T. Mäusli: Audiovisuelle Medienarchive

Cover
Titel
Audiovisuelle Medienarchive. Kulturgut in der digitalen Transformation


Autor(en)
Mäusli, Theo
Erschienen
Zürich 2023: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
142 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Götz Lachwitz, Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Potsdam-Babelsberg

Die National Aeronautics and Space Administration (NASA) begann in den 1960er-Jahren Unmengen von Daten zu produzieren, die neben ihren auf die Raumfahrt selbst ausgerichteten Zwecken auch einen ganzheitlichen Blick auf das Zusammenleben auf der Erde ermöglichen sollten, beispielsweise durch die Erhebung von Daten zur Entwicklung des Klimas. Bereits nach wenigen Jahren zeigte sich, dass diese Daten zwar gespeichert worden waren, aber nicht mehr ohne größere Aufwände gelesen und weitergenutzt werden konnten. Aus dieser Feststellung resultierte Anfang der 2000er-Jahre das Open Archival Information System (OAIS), eine International Organization for Standardization (ISO)-Norm zur Sicherstellung verbindlicher Kriterien für die digitale Archivierung. Neben Weltraumforschenden waren an der Entwicklung dieses Modells wesentlich auch Archivar:innen beteiligt, wie Theo Mäusli in seinem Buch über audiovisuelle Medienarchive beschreibt.

Die Nähe zwischen Raumfahrt und Archivwesen steht sinnbildlich für eine in dem Buch implizit aufgerufene Dichotomie zwischen den seit jeher rasant in die Zukunft laufenden Entwicklungen von Medientechnologien und dem in der Öffentlichkeit oftmals vorherrschenden Bild des Archivs als einem Ort der Sicherung von Wissen, also einer Institution mit überwiegend historisierender Funktion. Daran ändert auch die Parallelisierung der Aufgaben eines Archivs mit dem Zweck der Informatik durch den Autor nichts: „In der Informatik geht es um die effiziente und sichere Organisation und Kommunikation von Information, also [um] das Kerngeschäft von Archiven.“ (S. 123) Richtet man den Fokus auf Archive, deren Sammlungsschwerpunkt audiovisuelle Aufzeichnungsmedien beziehungsweise deren Inhalte sind, führte die rasante Entwicklung von Medientechnologien zu hohen Anforderungen im Arbeitsalltag, auf die jeweils zeitnah reagiert werden musste: Bereits seit Jahren werden in diesen Archiven Ton- und Filmaufnahmen digitalisiert und entsprechende digitale Tools und Datenmanagementsysteme zur Verwaltung und Bereitstellung der Inhalte und der begleitenden Metadaten entwickelt.

Augenscheinlich wird dies etwa mit Blick auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, der seit der Freischaltung des Chatbots ChatGPT in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Zwar kann der Autor diese breit und kontrovers geführte Diskussion in seinem Buch nur anreißen, was dem Redaktionsschluss des Buches geschuldet sein dürfte. Dennoch wird deutlich, dass technische Anwendungen wie das Text- und Data-Mining – also beispielsweise das automatisierte Auslesen von Informationen mittels speech-to-text – die verbesserte Suche nach Informationen durch automatisierte Sprach- und Bilderkennung oder auch die automatische Detektion von Musikinhalten und deren Urheber:innen in vielen Medienarchiven bereits seit Jahren zum Alltag gehören.

Zunächst liegt dem Buch aber ein klassisches Verständnis von Archiv zugrunde: „Wenn ich in diesem Buch von Archiven spreche, meine ich damit […] Sammlungen von Informationen, die von einer Person oder Organisation wegen ihres bleibenden Wertes oder als Beweis für die Funktionen ihres Urhebers oder der Organisationen aufbewahrt werden. Die Orte der Organisationen, die solche Sammlungen verwalten, werden ebenfalls als Archive bezeichnet.“ (S. 17) Archiv meint also die hinter einem gesammelten Wissen stehende Institution, den Ort, an dem diese Sammlung aufbewahrt wird, sowie das dort gesammelte Wissen selbst (ob nun analog oder digital). Erst im weiteren Leseprozess erschließt sich die weiterhin getroffene Unterscheidung zwischen „Audiovisuellen Archiven“, „Audiovisuellen Medienarchiven“ und „Digitalen Archiven“, denen der Autor jeweils ein eigenes Kapitel widmet.

