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Titel
Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise


Autor(en)
Gautschi, Peter
Reihe
Forum Historisches Lernen
Erschienen
Schwalbach im Taunus 2009: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Josef Memminger, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Die Geschichtsdidaktik ließ in den 1970er-Jahren das bis dahin verbreitete Verständnis der Disziplin als reine Methodenlehre für den Geschichtsunterricht weit hinter sich. Sie beschäftigte sich fortan ausgreifend mit den Leitthemen Geschichtsbewusstsein und der Geschichtskultur und lieferte wertvolle Impulse für eine theoretische Fundierung didaktischer Zugänge in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft. Die Praxis schulischen Geschichtsunterrichts geriet dabei mitunter aus dem Blick. In der jüngeren Vergangenheit schickte sich die Geschichtsdidaktik an, die zuvor oft streng separierten Bereiche von Theorie, Empirie und Pragmatik stärker aufeinander zu beziehen.1

Peter Gautschi, renommierter Autor und Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften und ihre Disziplinen in Aarau, sorgte bereits mit innovativ-kritischen Lehr- und Schulbüchern (nicht nur) in der Schweiz für Furore.2 Mit seiner Kasseler Dissertation legt er das bisher umfassendste Exempel für diesen Ansatz vor, indem er einen fundamentalen Beitrag für die Theoriebildung der geschichtsdidaktischen Disziplin zu leisten versucht. Darüber hinaus liefert er eine methodisch hoch aufwändige und reflektierte empirische Untersuchung konkreten Geschichtsunterrichts mit aussagekräftigem Datenmaterial. Und nicht zuletzt fundiert er von der Praxis kommend pragmatische Einsichten, was denn „guten Geschichtsunterricht“ ausmache. So generiert er wertvolle Erkenntnisse für Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer und initiiert einen „neuen Dialog von Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis“ (S. 255).

Im ersten Kapitel (Einleitung) umreißt Peter Gautschi seine Fragestellung im Forschungskontext empirischer Untersuchungen von Unterricht. Überzeugend wirkt hierbei vor allem der Ansatz, die „videobasierte Unterrichtsforschung“ in der Geschichtsdidaktik zu verstärken sowie sich auf „Good-practice-Situationen“ zu konzentrieren und nicht – wie oft üblich – der Frage, „was in der Schule und im Unterricht misslingt“ (S. 25f.), das Hauptaugenmerk zu schenken.

Das zweite, der Theorie gewidmete Kapitel (Grundlagen) holt sehr weit, man muss sagen: zu weit, aus. Die Unterkapitel „Was ist Unterricht?“ (S. 32-37), „Was ist Geschichtsunterricht?“ (S. 38-75) sowie „Was ist guter Unterricht?“ (S. 78-87) 3 und „Was ist guter Geschichtsunterricht?“ (S. 88-102) geben in reihender Form sehr breit wieder, was in der didaktischen Literatur bereits umfassend dargestellt wurde, unter anderem die verschiedenen in der Diskussion stehenden Kompetenzmodelle.4 Dem Kapitel hätte eine raffendere Akzentuierung hinsichtlich der eigenen Fragestellung gut getan.

Peter Gautschi folgt mit seinem anschließend vorgestellten eigenen Kompetenzmodell dem Diktum Jörn Rüsens, dass Geschichtslernen in erster Linie dadurch gekennzeichnet sei, „durch historisches Lernen auf eine bestimmte Weise Sinn über Zeiterfahrungen zu bilden.“ Daher müsse die Ausbildung „narrativer Kompetenz“ das oberste Leitziel des Geschichtsunterrichts sein. Vier Kompetenzbereiche ließen sich dafür unterscheiden: Die „Wahrnehmungskompetenz für Veränderungen in der Zeit“, die „Erschließungskompetenz für historische Quellen und Darstellungen“, eine umfassende „Interpretationskompetenz für Geschichte“ und die auch für die außerschulische Lebenspraxis entscheidende „Orientierungskompetenz für Zeiterfahrung“ (S. 48f.). Darauf fußend entwickelt der Autor 15 Gütekriterien für gelungenen Geschichtsunterricht, die in den drei Bereichen „Lerngegenstand“, „Prozessstruktur“ und „Nutzung“ jeweils fünf Einzelkomponenten enthalten. Zusammenfassend wird definiert: „Geschichtsunterricht ist dann gut, wenn Schülerinnen und Schüler anhand von fachspezifisch bedeutsamen Inhalten und Themen mittels eines Unterrichtsprozesses, der den Ansprüchen der Bezugswissenschaften entspricht, relevantes geschichtliches Wissen und für Historisches Lernen grundlegende Kompetenzen erwerben und ausdifferenzieren.“ (S. 100)

Die der Einleitung und dem Grundlagenkapitel folgenden Teile des hier zu rezensierenden Buches könnten sich als bahnbrechend für die Disziplin erweisen. Nicht nur wird mit einer hochwertigen Studie der wachsenden Bedeutung der Empirie innerhalb der Geschichtsdidaktik erneut Rechnung getragen; Peter Gautschi entwirft darüber hinaus im dritten Kapitel (Vorgehen) einen höchst wertvollen Bezugsrahmen für künftige geschichtsdidaktische Untersuchungen, indem er nach der entsprechenden Zielperspektive jeweiliger Ansätze fünf Forschungsrichtungen benennt: „Phänomenforschung“, „Ergebnisforschung“, „Wirkungsforschung“, „Interventionsforschung“ und „Forschung zu historischem Denken und Lernen“ (S. 104-112). Diese normative Gliederung könnte in einem Fach, dessen methodisches Instrumentarium noch als recht disparat zu bezeichnen ist, eine wohltuende Vereinheitlichung der Terminologie zur Folge haben. Im Schlussteil des Buches (siebtes Kapitel: Diskussion und Ausblick) werden vor diesem Hintergrund denkbare und relevante Forschungsprojekte vorgeschlagen. Seine eigene Untersuchung ordnet Peter Gautschi der Phänomenforschung zu, die als „mehrperspektivische, explorative und deskriptive Querschnittstudie“ (S. 103) zu verstehen sei. Auf der Grundlage der Analyse realen Unterrichts sollten darin Anregungen formuliert werden, wie „guter Geschichtsunterricht“ aussehen könne.

