W. Schmitz: Leges Draconis et Solonis (LegDrSol)

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Titel
Leges Draconis et Solonis (LegDrSol). Eine neue Edition der Gesetze Drakons und Solons mit Übersetzung und historischer Einordnung


Autor(en)
Schmitz, Winfried
Reihe
Historia Einzelschriften
Erschienen
Stuttgart 2023: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
XIII, 943 S.
Preis
€ 146,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Dreher, Institut für Gesellschaftswissenschaften, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Im Vorwort erläutert Winfried Schmitz, dass die Idee einer Neuedition der Gesetze Drakons und Solons auf seine Arbeit an früheren Publikationen zurückgehe, in denen er sich mit vielen dieser Texte befasst habe. Das Vorhaben wurde also schon vor den inzwischen erschienenen Editionen der solonischen Gesetze konzipiert.1 Inwiefern sich das vorliegende Werk von diesen Corpora abhebt, wird von Schmitz nicht zusammenfassend dargelegt, sondern ergibt sich aus der gesamten Anlage der Neuedition. Die Unterschiede sind durchaus erheblich und rechtfertigen, um diese Feststellung vorwegzunehmen, das groß angelegte und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt in vollem Umfang.

Die Einführung verweist zu Recht auf die fragmentarische und schwierige Überlieferungslage, denn die meisten Informationen über die archaischen Gesetze entstammen direkt (vor allem von den athenischen Rednern) oder indirekt (von Plutarch oder von spätrömischen Autoren) aus der klassischen Zeit. Insbesondere muss sich jeder Interpret mit der Frage befassen, inwiefern die solonischen Gesetze bei der grundlegenden Gesetzesrevision am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. gekürzt, geändert oder ergänzt worden sein könnten. Schmitz diskutiert das Problem bei jedem Text, bei dem es relevant ist, wobei notgedrungen viele Fragen offenbleiben müssen. Ein ähnliches, vieldiskutiertes Problem besteht darin, ob die Gesetze, die von den athenischen Rednern zitiert werden, authentisch oder spätere Einschübe sind. Schmitz ist hier, wie D.F. Leão und P.J. Rhodes, weniger skeptisch als Eberhard Ruschenbusch, und setzt sich ausführlich und kritisch mit den Thesen von Marco Canevaro und Edward Harris auseinander, die einige Gesetzeszitate als Fälschung beurteilen. Soweit die Einführung den Aufbau des Werks vorstellt, ist sie sehr knapp gehalten, referiert die Gliederung in umgekehrter Reihenfolge, bleibt unvollständig und merkwürdig ungenau und gibt kaum Hinweise zur praktischen Nutzung des Buches.

Den Gesetzesfragmenten vorangestellt ist eine Sammlung von 35 Testimonia, die überwiegend die materielle Form der Aufzeichnung der Gesetzestexte betreffen, also die Beschaffenheit und die Konstruktion der axones und kyrbeis, ein weiteres, in der Forschung umstrittenes Thema.2 In der historischen Einleitung werden die verschiedenen Forschungspositionen referiert und gegeneinander abgewogen, mehrere Zeichnungen verdeutlichen dabei, welchen Vorstellungen Schmitz folgt (übrigens werden auch komplexe inhaltliche Zusammenhänge verschiedentlich mit hilfreichen Graphiken verdeutlicht). Bei den zu Gruppen geordneten Testimonien werden die Konkordanzen mit den früheren Editionen jeweils am Beginn der jeweiligen Gruppe aufgelistet, was weniger übersichtlich ist als die später bei den Gesetzesfragmenten angewandte direkte Zuweisung zu jedem einzelnen Fragment. Eine vollständige Konkordanz mit den Editionen von Antonius Martina, Eberhard Ruschenbusch und D.F. Leão / P.J. Rhodes ist jedoch am Ende des 2. Bandes angefügt.3 Ihr folgen noch ein Quellenregister sowie ein Namen- und Sachregister.

