Forschungsdiskussionen, wie diese knappe Rezension bereits zeigt.
Anmerkungen:
1 So etwa bereits Angelos Chaniotis (Hrsg.), Unveiling Emotions. Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World, Stuttgart 2012.
2 Hierzu Rob Boddice, The History of Emotions, Manchester 2018.
3 So etwa auch Chaniotis 2012.
4 Ebenfalls Chaniotis 2012.
5 So David Konstan, Haben Gefühle eine Geschichte?, in: Martin Harbsmeier / Sebastian Möckel (Hrsg.), Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Frankfurt am Main 2009, S. 27–46; Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.
6 Nicole Diersen, Emotionen und Politik in der späten römischen Republik. Emotionsstrategien bei Cicero in den Jahren 58–49 v. Chr., Tübingen 2022.
7 Fraglich ist auch der Begriff der kollektiven Gefühle. Bei der Erforschung von kollektiven Gefühlen mag man dazu neigen, allgemeingültige Aussagen, die ohnehin schon bekannt sind, zu bestätigen und vermeintlich wissenschaftlich zu fundieren, so etwa Ute Frevert, Mächtige Gefühle. von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Deutsche Geschichte seit 1900, Frankfurt am Main 2020.