Da Mäusli selbst bei der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) arbeitet, liegt sein Fokus auf den Entwicklungen in der Schweiz. Immer wieder zieht er aber vergleichend Beispiele aus anderen, in den meisten Fällen europäischen Staaten heran. Da auch in der Schweiz wesentliche Entwicklungen aus der Europäischen Union von Bedeutung sind, können die vom Autor beschriebenen Ausführungen durchaus als europäische Perspektive bezeichnet werden. Der Autor selbst spricht sogar von einer „globalen Optik“ (S. 13); ein Anspruch, der trotz wiederholter Seitenblicke auf den außereuropäischen Raum nicht vollständig erfüllt wird. Zu unterschiedlich sind etwa die weltweiten rechtlichen Rahmenbedingungen, um Archivbestände öffentlich zugänglich machen zu können, um sie in einem schmalen Band übersichtlich nebeneinanderstellen zu können.1 Eine Erweiterung des Fokus auf Länder, bei denen die Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts schon aus Kostengründen nur eine untergeordnete Rolle spielt, hätte zudem wohl auch den Umfang des Buches gesprengt. Dass die Entwicklungen in Deutschland nicht dezidiert hervorgehoben werden, sondern nur ein Beispiel unter anderen sind, lässt sich wiederum verschmerzen, da diese Perspektive in anderen Publikationen gut verfolgt werden kann.2

Mit den Begriffen „Audiovisuelle Archive“, „Audiovisuelle Medienarchive“ und „Digitale Archive“ verweist der Autor nicht in erster Linie auf unterschiedliche Institutionen (das auch), sondern vor allem auf die unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte sowie auf die technische Weiterentwicklung der zu archivierenden Materialien und der daraus resultierenden Herausforderungen: Auf die Erfindung neuer audiovisueller Technologien wie Fotografie, Film, Tonaufzeichnung oder Rundfunk folgte in vielen Ländern auch eine auf das jeweilige Medium fokussierte Einrichtung: „Audiovisuelle Archive“ wie das Schwedische Filminstitut, die Deutsche Kinemathek oder das Institut national de l'audiovisuel (INA) in Frankreich – alles Institutionen, denen die von ihnen gesammelten, aufbewahrten und zugänglich gemachten Werke erst nach der Produktion durch Dritte übertragen wurden.

„Audiovisuelle Medienarchive“ sind in der Anordnung des Autors in erster Linie die Archive der Rundfunkanstalten.3 Diese dürften aufgrund ihrer seit Jahrzehnten täglich gesendeten Radio- und Fernsehsehbeiträge ohne Zweifel zu den größten Produzenten von Ton- und Filmaufnahmen gehören. Das Hauptinteresse dieser Archive liegt seit jeher in der Sicherung ihrer Produktionen zur Wiederverwendung im Programm. Sie sind ihrem Selbstverständnis nach also Produktionsarchive der Rundfunksender. Auch diese Archive haben aber natürlich ein Interesse an der langfristigen Verfügbarkeit ihrer Inhalte.

Am Beispiel der Rundfunkarchive zeichnet der Autor die ehemals primär analog organisierten Aufgaben wie Bestandsdokumentation und Magazinierung im Übergang zur Digitalisierung nach. Dies bedeutete auch einen Wandel von analogen Trägerformaten wie Tonband und Film hin zu digitalen, aber zunächst weiterhin trägergebundenen Formaten wie der CD oder Videokassetten im professionellen Betacam SP-Format. Neue Anforderungen an die Organisation des mit diesen Medien vermittelten Wissens beziehungsweise an das Management der solche Medien begleitenden Metadaten gingen damit einher: Die Möglichkeit der Vernetzung von Daten in Form von Datenbanken führte einerseits zu Vereinfachungen im Arbeitsprozess, gleichzeitig ging damit durch die sich potenzierende Menge an gespeicherten Informationen eine zunehmende Komplexität in der Organisation der Daten einher.