Die 143 Gesetzesfragmente sind gegenüber den früheren Editionen nach einer neuen, inhaltlich ausgerichteten Systematik angeordnet und dementsprechend auch neu nummeriert. Die Titel der zehn Kapitel lauten: „I. Frühes Gesetz“ (unter diesem allgemeinen Titel findet sich nur das „Gesetz gegen die Tyrannis“); „II. Die Gesetze Drakons und Solons über die Tötung“; „III. Verfahren vor dem Areopag“; „IV. Gesetze über die Amtsträger“; „V. Verfahrensrecht“; „VI. Gesetze, den archon basileus und religiöse Angelegenheiten betreffend“; „VII. Verfahren vor dem archon polemarchos“; „VIII. Verfahren vor den Thesmotheten“; „IX. Verfahren vor dem archon eponymos (Erbrecht)“; „X. Appendices“: „Die zu Unrecht Solon zugeschriebenen Gesetze“ werden in diesem Kapitel in einem fortlaufenden Text besprochen und nicht wie in den früheren Editionen als Textauszüge geboten. Man sieht, dass die Gliederung der Gesetze ab Kap. VI nach dem Vorbild der aristotelischen Athenaion politeia an den verfahrensleitenden Institutionen ausgerichtet ist. Ob diese Gliederung auf Solon selbst oder auf die Gesetzesrevision am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zurückgeht, lässt Schmitz zu Recht offen (S. 11).

Die Kapitel sind wiederum in inhaltlich definierte Unterkapitel untergliedert. Abstracts stehen am Anfang der (aber nicht aller) Kapitel und am Anfang der (aber nicht aller) Unterkapitel. Jedes Unterkapitel beginnt mit einer historischen Einordnung der Thematik, gefolgt von einer Auflistung der darauf bezogenen Literatur. Die einzelnen Fragmente schließen sich an. Die meisten Fragmente setzen sich aus mehreren Textauszügen verschiedener Autoren zusammen, die chronologisch geordnet sind, und deren jeweils (soweit möglich) angegebene Datierung für viele Nutzer eine willkommene Hilfe sein wird. Die Texte selbst werden zunächst in der Originalsprache zitiert, gefolgt von einem kritischen Apparat (sofern erforderlich), der Übersetzung und gegebenenfalls einem Kommentar, der unterschiedlich lang ausfallen kann.

Schon beim ersten Blick auf die beiden Bände springt ins Auge, dass die insgesamt annähernd tausend Seiten (zumal bei einer kleinen Schriftgröße und geringem Zeilenabstand in den Fußnoten) mehrfach so umfangreich sind wie die relativ schmalen Bände der früheren Editionen. Dafür sind folgende Gründe verantwortlich: Erstens hat Schmitz eine größere Zahl an Testimonia und Fragmenten aufgenommen.4 Darunter sind nicht nur (mitunter entlegene) spätere Schriften, Kommentare, Scholien, Glossare und Lexika, deren Zusammenstellung höchst verdienstvoll ist, sondern auch indirekte Quellen wie etwa Parallelen zu den solonischen Gesetzen aus anderen griechischen Poleis (z. B. F 75e zu Rhodos). Nur ausnahmsweise ist ein Fragment der Vorgänger-Editionen nicht aufgenommen (S. 736). Zweitens sind die historischen Einleitungen und Kommentare erheblich ausführlicher; die Quellen und eine reiche Auswahl an einschlägiger Literatur, die den aktuellen Forschungsstand wiedergibt, werden gründlich diskutiert. Überschneidungen zwischen den beiden Rubriken sind nicht selten, wären aber auch nicht immer zu vermeiden. Drittens werden einige Fragmente, da sie Informationen zu mehreren, in der Systematik getrennten Gesetzen enthalten, an den entsprechenden Stellen in Gänze wiederholt, also mit Apparat, Übersetzung und Kommentar. Z. B. sind die Passagen Dem. g. Timokrates (or. 24), 103, 105f., 114f. zitiert in F 63a, F 113b und F 140d (worauf nur teilweise hingewiesen wird); die dazugehörige Kritik an Canevaros Fälschungsthese für das Gesetz in § 105 erfolgt sowohl S. 424 als auch (noch ausführlicher) S. 701. Rückverweise ohne Wiederholung hätten in solchen Fällen Platz gespart, den Nutzer aber zum Nachschlagen genötigt. Viertens werden auch Literaturangaben mitunter, aber nicht konsequent, ebenfalls vollumfänglich wiederholt. Hier ist der Gewinn für die Nutzer minimal, zumal auf der anderen Seite die Literaturangaben etwas umständlich auf vier verschiedene Stellen verteilt sind: auf das Verzeichnis der abgekürzten Literatur; auf die Angaben am Ende der Unterkapitel (hier nicht alphabetisch, sondern nach Erscheinungsjahr geordnet); auf das Literaturverzeichnis am Ende von Band II (das jedoch selten zitierte und weniger einschlägige Titel nicht aufnimmt); auf die in den Anmerkungen reichlich zitierte Literatur.

