K. Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel

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Titel
Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923


Autor(en)
Krampitz, Karsten
Erschienen
Anzahl Seiten
151 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kathrin Hansen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Historiker und Autor Karsten Krampitz beschäftigt sich in der Monografie „Pogrom im Scheunenviertel: Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923“ erstmals mit dem Pogrom vom 5.–7. November 1923. Krampitz ist vor allem für seine Arbeit mit wohnungslosen Personen und seiner Forschung zur Kirche in der DDR bekannt. In seiner hier betrachteten Monografie zeigt der Autor eine sensible Herangehensweise im Umgang mit marginalisierten Menschen. Er veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise die Stimmen aus dem Scheunenviertel und erreicht erfolgreich das erklärte Ziel seiner Arbeit: ein Bewusstsein für das Berliner Scheunenviertel, seine Bewohner:innen und die Erinnerung an sie zu schaffen. Die zentrale Quelle seines Buches stellen die erstmals veröffentlichten Augenzeugenberichte von Opfern des Scheunenviertelpogroms dar.

Der Veröffentlichung ging ein archivarischer Zufallsfund voraus: Innerhalb des Nachlasses des preußischen Innenministers Carl Severing wurden neun Augenzeugenberichte von Opfern des Pogroms entdeckt. Diese hatte das Arbeiterfürsorgeamt (AFA), eine Fürsorgeorganisation für Jüdinnen und Juden in der Weimarer Republik, erstellt. Die Berichte beschreiben nicht nur den Verlauf des Pogroms, sondern liefern auch Informationen über die Zugehörigkeit der Opfer sowie das Wirken einzelner rechtsextremer Akteure während des Pogroms.

Die Struktur der Monografie umfasst vier umfangreiche Kapitel, in denen der Autor nicht nur die Augenzeugenberichte des AFA präsentiert, sondern auch einen Kontext der antisemitischen Gewalt und Stigmatisierung der sogenannten Ostjuden herstellt. Er knüpft mehrfach an die Monografie "Berliner Luftmenschen" von Anne-Christin Saß1 an und folgt ihrer zum Teil an journalistische Verfahren anknüpfenden Darstellungsweise, indem er die Stimmen aus dem Scheunenviertel in den Vordergrund stellt.

Zunächst ordnet Krampitz den Begriff des „Ostjuden“ ein und verknüpft diesen nicht nur mit dessen Entstehungsgeschichte, sondern ebenfalls mit der Migrationsgeschichte von Jüdinnen und Juden aus Polen und dem Russischen Reich in die erste Stadt, die sicher erschien: Berlin. Krampitz stellt klar heraus, dass Berlin für die Migrant:innen ursprünglich einen Transitort und keinen Sehnsuchtsort darstellte; die meisten blieben nur, wenn ihnen die Emigration nicht möglich war. Gleichzeitig kritisiert er den Begriff des sogenannten Ostjuden als Monolith. Die Konnotation des Begriffs beschreibe die Bezeichneten zu Unrecht als rückständig und traditionell. Zugleich geht Krampitz auf den Begriff der „Dissimilation“ ein, auf den Shulamit Volkov vielfach abhebt. Dissimilation beschreibt einen Prozess des Rückzugs ins eigene Jüdischsein mit einem erneuten Fokus auf die Religion, der durch den unüberwindbaren Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft und die Grenzen der eigenen Assimilation in Gang gesetzt wurde. Wie sehr konnte man sich assimilieren, wenn man von der Mehrheitsgesellschaft ohnehin stigmatisiert wurde? Der Zuzug von osteuropäischen Jüdinnen und Juden war ein Katalysator in der Debatte um die eigene Identitätsfindung.2

Im Kapitel „Nationalismus und Antisemitismus“ beleuchtet der Autor besonders die neue Eskalationsstufe der Gewalt und des antisemitischen Hasses, der sich nicht nur in der Duldung durch den Staat, sondern auch in seinen repressiven Methoden, xenophoben Äußerungen durch SPD-Politiker wie Carl Severing sowie Wolfgang Heine und in der Errichtung der Konzentrationslager Stargard und Cottbus-Sielow zeigt. So veröffentlicht Krampitz Opferberichte aus den Konzentrationslagern, die ebenfalls dem AFA entstammen, und zeigt zugleich die sekundäre Betrachtung dieser Konzentrationslager in der Forschung auf. Dabei thematisiert er den Erlass des sozialdemokratischen preußischen Innenministers Wolfgang Heine, der zwar auf eine rassistische Art und Weise eine angebliche Überzahl an Jüdinnen und Juden aus Osteuropa postuliert, ihre Ausweisungen jedoch vorläufig aussetzte. Dennoch blieb der Vorwurf, sogenannte Ostjuden würden nicht nur illegalen Handel betreiben, sondern auch als politische Akteur:innen in Erscheinung treten, was dazu führte, dass Bewohner:innen des Scheunenviertels durch vermehrte Razzien kriminalisiert und schikaniert wurden. Der Autor integriert diese Ereignisse in einen umfassenderen Kontext, in dem seine zentrale These des Kapitels zum Tragen kommt: Der Erste Weltkrieg wurde innerhalb der deutschen Gesellschaft nicht angemessen aufgearbeitet, da er als eine unausweichliche Katastrophe betrachtet wurde. Dies ermöglichte es, die Schuld bei anderen, insbesondere Jüdinnen und Juden, zu suchen. Krampitz zeigt hier auf, wie sehr Antisemitismus die gesamte Gesellschaft durchzog und in diversen Ausprägungen auftrat.