Bereits die Datenerhebung des aufwändigen Unternehmens, das sich über sieben Jahre (2002-2008) hinzog, war beispielhaft. Als Vorteil erwies sich, dass auf Material des Schweizer Großprojekts „Geschichte und Politik im Unterricht“ zurückgegriffen werden konnte. Die Stichprobenziehung teilnehmender Schulen ist daher als gründlich reflektiert zu bezeichnen und besitzt große Aussagekraft. Es entstanden Unterrichtsvideos aus 41 Schulklassen unterschiedlicher Niveaustufen in verschiedenen Schweizer Kantonen. Im Anschluss wurde mittels Schüler- und Lehrerbefragungen schriftliches Datenmaterial gewonnen. Ein absolutes Novum in der geschichtsdidaktischen Forschung stellt die Analyse der Ergebnisse mittels Triangulation dar, die die Mehrperspektivität der Auswertung gewährleistet (S. 120). Unter Verwendung quantitativer und qualitativer Verfahren flossen die Beurteilungen von Schülerinnen und Schülern, der eingebundenen Lehrkräfte sowie geschichtsdidaktischer Experten (vorwiegend renommierte Dozenten) gleichberechtigt ein, um zu ermitteln, welche der Lektionen als gut zu bewerten waren. Kapitel vier (Exploration) gibt Auskunft darüber, auf welchem Wege statistisch und methodisch belastbare Einschätzungen zustande kamen. Aus der vergleichenden Bewertung konnten fünf Geschichtslektionen ermittelt werden, die aus allen Perspektiven das Prädikat „gut“ erhielten. Jene werden als „Einzelfalldarstellungen“ im fünften Kapitel (171-228) detailliert vorgestellt. Die Überschriften geben pointierte Hinweise auf die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler:
- „Wir konnten über die Probleme von früher und heute diskutieren“: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg (5.1)
- „Mir haben die einfachen Aufgaben gefallen“: Auseinandersetzung mit sechs Freiheitsrechten (5.2)
- „Ich kann besser aufpassen, wenn es interessant ist“: Erster Weltkrieg: Zahlen, Fakten, Waffen (5.3)
- „Film schauen ist immer gut“: Deutschland in den Jahren 1918-1930 (5.4)
- „Gute Vorbereitung auf die Prüfung“: Repetition Renaissance (5.5)

Am Ende der Darstellung der verschiedenen Unterrichtsarrangements fungiert jeweils ein aussagekräftiges, tabellarisches Güteprofil der Lektion als Zusammenfassung. In Anbindung an den Theorieteil und auf Grundlage der empirischen Studie werden im sechsten Kapitel (Erkenntnisse) unter anderem die Schlüsselfaktoren für guten Geschichtsunterricht herausgearbeitet. Hervorzuheben seien dabei die notwendige Schülerorientierung des Unterrichts und sinnvolle, herausfordernde Lernaufgaben, für deren Gestaltung wichtige Kriterien angegeben werden. Im abschließenden siebten Kapitel reflektiert Peter Gautschi selbstbewusst, aber auch kritisch, sein Forschungsdesign, gibt Hinweise für die Praxis des Geschichtsunterrichts und regt künftige Untersuchungen an. Anzumerken bleibt, dass nicht alle Forscher auf solch ideale Rahmenbedingungen und Vorarbeiten zurückgreifen können wie der Schweizer Geschichtsdidaktiker.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Peter Gautschi hat mit seiner Dissertation für die empirische geschichtsdidaktische Forschung neue Maßstäbe gesetzt und schlüssige sowie praxisgesättigte pragmatische Hinweise aus der Untersuchung abgeleitet. An diesen Vorgaben werden sich künftige Publikationen messen lassen müssen. Ob die Geschichtsdidaktik als Disziplin dem Autor auch hinsichtlich des theoretischen Überbaus, der durchaus normativ daherkommt, folgen mag, das wird die Zukunft weisen.

Anmerkungen:
1 Z.B. Michele Barricelli, Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach im Taunus 2005.
2 Zu nennen ist insbesondere eine didaktisch-methodische Handreichung, die den „Worlddidac Award 2000“ erhielt: Peter Gautschi, Geschichte lehren. Lernwege und Lernsituationen für Jugendliche, 2. erw. Aufl., Bern 2000. Ferner das innovative und kontrovers diskutierte Unterrichtswerk: Jan Hodel / Barbara Bonhage / Peter Gautschi / Georg Spuhler, Hinschauen und Nachfragen. Die Schweiz und der Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen. Zürich 2006.
3 Im Titel und in der Art und Weise, Kriterien aufzulisten, ist die Publikation eindeutig inspiriert von dem populären Buch: Hilbert Meyer, Was ist guter Unterricht?, Berlin 2004.
4 Vgl. z.B. das Kompetenzmodell des „National Center for History in the Schools“ (NCHS 1996) aus England sowie die Modelle bei Hans-Jürgen Pandel (2005), FUER Geschichtsbewusstsein (Schreiber/Körber/Borries u.a. 2006), beim Berliner Rahmenlehrplan für die Sek. I Geschichte (2006) und beim Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (2006), vorgestellt bei Gautschi, Guter Geschichtsunterricht, S. 54-66.

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