Inhaltlich kommt die Summe der historischen Einordnungen und Kommentare fast einer, nach den Quellen gegliederten, Gesamtdarstellung der archaischen Rechtsgeschichte Athens gleich. Da die Quellen wie gesagt oft aus der klassischen Zeit stammen, dehnt sich der rechtshistorische Rahmen auch auf viele Fragen dieser Epoche aus. Es versteht sich, dass eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen Inhalten an dieser Stelle nicht stattfinden kann, sondern in der weiteren wissenschaftlichen Diskussion erfolgen wird. Ich beschränke mich daher auf die folgenden wenigen, subjektiv motivierten Anmerkungen.

Schmitz kann an vielen Stellen auf zahlreiche seiner früheren Publikationen zurückgreifen, namentlich auf sein einschlägiges Buch über die sozialen Verhältnisse in Griechenland5, und es wird niemanden erstaunen, dass er im allgemeinen bei seinen dort vorgetragenen Interpretationen und Hypothesen bleibt und sie gegebenenfalls verteidigt. So betont er den engen Zusammenhang sowohl des Tyrannengesetzes als auch der drakontischen und solonischen Tötungsgesetze mit dem Kylon-Putsch gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. Auch die Gründung des Areopags durch Solon wird in diesen Zusammenhang gestellt. Und über den Forschungsstand hinausgehend macht er in beeindruckender Weise auf die vielfältigen Bezüge zwischen den solonischen und den drakontischen Maßnahmen aufmerksam. Speziell hervorzuheben ist des Weiteren sein Versuch, mithilfe des solonischen Amnestiegesetzes eine neue Rekonstruktion des Tyrannengesetzes vorzulegen (S. 82–86). An seinem früheren Verständnis des solonischen Stasisgesetzes (F 46), das in der Forschung wenig Anklang gefunden hat, hält Schmitz weiterhin fest: es handle sich um die Verpflichtung der Areopagiten, im Fall einer Stasis für oder gegen die Angeklagten (bei der Abstimmung) Partei zu ergreifen (S. 305ff.). Bei der Abstimmung mittels Ostraka sei ein Mindestquorum von 200 Stimmen für eine Verurteilung erforderlich gewesen. Bezüglich der Strafe der Atimie folgt Schmitz denjenigen, die sie von Anfang an als Ehrlosigkeit verstehen; eine frühe Form der Vogelfreiheit lehnt er ab (S. 346). Neu ist die These, Solon habe nicht, wie allgemein angenommen, den Export aller landwirtschaftlichen Produkte außer Olivenöl verboten. Vielmehr sei Plutarch so zu verstehen, dass Solon Erntekontrakte mit Fremden außer für Olivenöl verboten habe; das heißt, es sei untersagt gewesen, andere Ernteprodukte aus einem heiligen Bezirk herauszunehmen (S. 484ff. u. 499ff.). Die Hektemoroi, zu denen zahlreiche Forschungshypothesen vorliegen, versteht Schmitz nicht als verschuldete Kleinbauern, die ein Sechstel ihrer Ernte an ihre Gläubiger abtreten mussten, sondern als Personen ohne eigenes oder mit wenig Land, die die Ernte anderer gegen Überlassung eines Sechstels gepachtet hätten (S. 645ff.). Mindestens eine seiner früheren Auffassungen hat Schmitz jedoch revidiert: Zu Recht nimmt er die These zurück, die basileis im Tötungsgesetz Drakons seien allgemein als Angehörige der sozialen Elite zu verstehen6, insbesondere die als Tempelpriester tätigen Adligen (S. 112 A. 80; 115 A. 89). Auch die frühere Meinung, dass mit Blutrache verfolgte Totschläger zunächst in ein Heiligtum geflüchtet seien (Hikesie), wird nur noch vorsichtig als möglicher Vorgang eingestuft (S. 126 u. 128).