Das Kapitel, in dem das eigentliche Pogrom thematisiert wird, beginnt Krampitz mit einer Illustration des Lebens im Scheunenviertel. Speziell der Roman „Grenadierstraße“ von Fischl Schneersohn und die Autobiografie von Mischket Liebermann werden hier herangezogen; die Beschreibung des eigenen sozialen Raumes durch die Akteur:innen selbst steht im Vordergrund. Im Anschluss daran zeigt er mehrere Perspektiven auf das Pogrom auf: die Presseberichterstattung, die Polizeiberichte und die Opfer des Pogroms, wobei Letztere im Vordergrund stehen. Die Quellen zeigen eine starke Dissonanz zwischen den Opferberichten und polizeilichen Quellen. Aufseiten der Opfer handelt es sich um Berichte von Ladenbesitzer:innen, die von Gewalt und vor allem Plünderungen erzählen. In einigen dieser Berichte treten bislang unbeachtete Aspekte zutage: Besonders sticht die Schilderung von Nathan Podhorzer hervor, der von einer Ankündigung des Pogroms am Nachmittag zuvor berichtet, sowie der von Moritz Pich, welcher Agitatoren beschreibt, die gezielt die Masse auf jüdische Geschäfte gelenkt haben sollen. Jeden dieser Berichte beginnen die Opfer mit einer Aufzählung von Kriegsverdiensten oder wehren sich gegen die Kriminalisierung, indem sie ihre Rechtschaffenheit betonen. Generell wird die erlittene Gewalt meist als Plünderung beschrieben und damit in einen Deutungsrahmen gesetzt. Auch das Zusehen durch die Polizei wird in einem großen Teil der Berichte thematisiert.

Schließlich schildert Krampitz die Folgen dieser Zäsur im Scheunenviertel, die sich in einer Auswanderungswelle zeigten, aber auch die Deportation von 196 Bewohner:innen des Scheunenviertels während der Shoah umfasste. Was bleibt, ist eine Nostalgie der ehemaligen Bewohner:innen und eine gleichzeitige Sprachlosigkeit darüber, dass „alles wie ausgelöscht sei“. (S. 140)

Krampitz schafft eine umfassende Kontextualisierung des Pogroms mit einem Fokus auf die Narration durch die Verfolgten selbst. Vor allem sein Archivfund und weitere Hintergrundinformationen zum preußischen Innenminister Carl Severing stellen wertvolle wissenschaftliche Forschungsleistungen dar. Insbesondere lenkt Krampitz den Blick auf das wenig untersuchte Phänomen der einzelnen rechten Agitatoren, die während des Pogromgeschehens Tätergruppen befehligten und offenbar koordinierten. Seine Sprache ist klar, konzise und argumentativ sehr gut nachvollziehbar.3 Krampitz bietet in seiner Monografie daher auf vielen Ebenen einen Zugang zum Berliner Scheunenviertel und dem Antisemitismus der Weimarer Republik, der im Pogrom gipfelt. Sowohl Leser:innen, die bereits zum Scheunenviertel geforscht haben, als auch diejenigen, die noch am Anfang ihrer Forschung stehen, gewinnen neue Erkenntnisse. Die Monografie ist daher insbesondere für die Lektüre in Lehrveranstaltungen geeignet.

Die Fokussierung auf die Stimmen der Bewohner:innen des Scheunenviertels ist zwar positiv hervorzuheben, jedoch nehmen die Augenzeug:innenberichte des AFA nur etwa neun der 150 Seiten ein. Generell stehen Berichte und Auszüge aus Romanen meist für sich, sie werden eher wenig kommentiert und eingeordnet, besonders auf die möglichen neuen Erkenntnisse zur Lenkung durch einzelne rechte Akteure wird fast nicht eingegangen. Nachdem er den Kontext auf eine sehr eindrucksvolle Weise hergestellt hat, wäre es interessant gewesen, die eingehenderen Interpretationen des Autors der Quellen selbst zu lesen.

Im Großen und Ganzen tut dies der Monografie jedoch keinen Abbruch. Krampitz’ Darstellung, Quellenfund und dadurch neu aufgeworfene Fragen bedeuten einen wichtigen Schritt zur weiteren Erforschung des Komplexes „Scheunenviertel“ und seiner Bewohner:innen sowie der dort verorteten Gewalt im Kontext der politischen und sozialen Landschaft der Weimarer Republik.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu: Miriam Rürup, Rezension zu: Anne-Christin Saß, Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012, in: H-Soz-Kult, 03.10.2013, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-18298 (26.03.2024).
2 Vgl. Shulamit Volkov, Germans, Jews, and Antisemites. Trials in Emancipation, Cambrigde 2006, S. 256–276.
3 Leider reißen einzelne Metaphern aus dem Lesefluss, die durch eine scheinbare Allgemeingültigkeit das Argument nicht so stärken, wie es offenbar intendiert war. Ein Beispiel wäre hier: „Jede Medizinerin und jeder Mediziner wird bestätigen: eine Wunde, die heilen soll, muss zuvor gesäubert werden“ (S. 70).