Rund drei Jahre nach dem englischen Original liegt Katja Hoyers Kaiserreichdarstellung „Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire 1871–1918“ jetzt in deutscher Übersetzung vor, die zumindest im Titel weniger martialisch und weniger nach Bismarck klingt. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist die in Großbritannien lebende Journalistin und Historikerin mit ihrem 2023 erschienenen Buch „Beyond the Wall. East Germany 1949–1990“, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, so auch ins Deutsche: „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990“ verkaufte sich ebenso wie das britische Original glänzend. Es sah sich allerdings in Deutschland scharfer Kritik der Historiker:innenzunft ausgesetzt, die es als überaus fehlerbehaftet, methodisch rückschrittlich, als „historiographisch ohne Belang“ (Jens Gieseke) und „reines Ärgernis“ (Hermann Wentker) einstufte.1 Das dürfte beim Kaiserreichbuch nicht anders sein, für das der Verlag auf dem Schutzumschlag recht großspurig wirbt: „Die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs […], wie sie so anschaulich, mitreißend und spannend noch nie zu lesen war.“; „Ein Buch, das Geschichte auf brillante Weise zum Leben erweckt“; „einzigartig“.
Hoyer organisiert ihr Buch neben Einleitung und Schluss chronologisch in fünf Kapiteln. Dem „Aufstieg 1815–1871“ (S. 17–63) schließen sich zwei größere Abschnitte zu „Bismarcks Reich 1871–1888“ (S. 65–126) und „Wilhelms Reich 1890–1914“ (S. 137–200) an. Sie umrahmen ein kürzeres Kapitel „Drei Kaiser und ein Kanzler 1888–1890“ (S. 127–135). In „Die Katastrophe 1914–1918“ (S. 201–250) geht das Kaiserreich schließlich unter. Schon über den Zuschnitt lässt sich trefflich streiten, wichtiger aber ist: Nach einem Erkenntnisinteresse, einem besonderen Gesichtspunkt der Darstellung, sucht man vergeblich. Die kurze Geschichte des Kaiserreichs ist sich selbst genug.
Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Epoche werden an verschiedenen Stellen sehr knapp skizziert. Im Zentrum steht nicht das Leben im Kaiserreich, sondern die politische Herrschaft auf Reichsebene. Es dominiert dabei eine sehr personalistische Sichtweise – das gilt in besonderer Weise für Bismarck. Er steht am Anfang und am Ende und auch sonst fast überall. Thomas Nipperdey dagegen sucht man in der eigenwilligen „Bibliographie“ vergeblich. Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts wird mit dem ersten Großkapitel teleologisch auf das Kaiserreich hin geschrieben, und in fast jeder Hinsicht ist das Reich Bismarck zu verdanken, dessen Leben seit „seiner Geburt in dem schicksalhaften Jahr 1815 […] bemerkenswert eng mit historischen Ereignissen verflochten“ blieb (S. 40). Auch wenn nicht alle Schattenseiten dieses Mannes im Dunkeln bleiben: Man fühlt sich wiederholt an die längst überwunden geglaubte Bismarckhagiographie vergangener Zeiten erinnert: „ein gewiefter Politiker, vielleicht einer der geschicktesten Staatsmänner aller Zeiten“ (S. 10). Hoyer huldigt einem völlig veralteten Bismarckbild: Der geniale Tausendsassa, der in der Innen- wie der Außenpolitik souverän alle Fäden zog, der „beschloss, einen brandneuen Nationalstaat im Gefechtsfeuer der Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zu schmieden“ (S. 9), von dem Wilhelm I. „völlig abhängig“ war (S. 49). Die Liste solcher und ähnlicher Beispiele ließe sich nahezu beliebig verlängern.