Lücken sind praktisch nicht zu konstatieren, allenfalls folgende: Unter den „Verfahren vor dem archon polemarchos“ (= Kap. VII) werden ausschließlich militärische Vergehen behandelt. Hier vermisse ich zumindest eine Überlegung, ob nicht auch schon zu solonischer Zeit eine Fremdengerichtsbarkeit bestand, für die dieser Amtsträger später zuständig war. Im Inhaltsverzeichnis fehlt die Auflistung der auf S. 20 erwähnten Tafel 1, die auf S. 883 eingefügt ist.7

Winfried Schmitz und seine beiden Mitarbeiter haben eine immense Arbeitsleistung erbracht, deren im vorliegenden Werk präsentierte Resultate den Zugang zu den einschlägigen Texten und deren Verständnis erheblich erleichtern. Für alle seine Interpretationen trägt Schmitz stets gute Argumente vor, mit denen eine Auseinandersetzung lohnt, auch wenn man ihnen nicht immer zustimmen wird. Das monumentale Werk führt nicht zuletzt vor Augen, welch hohen Stellenwert die Rechtsgeschichte für alle Bereiche der frühgriechischen Gesellschaft besitzt.

Anmerkungen:
1 Eberhard Ruschenbusch, Solon: Das Gesetzeswerk – Fragmente. Übersetzung und Kommentar, herausgegeben von Klaus Bringmann, Stuttgart 2010; D.F. Leão / P.J. Rhodes, The Laws of Solon. A New Edition with Introduction, Translation and Commentary, London / New York 2015.
2 Dazu aktuell: Antoine Chabod, „Ils servent aujourd’hui à griller l’orge“. Les multiples vies et usages des kurbeis de Solon, in: Historia 73 (2024), S. 256–286.
3 Eberhard Ruschenbusch, Σóλωνος νóμοι. Die Fragmente des solonischen Gesetzeswerkes, mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte, Wiesbaden 1966 (ND 1983); Antonius Martina, Solon. Testimonia veterum (Lyricorum Graecorum quae exstant, Bd. 4), Rom 1968.
4 Grob gezählt sind es 27 Testimonia und nicht weniger als 249 Fragmente mehr als im Corpus von Ruschenbusch (wie Anm. 3).
5 Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004.
6 Vgl. dazu inzwischen Werner Rieß, Drakon der Versöhner: Eine Neudeutung des drakontischen Tötungsgesetzes vor dem zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Hintergrund, in: Philipp Scheibelreiter (Hrsg.), Symposion 2022, Wien 2023, S. 37–74; Winfried Schmitz, Drakons Gesetz über die Tötung, Solons Amnestiegesetz und die Entstehung des Areopags: Antwort an Werner Riess, in: Philipp Scheibelreiter (Hrsg.), Symposion 2022, Wien 2023, S. 75–84; E.M. Harris / Marco Canevaro, Toward a New Text of Draco’s Law on Homicide, in: REG 136 (2023), S. 1–52.
7 Irritierend ist, dass sich neben der korrekten Form stoa basileios mehrfach auch stoa basileia findet, beide Formen sogar in derselben Anmerkung 157 auf S. 137.

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