Von digitalen Archiven spricht Mäusli ab dem Zeitpunkt, an dem digital gespeicherte Informationen gar nicht mehr an Trägermedien gebunden sind: „Die radikale Veränderung trat erst ein, als es möglich wurde, digitale Daten als File in den Archivsystemen zu verwalten.“ (S. 56) Damit wurden zwar die Möglichkeiten der Speicherung vereinfacht. Mehr Informationen können seitdem auf vergleichsweise wenig Serverraum untergebracht werden. Zugleich stiegen aber die Anforderungen, um die letzten Endes nur noch aus digitalen Signalen bestehenden Informationen dauerhaft in ihrer ursprünglichen Form auslesen zu können. In letzter Konsequenz ist ein digitales Archiv nur noch auf einen funktionierenden Datenzugriff angewiesen, also auch ohne direkte Anbindung an einen Ort oder eine Institution denkbar – auch wenn dies derzeit noch nicht umgesetzt wird.

„Audiovisuelle Medienarchive. Kulturgut in der digitalen Transformation“ ist ein schmaler, übersichtlicher Band – und genau darin liegt seine Stärke. Der Autor schafft es einerseits, historisch weit auszuholen und den zeitgenössischen, modernen Entwicklungen im Archivwesen, die im Mittelpunkt seines Buches stehen, einen geschichtlichen Rahmen zu geben. Auf diese Weise werden auch Grundzüge der Archivistik vermittelt. Überlegungen zur rechtlich-herausfordernden Möglichkeit, die in Audiovisuellen Archiven, Medienarchiven und Digitalen Archiven aufbewahrten Quellen einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, runden den Text ebenso wie Überlegungen zur Bedeutung von Medienarchiven im Kontext kollektiver Erinnerungsprozesse ab.4 So werden auch Leser:innen abgeholt, deren Verständnis von Archiven vor allem klassisch geschult ist oder die sich erstmals mit der Thematik beschäftigen. Das Buch kann daher als ideale Einführung in den Themenbereich, aber auch als konziser Überblick über das Berufsfeld gelten. Für Leser:innen, die bereits mit der Materie vertraut sind, ist es eine lesenswerte Geschichte der rasanten technischen Entwicklungen, mit denen Medienarchive sich in den vergangenen Jahrzehnten konfrontiert sahen, und eine Vergegenwärtigung innovativer technischer Lösungsansätze. Letztere sorgen dafür, dass man – trotz aller Hürden, insbesondere hinsichtlich der öffentlichen Zugänglichmachung der medialen Bestände – optimistisch in die Zukunft blicken kann.

Anmerkungen:
1 Einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland gibt Paul Klimpel, Kulturelles Erbe digital. Eine kleine Rechtsfibel, Berlin 2020, DOI: https://doi.org/10.12752/2.0.004.0 (01.10.2024).
2 Vgl. beispielsweise Markus Behmer / Birgit Bernard / Bettina Hasselbring (Hrsg.), Das Gedächtnis des Rundfunks. Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung, Wiesbaden 2014; Leif Kramp, Gedächtnismaschine Fernsehen, 2 Bde., Berlin 2014; oder mit Blick auf aktuelle Diskurse aus Sicht der Rundfunkarchive insbesondere die zweimal pro Jahr erscheinende Zeitschrift „Info 7“ des Vereins für Medieninformation und Mediendokumentation, https://www.vfm-online.de/publikationen/zeitschrift/index.shtml (01.10.2024).
3 Gemeint sind an dieser Stelle insbesondere die öffentlich-rechtlich organisierten Rundfunkanstalten wie die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten in Deutschland (ARD) oder Service-Public Einrichtungen wie die SRG.
4 Zur Bedeutung der Archive im Kontext kollektiver Erinnerungsprozesse vgl. auch Sascha Trültzsch-Wijnen / Alessandro Barberi / Thomas Ballhausen (Hrsg.), Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte, Köln 2016.

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