Folgt man Hoyer, dann prägte anschließend Wilhelm II. die Ära bis 1914 und trug wie Bismarck dazu bei, „die Saat für das wirtschaftliche und demokratische Schwergewicht zu legen, das Deutschland später werden sollte“ (S. 13). Er weitete die europäische Politik des Kanzlers zeitgemäß zur Weltmachtpolitik, wofür er viel Zuspruch erntete. Er wollte selbst regieren und sein eigener Kanzler sein, die Richtlinien der Politik bestimmen. Aber an Bismarck reichte der Kaiser eben nicht heran: „Wenn nur Wilhelm II. diese Worte des alten Kanzlers gelesen und begriffen hätte“ (S. 125), heißt es etwa zum Kissinger Diktat von 1877. Die absolutistische Geltungssucht und seine Taktlosigkeit standen dem Monarchen ebenso im Wege wie seine Wankelmütigkeit, die Einflüsterungen aller Art Tür und Tor öffnete. Persönliche Berater nutzten ihren exklusiven Zugang, um seine Entscheidungen zu beeinflussen. Der Streit um das persönliche Regiment ist allerdings keine ausschließlich britisch-australische Debatte, an der sich „deutsche Kollegen“ kaum beteiligen (S. 141). Übrig bleibt bei Hoyer das Bild einer skandaldurchschüttelten Vorkriegsherrschaft, mit dem dieses Großkapitel auch schließt („Ein Skandalkaiser“, S. 192–200). Im Ersten Weltkrieg sinkt Wilhelm II. endgültig zum Schattenkaiser herab, während Hindenburg und Ludendorff zu stillen Diktatoren aufsteigen. Dass all dies umstritten ist und es auch gute Argumente dafür gibt, Wilhelm im Krieg weit mehr als nur eine Schattenrolle zuzumessen, erfährt der Leser zwar nicht, aber dafür behält er die Gewissheit, dass ein „blutrünstiger Kriegsherr“ Anfang Juli 1914 mit seinen Dackeln Hexe und Dachs wohl kaum mit seiner Yacht Hohenzollern zur jährlichen Nordlandreise aufgebrochen wäre (S. 204).
Die Autorin erzählt durchaus gefällig und anschaulich, hin und wieder lockern Anekdoten die dichtgedrängte Darstellung auf. Gar keine Frage: Das Buch ist flott zu lesen, so sahen es auch die Masterstudierenden, mit denen ich es in einem Lektürekurs gemeinsam diskutiert habe. Und nichts anderes will Hoyer: Einem Lesepublikum von einer ihm weitgehend fremden, unter Umständen gar exotisch anmutenden Epoche erzählen und es unterhalten. Das ist völlig legitim, sollte aber auf einem neueren Kenntnisstand der Forschung beruhen, und wenn dies wie hier über weite Strecken nicht der Fall ist, muss dies zumindest fehlerfrei geschehen. Aber der Autorin unterlaufen zahlreiche Fehler, es finden sich Ungenauigkeiten und Widersprüche. Einige Beispiele und Fragen müssen hier genügen: Das Hambacher Fest war kein „Studentenmarsch“ (S. 26), das Reich wurde kaum „unter wildem Jubel in allen deutschen Staaten“ (S. 63) ausgerufen und das Zivilrecht wurde nicht Anfang der 1870er-Jahre vereinheitlicht (S. 77), sondern erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch, das 1900 in Kraft trat. Die liberale Bewegung „verstummte“ oder „erlosch“ nicht nach den 1880er-Jahren (S. 80f.) – insbesondere nicht auf kommunaler Ebene, wo sie dank illiberaler Wahlrechte bis 1918 stark blieb; auch gehörte das „allgemeine Männerwahlrecht“ gewiss nicht zum liberalen Traditionsbestand (S. 13). Und was ist mit den zentralen, immer wieder bemühten Begriffen „Demokratie“, „defensivem Nationalismus“ oder „Sozialimperialismus“ gemeint? Muss man diese nicht gerade Leserinnen und Lesern ohne Vorwissen erläutern?
Reden wir nicht drumherum: Dies ist ein schlechtes Buch, dessen Lektüre mich und auch die Masterstudierenden teils ratlos, teils kopfschüttelnd zurückgelassen hat. Es wimmelt von Fehlern, (methodischen) Unzulänglichkeiten und Widersprüchen, die insgesamt ein veraltetes und falsches Bild des Kaiserreichs ergeben. Hätte Hoffmann und Campe das englischsprachige Original einer sachkundigen Begutachtung unterzogen, dann wäre wohl keine Übersetzung zustande gekommen. Es wäre uns einiges erspart geblieben.
Anmerkung:
1 So Jens Gieseke, Rezension zu: Katja Hoyer, Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990, Hamburg 2023, in: H-Soz-Kult, 31.08.2023, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-135972 (25.06.2024); Hermann Wentker, Rezension zu: Katja Hoyer, Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990, Hamburg 2023, in: sehepunkte 23, 7/8 (2023), https://www.sehepunkte.de/2023/07/38095.html (25.06.2024).